Skip to main content

Full text of "Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium"

See other formats


RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE 

VORTRAGE 

vortrAge vor mitgliedern 
der anthroposophischen gesellschaft 



RUDOLF STEINER 

Aus der Akasha-Forschung 
Das Fiinfte Evangelium 

Achtzehn Vortrage, gehalten 1913 und 1914 
in verschiedenen Stadten 



1992 



RUDOLF STEINER VERLAG 
DORNACH/SCHWEIZ 



Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschriften 
herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung 

Die Herausgabe besorgten Ernst Weidmann und Hella Wiesberger 



1. Auflage in dieser Zusammenstellung 
Gesamtausgabe Dornach 1963 

2., neu durchgesehene und erganzte Auflage 
Gesamtausgabe Dornach 1975 

3. Auflage Gesamtausgabe Dornach 1980 

4. Auflage Gesamtausgabe Dornach 1985 

5. Auflage Gesamtausgabe Dornach 1992 

Einzelausgaben siehe Seite 334 



Bibliographie-Nr. 148 

Einbandgestaltung von Assja Turgenieff 

AUe Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz 
© 1975 by Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz 
Printed in Germany by Greiserdruck, Rastatt 

ISBN 3-7274-1480-4 



ZU DIESER AUSGABE 



Der Angelpunkt von Rudolf Steiners Anthroposophie liegt in seiner 
Erkenntnis von der zentralen Bedeutung des Christus-Ereignisses fiir die 
ganze Menschheits- und Erdenentwicklung. Zu derselben Zeit, als von 
seiten der Bibelwissenschaft und der Leben-Jesu-Forschung die Evan- 
gelien als historische Quelle und die geschichtliche Existenz des Jesus 
Christus immer starker in Frage gestellt wurden, begann er mit seiner 
geisteswissenschaftlichen Lehrtatigkeit und legte mit seiner Schrift «Das 
Christentum als mystische Tatsache» (1902) den Grund zu einer neuen 
Rechtfertigung des Wesens des Christentums. Er stellte klar, dafi die 
Evangelien uberhaupt nicht als geschichtliche Biographie Jesu Christi zu 
verstehen sind, sondern als Schilderungen dessen, was immer schon in 
den verschiedenen Mysterientraditionen als «typisches Leben des Got- 
tessohnes» vorgebildet war. In zahlreichen Vortragen der folgenden 
Jahre wurde dies vertieft weitergefuhrt. Nach und nach kam es auch zu 
Darstellungen von geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen 
iiber das eigentliche geschichtliche Leben des Jesus von Nazareth bis 
zum Zeitpunkt der Jordantaufe, bei welcher der Gottessohn Christus in 
den Menschen Jesus von Nazareth einzog. Diese Forschungsergebnisse 
bezeichnete Rudolf Steiner als «Fiinftes Evangelium», auch als «Evan- 
gelium der Erkenntnis», als aus geisteswissenschaftlicher Forschung 
gewonnene Erganzungen zu den vier traditionellen Evangelien im Sinne 
der Schlufiworte des Johannes -Evangeliums: «Es gibt aber noch viel 
anderes, was Jesus getan hat; und wenn eins nach dem anderen aufge- 
schrieben wiirde, glaube ich, sogar die Welt konnte die Biicher nicht 
fassen, die geschrieben wurden. » (J oh. 21, 25). 

Was von den Vortragen, die in den Jahren 1913/14 unter der Bezeich- 
nung «Funftes Evangelium» gehalten worden sind, an Nachschriften 
vorliegt, ist im vorliegenden Band gesammelt. Da die Vortrage vor 
verschiedenen Zuhorerkreisen an verschiedenen Orten gehalten worden 
sind, wiederholen sich die Inhalte zwar, doch bedeuten diese immer 
lebendig gestalteten Wiederholungen eine wesentliche Bereicherung. Die 
hauptsachlichsten Motive sind: Kindheits- und Jugenderlebnisse des 
Jesus von Nazareth - Seine tiefen Erkenntnisleiden am Versiegen der 
alten grofien Geistesstromungen - Erlebnisse auf seinen Arbeitswande- 



rungen - Die Offenbarung des makrokosmischen Vaterunser, des Vater- 
unser der Erkenntnis - Die Beziehung zu den Essaern und zu Johannes 
dem Taufer - Entscheidende Gesprache mit seiner Mutter bzw. Zieh- 
mutter iiber die Errettung der Menschheit - Erlebnisse auf dem Gang 
zur Jordantaufe, 

Von Inhaltsangaben ist der Wiederholungen wegen abgesehen wor- 
den. Uber das, was Rudolf Steiner sonst noch als zum Fiinften Evange- 
lium gehorige Forschungsergebnisse betrachtete, siehe am Schlufi des 
Bandes, Seite 333. 

Nach seinen eigenen Worten kam Rudolf Steiner mit der Mitteilung 
dieser Forschungen einer tief empfundenen Verpflichtung nach. Zum 
einen aus der Uberzeugung, dafi unserer Zeit notwendig ist eine Erneue- 
rung des Christus Jesus-Verstandnisses, ein erneuertes Hineinblicken in 
das, was eigentlich durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist; 
zum andern, weil er es als unendlich gesundend und kraftigend fur die 
Menschenseelen erachtete, sich zu erinnern an dieses Geschehen, mit 
dem Sinn und Ziel der Menschheits- und Erdengeschichte verbunden ist. 



INHALT 



Zu den Veroffentlichungen aus dem Vortragswerk Rudolf Steiners .... 8 

AUS DER AKASHA-FORSCHUNG 
DAS FUNFTE EVANGELIUM 

Kristiania (Oslo), Erster Vortrag, 1 . Oktober 1913 9 

Kristiania (Oslo), Zweiter Vortrag, 2. Oktober 1913 23 

Kristiania (Oslo), Dritter Vortrag, 3. Oktober 1913 40 

Kristiania (Oslo), Vierter Vortrag, 5. Oktober 1913 56 

Kristiania (Oslo), Fiinfter Vortrag, 6. Oktober 1913 73 

DAS FUNFTE EVANGELIUM 

Berlin, Erster Vortrag, 21. Oktober 1913 103 

Berlin, Zweiter Vortrag, 4 . November 1913 120 

Berlin, Dritter Vortrag, 18. November 1913 136 

Berlin, Vierter Vortrag, 6. Januar 1914 155 

Berlin, Fiinfter Vortrag, 13. Januar 1914 172 

Berlin, Sechster Vortrag, 10. Februar 1914 1 90 

Hamburg, 16. November 1913 207 

Stuttgart, Erster Vortrag, 22. November 1913 220 

Stuttgart, Zweiter Vortrag, 23 . November 1913 (Notizen) 23 8 

Miinchen, Erster Vortrag, 8. Dezember 1913 243 

Miinchen, Zweiter Vortrag, 10. Dezember 1913 264 

Koln, Erster Vortrag, 17. Dezember 1913 283 

Koln, Zweiter Vortrag, 18. Dezember 1913 305 

Faksimile: Das makrokosmische Vaterunser 326 

Notizbucheintragung (aus Notizbuch Archiv-Nr. 201) 327 

Hinweise 

Zu dieser Ausgabe 333 

Hinweise zum Text 334 

Namenregister 342 

Rudolf Steiner iiber die Vortragsnachschriften 345 

Ubersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe 347 



Zu den Veroffentltchungen 
a us dem Vortragstverk von Rudolf Steiner 



Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geisteswissen- 
schaft bilden die von Rudolf Steiner (1861-1925) geschriebenen und 
veroffentlichten Werke. Daneben hielt er in den Jahren 1900 bis 
1924 zahlreiche Vortrage und Kurse, sowohl offentlich wie auch fur 
die Mitglieder der Theosophischen, spater Anthroposophischen Ge- 
sellschaft. Er selbst wollte urspriinglich, daB seine durchwegs frei 
gehaltenen Vortrage nicht schriftlich festgehalten wiirden, da sie als 
«m\indliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» gedacht 
waren. Nachdem aber zunehmend unvollstandige und fehlerhafte 
Horernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah er sich 
veranlaBt, das Nachschreiben zu regeln. Mit dieser Aufgabe betraute 
er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Steno- 
graphierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die fur die 
Herausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner 
aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fallen die Nachschriften selbst 
korrigieren konnte, muB gegeniiber alien VortragsverofFentlichungen 
sein Vorbehalt beriicksichtigt werden: «Es wird eben nur hinge- 
nommen werden miissen, daB in den von mir nicht nachgesehenen 
Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.» 

tJber das Verhaltnis der Mitgliedervortrage, welche zunachst nur 
als interne Manuskriptdrucke zuganglich waren, zu seinen offent- 
lichen Schriften auBert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie 
«Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlaut ist 
am SchluB dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte gilt glei- 
chermaBen auch fur die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, welche 
sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geisteswissen- 
schaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten. 

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemaB 
ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamt- 
ausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil 
dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nahere An- 
gaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise. 



AUS DER AKASHA-FORSCHUNG ■ DAS FONFTE EVANGELIUM 

Kristiania (Oslo), 1. Oktober 1913 
Erster Vortrag 

Das Thema, iiber das ich in diesen Tagen zu sprechen gedenke, er- 
scheint mir in bezug auf die heutige Zeit und auf die heutigen Ver- 
haltnisse als ein ganz besonders wichtiges. Ich mochte von vornherein 
betonen, daB es nicht etwa irgendeiner Sensationslust oder ahnlichen 
Dingen entspringt, daB das Thema gerade den Inhalt hat: Das Funfte 
Evangelium. Denn ich hoffe zeigen zu konnen, da6 in der Tat von 
einem solchen Funften Evangelium in einem gewissen Sinne, und 
zwar in einem solchen Sinne, der uns besonders wichtig sein muB in 
unserer Gegenwart, gesprochen werden kann, und daB sich fur das- 
jenige, was damit gemeint ist, in der Tat kein anderer Name besser 
eignet als der Name «Das Funfte Evangelium ». Dieses Fiinfte Evange- 
lium ist ja, wie Sie horen werden, in einer Niederschrift heute noch 
nicht vorhanden. Aber es wird gewiB in Zukunftstagen der Mensch- 
heit auch in ganz bestimmter Niederschrift vorhanden sein. In einem 
gewissen Sinne aber konnte man sagen, es ist dieses Funfte Evange- 
lium so alt wie die vier anderen Evangelien. 

Damit ich aber von diesem Funften Evangelium sprechen kann, ist 
es notwendig, daB wir uns heute in einer Art Einleitung verstandigen 
iiber einige wichtige Punkte, die zum volligen Begreifen dessen, was 
wir nunmehr nennen wollen das Funfte Evangelium, notwendig sind. 
Und zwar mochte ich ausgehen davon, daB ganz gewiB die Zeit nicht 
mehr fernliegen wird, in welcher schon in den niedrigsten Schulen, 
schon im primitivsten Unterricht die Wissenschaft, die man gewohn- 
lich die Geschichte nennt, sich etwas anders anhoren wird, als sie sich 
bisher angehort hat. Es wird namlich ganz gewiB - und die nachsten 
Tage sollen es uns gewissermaBen beweisen -, es wird ganz gewiB der 
Christus-Begriff, die Christus-Vorstellung, in der Geschichtsbetrach- 
tung der Zukunft eine ganz andere, wichtigere Rolle spielen, auch 
schon in der elementarsten Geschichtsbetrachtung, als sie bisher ge- 
spielt hat. Ich weiB, daB ich mit diesem Satze eigentlich etwas unge- 



heuer Paradoxes ausspreche. Bedenken wir doch, daB wir ja zuriick- 
gehen konnen auf gar nicht so weit zuriickliegende Zeiten, in denen 
unzahlige Herzen in einer viel intensiveren Weise ihre Gefuhle und 
Empfindungen zu dem Christus hinrichteten unter den einfachsten wie 
unter den gebildetsten Bewohnern der westlichen Lander Europas, 
mehr als dies heute der Fall ist. In einem ungeheuer erheblicheren 
MaBe war das in fruherer Zeit der Fall. Wer Umschau halt im Schrift- 
tum der Gegenwart, wer nachdenkt uber das, was den gegenwartigen 
Menschen hauptsachlich interessiert, woran er sein Herz hangt, der 
wird den Eindruck haben, daB der Enthusiasmus, die Ergriffenheit 
der Empfindung fur die Christus-Vorstellung im Abnehmen ist, ins- 
besondere im Abnehmen da, wo man auf eine gewisse, aus der Zeit 
heraus folgende Bildung Anspruch macht. Da erscheint es wohl para- 
dox, wenn, wie ich eben betont habe, diese unsere Zeit darauf hin- 
arbeitet, daB die Christus-Vorstellung in der Betrachtung der Ge- 
schichte der Menschheit in einer nicht fernen Zukunft eine viel be- 
deutendere Rolle spielt, als es bisher der Fall war. Scheint das nicht 
ein vollkommener Widerspruch zu sein? 

Nun wollen wir uns einmal von einer anderen Seite diesem Gedan- 
ken nahern. Ich habe auch hier in dieser Stadt schon ofter uber die 
Bedeutung und den Inhalt der Christus-Vorstellung sprechen diirfen. 
Und in Biichern und Zyklen, die hier aufliegen, finden Sie mannig- 
fache Ausfiihrungen aus den Tiefen der Geisteswissenschaft heraus 
uber die Geheimnisse der Christus- Wesenheit und der Christus-Vor- 
stellung. Jeder muB da die Meinung bekommen, wenn er das, was in 
Vortragen, Zyklen und in unserem Schrifttum iiberhaupt gesagt wor- 
den ist, in sich aufnimmt, daB zu dem volligen Verstehen der Christus- 
Wesenheit ein starkes, groBes Riistzeug gehort, daB man die tiefsten 
Begriffe, Vorstellungen und Ideen zu Rate ziehen muB, wenn man 
sich hinaufschwingen will zum volligen Verstandnis dessen, was der 
Christus ist und was der Impuls ist, der als Christus-Impuls durch die 
Jahrhunderte gegangen ist. Man konnte vielleicht sogar, wenn nicht 
anderes dagegen sprache, zu der Vorstellung kommen, daB man erst 
die ganze Theosophie oder Anthroposophie kennen muB, um sich 
aufzuschwingen zu einer richtigen Vorstellung von dem Christus. 



Wenn wir aber absehen von dem und auf die Geistesentwickelung 
der verflossenen Jahrhunderte blicken, da tritt uns entgegen von Jahr- 
hundert zu Jahrhundert dasjenige, was vorhanden ist an ausfuhrlicher, 
tiefgriindiger Wissenschaft, die bestimmt sein sollte, den Christus und 
seine Erscheinung zu begreifen. Durch Jahrhunderte hindurch haben 
die Menschen ihre hochsten und bedeutsamsten Ideen aufgewendet, 
um den Christus zu begreifen. Auch hier konnte es daraus nun schei- 
nen, als ob nur die bedeutsamsten intellektuellen Tatigkeiten des Men- 
schen hinreichend sein wiirden, um den Christus zu verstehen. Ist das 
in der Tat so? DaB es nicht so ist, davon kann uns eine ganz einfache 
Erwagung den Beweis liefern. 

Legen wir einmal gleichsam auf eine geistige Waage alles dasjenige, 
was bisher an Gelehrsamkeit, Wissenschaft, auch an anthroposophi- 
schem Verstandnis des Christus-BegrifFes dazu beigetragen hat, den 
Christus zu begreifen. Legen wir das alles auf die eine Waagschale 
einer geistigen Waage und legen wir auf die andere Schale in unseren 
Gedanken alle die tiefen Gefuhle, alle die Innigkeit in den Seelen der 
Menschen, die durch die Jahrhunderte zu dem sich gelenkt haben, was 
man den Christus nennt, und man wird finden, daB all die Wissen- 
schaft, alle Gelehrsamkeit, selbst alle Anthroposophie, die wir auf- 
bringen konnen zur Erklarung des Christus, in der Waagschale iiber- 
raschend aufschnellt, und alle die tiefen Gefiihle und Empfindungen, 
welche die Menschen hingelenkt haben zur Christus- Wesenheit, zur 
Erscheinung des Christus, die andere Waagschale tief, tief hinunter- 
driicken. Man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, daB eine unge- 
heure Wirkung von dem Christus ausgegangen ist, und daB das Aller- 
geringste zu dieser Wirkung das Wissen von dem Christus beigetragen 
hat. Es hatte um das Christentum wahrhaftig recht schlecht gestan- 
den, wenn die Menschen, um an dem Christus zu hangen, alle gelehr- 
ten Auseinandersetzungen des Mittelalters, der Scholastik und der 
Kirchenvater gebraucht hatten, oder wenn die Menschen nur bediirf- 
tig gewesen waren auch alles dessen, was wir heute durch die Anthro- 
posophie aufbringen konnen zum Begreifen der Chris tus-Idee. Was 
man damit vermochte, ware wahrhaftig recht wenig. Ich glaube nicht, 
daB irgend jemand, der unbefangen den Gang des Christentums durch 



die Jahrhunderte hindurch betrachtet, gegen diese Gedanken etwas 
Ernstes einwenden konnte. Aber wir konnen uns diesem Gedanken 
noch von einer anderen Seite genauer nahern. 

Lassen wir den Blick zuriickschweifen auf die Zeiten, in denen es 
noch kein Christentum gegeben hat. Ich brauche nur zu erinnern an 
dasjenige, was gewiB den meisten der hier befindlichen Seelen voll 
gegenwartig ist. Ich brauche nur zu erinnern, wie im alten Griechen- 
land die griechische Tragbdie, insbesondere in ihren alteren Formen, 
wenn sie den kampfenden Gott oder den Menschen, in dessen Seele 
der kampfende Gott wirkte, darstellte, gleichsam wie von der Buhne 
herunter das gottliche Walten und Weben unmittelbar anschaulich 
machte. Ich brauche nur hinzuweisen, wie Homer seine bedeutsame 
Dichtung ganz durchwoben hat mit dem Wirken des Geistigen, ich 
brauche nur hinzuweisen auf die groBen Gestalten des Sokrates, des 
Plato, des Aristoteles. Mit diesen Namen tritt vor unsere Seelen ein 
geistiges Leben hbchster Art auf einem gewissen Gebiete. Wenn wir 
von allem iibrigen absehen und nur zu der einen Gestalt des Aristoteles 
hinsehen, der Jahrhunderte vor der Begriindung des Christentums 
gewirkt hat, so tritt uns entgegen, was in gewisser Weise keine Stei- 
gerung, keine Fortbildung bis in unsere Zeit erfahren hat. Das Den- 
ken, die Ausbildung der menschlichen Logik durch Aristoteles ist et- 
was so ungeheuer Vollkommenes auch heute noch, daB man sagen 
kann, es war etwas Hochstes erreicht im menschlichen Denken, so daB 
eine Steigerung bisher nicht geschehen ist. 

Und nun wollen wir fur einen Augenblick eine merkwiirdige Hypo- 
these aufstellen, die notwendig ist fur die nachsten Tage. Wir wollen 
uns einmal vorstellen, daB es gar keine Evangelien gabe, aus denen 
wir irgend etwas erfahren konnten iiber die Gestalt Christi. Wir wollen 
einmal annehmen, daB die ersten Urkunden, die der Mensch heute als 
Neues Testament in die Hand nimmt, gar nicht vorhanden waren, 
wollen uns denken, es gabe gar keine Evangelien. Wir wollen gewis- 
sermaBen absehen von dem, was iiber die Griindung des Christentums 
gesagt ist, wollen nur den Gang des Christentums als eine geschicht- 
liche Tatsache betrachten, wollen sehen, was geschehen ist unter den 
Menschen durch die nachchristlichen Jahrhunderte hindurch; also 



ohne die Evangelien, Apostelgeschichte, Paulusbriefe und so weiter 
wollen wir nur betrachten, was tatsachlich geschehen ist. Das ist natiir- 
lich nur eine Hypothese, aber sie wird uns helfen zu dem, was wir 
erreichen wollen. Was ist nun geschehen in den Zeiten, die verflossen 
sind vor und seit der Begriindung des Christentums ? 

Wenn wir zunachst den Blick auf den Siiden Europas werfen, so 
haben wir in einem gewissen Zeitpunkte hochste menschliche Geistes- 
bildung, wie wir sie eben in ihrem Reprasentanten Aristoteles vor die 
Seele gerufen haben, hochentwickeltes geistiges Leben, das in den 
nachfolgenden Jahrhunderten noch eine besondere Ausbildung erfah- 
ren hatte. Ja, es gab in der Zeit, in der das Christentum seinen Weg 
durch die Welt zu machen begann, im Siiden Europas zahlreiche 
griechisch gebildete Menschen, Menschen, die das griechische Geistes- 
leben aufgenommen hatten. Wenn man bis zu jenem merkwurdigen 
Manne, der ein so heftiger Gegner des Christentums war, Celsus, und 
spater noch die Entwickelung des Christentums verfolgt, so findet 
man im Siiden Europas auf der griechischen und italienischen Halb- 
insel bis ins 2., 3. nachchristliche Jahrhundert Menschen mit hochster 
Geistesbildung, zahlreiche Menschen, die sich angeeignet haben die 
hohen Ideen, die wir bei Plato finden, deren Scharfsinn wirklich sich 
ausnimmt wie eine Fortsetzung des Scharfsinnes des Aristoteles, feine 
und starke Geister mit griechischer Bildung, Romer mit griechischer 
Bildung, die zu einer Feingeistigkeit des Griechentums das Aggres- 
sive, Personliche des Romertums hinzufugten. 

In diese Welt hinein stoBt der christliche Impuls. Dazumal lebte der 
christliche Impuls so, daB wir sagen konnen, die Vertreter dieses 
christlichen Impulses nehmen sich wahrhaftig wie ungebildete Leute 
aus in bezug auf die Intellektualitat, in bezug auf Wissen von der 
Welt, gegeniiber demjenigen, was zahlreiche gebildete romisch-grie- 
chische Menschen in sich trugen. Mitten in eine Welt reifster Intellek- 
tualitat schieben sich Menschen ohne Bildung hinein. Und nun erleben 
wir ein merkwiirdiges Schauspiel: Es breiten diese einfachen, primi- 
tiven Naturen, welche die Trager des ersten Christentums sind, dieses 
Christentum mit einer verhaltnismaBig groBen Schnelligkeit im Siiden 
Europas aus. Und wenn wir heute mit dem, was wir, sagen wir durch 



die Anthroposophie, iiber das Wesen des Christentums verstehen kon- 
nen, herantreten an diese einfachen, primitiven Naturen, die dazumal 
das Christentum ausbreiteten, so diirfen wir uns sagen : Diese primi- 
tiven Naturen verstanden von dem Wesen des Christus - wir brauchen 
gar nicht einmal zu denken an den groBen kosmischen Christus- 
Gedanken, der heute durch die Anthroposophie aufgehen soil, wir 
konnen an viel einfachere Christus-Gedanken denken -, die damaligen 
Trager des christiichen Impulses, die sich hineinschieben in die grie- 
chische hochentwickelte Bildung, verstanden von alldem nichts. Sie 
hatten nichts auf den Markt des griechisch-romischen Lebens zu tra- 
gen als ihre personliche Innerlichkeit, die sie sich als ihr personliches 
Verhaltnis 2u dem geliebten Christus herausgebildet hatten; denn sie 
liebten wie ein GUed einer geliebten Familie eben dieses Verhaltnis. 
Diejenigen, die hereintrugen in das damalige Griechen- und Romer- 
tum das Christentum, das sich bis in unsere Zeit fortgebildet hat, das 
waren nicht gebildete Theologen oder Theosophen, das waren nicht 
Gebildete. Die gebildeten Theosophen der damaligen Zeit, die Gno- 
stiker, haben zwar zu hohen Ideen iiber den Christus sich erhoben, 
aber sie haben auch nur geben konnen, was wir auf die emporschnel- 
lende Waagschale legen miissen. Ware es auf die Gnostiker angekom- 
men, das Christentum hatte gewiB nicht seinen Siegeszug durch die 
Welt genommen. Es war keine besonders ausgebildete Intellektualitat, 
die sich vom Osten hereinschob und in verhaltnismaBiger Schnellig- 
keit das alte Griechentum und Romertum zum Sinken brachte. Das ist 
die Sache von der einen Seite betrachtet. 

Von der anderen Seite betrachtet, sehen wir uns die intellektuell 
hochstehenden Menschen an, von Celsus, dem Feinde des Christen- 
tums, der damals schon alles das aufgebracht hat, was man heute noch 
dagegen sagen kann, bis zu dem Philosophen auf dem Throne, Mark 
Aurel. Sehen wir uns die feingebildeten Neuplatoniker an, die damals 
Ideen aufbrachten, gegen die heute die Philosophic ein Kinderspiel 
ist, und die unsere heutigen Ideen weit iibertrafen an Hohe, an Weite 
des Gesichtskreises. Und sehen wir alles, was diese Geister gegen das 
Christentum vorzubringen hatten, und durchdringen wir uns mit dem, 
was diese intellektuell Hochstehenden im griechischen und romischen 



Geist gegen das Christentum vorzubringen hatten von dem Stand- 
punkte der griechischen Philosophic aus, so bekommen wir den Ein- 
druck : die alle haben den Christus-Impuls nicht verstanden. Wir sehen, 
das Christentum breitet sich aus durch Trager , die von dem Wesen des 
Christentums nichts verstehen; es wird bekampft von einer hohen 
Kultur, die nichts begreifen kann von dem, was der Christus-Impuls 
bedeutet. Merkwurdig tritt das Christentum in die Welt, so, daB An- 
hanger und Gegner von seinem eigentlichen Geiste nichts verstehen. 
Und doch: die Kraft haben Menschen in der Seele getragen, diesen 
Christus-Impuls zum Siegeszuge durch die Welt zu bringen. 

Und sehen wir uns diejenigen an, die selbst mit einer gewissen 
GrdBe fur das Christentum eintreten, wie der beruhmte Kirchenvater 
Tertullian, Wir sehen in ihm einen Romer, der in der Tat, wenn wir 
seine Sprache ins Auge fassen, fast ein Neuschopfer der romischen 
Sprache ist, der mit einer Treffsicherheit neue Worte pragte, die uns 
eine bedeutende Personlichkeit erkennen lassen. Wenn wir uns aber 
fragen: Wie steht es mit der Christus-Idee des Tertullian? - da wird 
die Sache anders. Da finden wir, daB er eigentlich recht wenig Intel- 
lektualitat, geistige Hohe zeigt. Auch die Verteidiger des Christen- 
tums bringen nicht viel zustande. Und dennoch, sie sind wirksam, als 
Personlichkeiten wirksam, solche Geister wie Tertullian, auf dessen 
Griinde gebildete Griechen wirklich nicht viel geben konnten. Trotz- 
dem wirkt er hinreiBend; aber durch was? Das ist es, worauf es an- 
kommt! Fiihlen wir, daB hier sich wirklich eine Frage vor die Seele 
stellt! Durch was wirken die Trager des Christus-Impulses denn, die 
selbst von dem, was der Christus-Impuls eigentlich ist, nicht viel ver- 
stehen? Durch was wirken die christlichen Kirchenvater, selbst bis auf 
Ong£«&r, denen man die Ungeschicklichkeit in bezug auf das Verstand- 
nis des Christus-Impulses ansieht? Was ist es, was selbst die bis zu 
einer solchen Hohe gestiegene griechisch-romische Bildung nicht ver- 
stehen konnte an dem Wesen des Christus-Impulses? Was ist das alles? 

Aber gehen wir weiter. Dieselbe Erscheinung tritt uns bald in einer 
noch scharferen Weise entgegen, wenn wir das geschichtliche Leben 
betrachten. Wir sehen, wie die Jahrhunderte kommen, in denen das 
Christentum sich ausbreitet innerhalb der europaischen Welt unter 



Volkern, die wie die germanischen von ganz anderen Religionsvor- 
stellungen herkommen, welche als Volker eins sind oder wenigstens 
eins zu sein scheinen mit ihren religiosen Vorstellungen, und die 
dennoch mit voller Kraft diesen Christas-Impuls aufnahmen, wie wenn 
er ihr eigentliches Leben ware. Und wenn wir uns die wirksamsten 
Glaubensboten in den germanischen Volkern betrachten, waren das 
scholastisch-theologisch gebildete Leute? Ganz und gar nicht! Es 
waren diejenigen, die mit verhaltnismaBig primitiver Seele unter den 
Leuten einherzogen und in primitiver Weise, mit den allernachsten, 
alltaglichsten Vorstellungen zu den Leuten sprachen, aber unmittelbar 
ihre Herzen ergriffen. Sie verstanden die Worte so zu setzen, da6 sie 
die tiefsten Saiten derjenigen beriihren konnten, zu denen sie spra- 
chen. Einfache Leute zogen hinaus in alle Gegenden, und gerade die 
wirkten am bedeutsamsten. 

So sehen wir die Verbreitung des Christentums durch die Jahr- 
hunderte hindurch. Dann aber bewundern wir, wie eben dasselbe 
Christentum zum AnlaJB wird bedeutsamer Gelehrsamkeit, Wissen- 
schaft und Philosophic Wir unterschatzen nicht diese Philosophic, 
aber heute wollen wir einmal den BHck hinwenden auf jene eigen- 
tumliche Erscheinung, daB das Christentum bis in das Mittelalter 
unter Volkern sich ausbreitet, die bis dahin ganz andere Vorstellungs- 
formen in ihrem Gemtite getragen haben, so daB es bald zu ihrer Seele 
gehorte. Und in nicht allzu ferner Zukunft wird man noch manches 
andere betonen, wenn man von der Ausbreitung des Christentums 
spricht. Wenn man von der Wirkung des christlichen Impulses spricht, 
kann man leicht verstanden werden dann, wenn man davon spricht, 
daft in einer bestimmten Zeit gleichsam die Friichte der Ausbreitung 
des Christentums sich so gezeigt haben, daB man sagen kann : es ging 
Begeisterung aus dieser Verbreitung des Christus-Impulses hervor. 
Aber wenn wir in die neueren Zeiten herauf kommen, da scheint ab- 
gedampft zu werden, was wir durch das Mittelalter hindurch als sich 
ausbreitendes Christentum betrachten konnen. 

Betrachten wir die Zeit des Kopernikus, die Zeit der aufkeimen- 
den Naturwissenschaft bis in das 19. Jahrhundert hinein. Es konnte 
so scheinen, als ob diese Naturwissenschaft, dasjenige was seit Koper- 



nikus in das abendlandische Geistesleben sich hineingearbeitet hat, 
dem Christentum entgegengearbeitet hatte. AuBere Tatsachen konn- 
ten das erharten. Die katholische Kirche zum Beispiel hatte Koperni- 
kus bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein auf dem 
sogenannten Index stehen. Sie hat Kopernikus als ihren Feind ange- 
sehen. Aber das sind auBere Dinge. Das hinderte doch nicht, daB 
Kopernikus ein Domherr war. Und wenn die katholische Kirche 
Giordano Bruno audi verbrannt hat, so hinderte das nicht, daB er ein 
Dominikaner war. Sie beide sind eben aus dem Christentum heraus 
zu ihren Ideen gekommen. Sie haben aus dem christlichen Impulse 
heraus gehandelt. Derjenige versteht die Sache schlecht, der sich auf 
dem Boden der Kirche halten und glauben wollte, daB das nicht 
Friichte des Christentums gewesen waren. Es wird durch die ange- 
fuhrten Tatsachen nur bewiesen, daB die Kirche die Friichte des 
Christentums sehr schlecht verstanden hat; sie brauchte bis ins 
19. Jahrhundert hinein Zeit, um einzusehen, daB man die Ideen des 
Kopernikus nicht durch den Index unterdriicken kann. Derjenige, 
der die Dinge tiefer sieht, wird doch anerkennen miissen, daB alles, 
was die Volker getan haben auch in den neueren Jahrhunderten, ein 
Resultat, ein Ergebnis des Christentums ist, daB sich durch das Chri- 
stentum der Blick der Menschen hinausgewendet hat von der Erde 
in die Himmelsweiten, wie es durch Kopernikus und Giordano Bruno 
geschehen ist. Das war nur innerhalb der christlichen Kultur und 
durch den christlichen Impuls moglich. 

Und fur denjenigen, der das geistige Leben nicht an der Oberflache, 
sondern in den Tiefen betrachtet, fur den ergibt sich etwas, das, wenn 
ich es jetzt ausspreche, recht paradox erscheinen wird, aber dennoch 
richtig ist. Fur eine solche tiefere Betrachtung erscheint es namlich 
unmoglich, daB ein Haeckel entstanden ware so, wie er dasteht in aller 
seiner Christus-Gegnerschaft, ohne daB er entstanden ware aus dem 
Christentum heraus. Ernst Haeckel ist ohne die Voraussetzung der 
christlichen Kultur gar nicht moglich. Und die ganze neuere natur- 
wissenschaftliche Entwickelung, wenn sie sich auch noch so sehr 
bemiiht, Gegnerschaft des Christentums zu entwickeln, alle diese 
neuere Naturwissenschaft ist ein Kind des Christentums, eine direkte 



Fortsetzung des christiichen Impulses. Die Menschheit wird, wenn 
erst die Kinderkrankheiten der neueren Naturwissenschaft ganz ab- 
gestreift sind, schon einsehen, was das bedeutet, daB der Ausgangs- 
punkt der neueren Naturwissenschaft, konsequent verfolgt, wirklich 
in die Geisteswissenschaft hineinfiihrt, da8 es einen ganz konsequen- 
ten Weg gibt von Haeckel in die Geisteswissenschaft hinein. Wenn 
man das begreifen wird, wird man auch einsehen, daB Haeckel ein 
durch und durch christlicher Kopf ist, wenn er auch selber nichts 
davon weiB. Die christiichen Impulse haben nicht nur hervorgebracht, 
was sich christlich nennt und nannte, sondern auch dasjenige, was wie 
eine Gegnerschaft gegen das Christentum sich geriert. Man muB die 
. Dinge nicht nur auf ihre BegrifFe hin untersuchen, sondern auf ihre 
Realitat hin, dann kommt man schon zu dieser Erkenntnis. Aus der 
darwinistischen Entwickelungslehre fiihrt, wie Sie in dem kleinen 
Schriftchen von mir iiber «Reinkarnation und Karma » sehen konnen, 
ein gerader Weg zu der Lehre der wiederholten Erdenleben. 

Um aber auf dem richtigen Boden zu stehen in bezug auf diese 
Dinge, muB man in einer gewissen Weise das Walten der christiichen 
Impulse unbefangen beobachten konnen. Derjenige, der den Darwi- 
nismus, den Haeckelismus versteht, und der selber ein wenig durch- 
drungen ist von dem, wovon Haeckel noch gar nichts weiB - Darwin 
aber wuBte noch manches -, daB diese beiden Bewegungen nur als 
christliche Bewegungen moglich waren, wer das versteht, kommt 
ganz konsequent zu der Reinkarnationsidee. Und wer zu Hilfe ziehen 
kann eine gewisse hellseherische Kraft, der kommt auf diesem Wege 
ganz konsequent zu dem geistigen Ursprung des Menschengeschlechts. 
Es ist zwar ein Umweg, aber, wenn Hellsichtigkeit hinzukommt, ein 
richtiger Weg von dem Haeckelismus zu der geistigen Auffassung 
des Erdenursprungs. Aber auch der Fall ist denkbar, daB man den 
Darwinismus nimmt, wie er heute sich darbietet, ohne aber durch- 
drungen zu sein von den Lebensprinzipien des Darwinismus selbst; 
mit anderen Worten: wenn man den Darwinismus aufnimmt als einen 
Impuls und nichts in sich fiihlt von einem tieferen Verstandnis des 
Christentums, das doch im Darwinismus liegt, dann kommt man zu 
etwas sehr Eigentumlichem. Dazu kann man kommen, daB man durch 



solche geistige BeschafTenheit der Seele gleich wenig vom Christen- 
tum und vom Darwinismus versteht. Man kann dann von dem guten 
Geiste des Christentums ebenso verlassen sein wie von dem guten 
Geiste des Darwinismus. Hat man aber den guten Geist des Darwi- 
nismus, dann mag man noch so materialistisch sein, dann kommt man 
immer weiter zuriick in der Erdengeschichte bis auf den Punkt, wo 
man erkennt, daB der Mensch niemals aus niederen Tierformen sich 
herausentwickelt hat, daB er einen geistigen Ursprung haben muB. 
Man kommt zuriick auf den Punkt, wo man den Menschen als geisti- 
ges Wesen gleichsam schwebend iiber der Erdenwelt schaut. Der kon- 
sequente Darwinismus wird dazu fiihren. 1st man aber von seinem 
guten Geiste verlassen, dann kann man glauben, wenn man zurtick- 
geht und ein Anhanger der Reinkarnationsidee ist, man habe einmal 
selber als Affe gelebt auf irgendeiner Inkarnation der Erde selbst. 
Wenn man das glauben kann, dann muB man sowohl von dem guten 
Geiste des Darwinismus als auch des Christentums verlassen sein, 
dann muB man von beiden nichts verstehen. Denn niemals konnte 
einem konsequenten Darwinismus passieren, das zu glauben. Das 
heiBt, man muB in ganz auBerlicher Weise die Reinkarnationsidee 
iibertragen auf diese materialistische Kultur. Denn man kann den 
modernen Darwinismus gewiB seiner Christlichkeit entkleiden. Tut 
man das nicht, so wird man finden, daB bis in unsere Zeit hinein die 
darwinistischen Impulse aus dem Christus-Impuls geboren worden 
sind, daB die christlichen Impulse auch da wirken, wo man siever- 
leugnet. So haben wir nicht nur die Erscheinung, daB das Christen- 
tum sich in den ersten Jahrhunderten abgesehen von der Gelehrsam- 
keit und dem Wissen der Anhanger und Bekenner ausbreitet, daB es 
sich ausbreitet im Mittelalter so, daB hochst wenig dazu beitragen 
konnen die gelehrten Kirchenvater und die Scholastiker, sondern wir 
haben in unserer Zeit die noch paradoxere Erscheinung, daB das 
Christentum wie in seinem Gegenbilde im Materialismus unserer heu- 
tigen Naturwissenschaft erscheint, und alle GroBe, alle ihre Tatkraft 
doch aus den christlichen Impulsen hat. Die christlichen Impulse, die 
in ihr liegen, werden diese Wissenschaft von selbst iiber den Materia- 
lismus hinausfiihren. 



Sonderbar ist es mit den christlichen Impulsen! Intellektualitat, 
Wis sen, Gelehrsamkeit, Erkenntnis scheinen gar nicht dabei zu sein 
bei der Ausbreitung dieser Impulse. Ganz etwas anderes scheint ihre 
Ausbreitung in der Welt zu bedingen. Man mochte sagen, das Chri- 
stentum breitet sich aus, was auch die Menschen fur oder dagegen 
denken, ja sogar so, daB es wie in ein Gegenteil verkehrt im moder- 
nen Materialismus erscheint. Was breitet sich denn da aus ? Die christ- 
lichen Ideen sind es nicht, die christliche Wissenschaft ist es nicht. 
Man konnte noch sagen, das moralische Gefiihl breitet sich aus, das 
durch das Christentum eingepflanzt worden ist. Aber man sehe nur an 
das Walten der Moral in diesen Zeiten, und man wird mancherlei 
berechtigt finden von dem, was aufgezahlt werden kann an Wut der 
Vertreter des Christentums gegen wirkliche oder vermeintliche Geg- 
ner des Christentums. Auch die Moral, die walten konnte in den See- 
len, die intellektuell nicht hoch gebildet sind, wird uns nicht sehr impo- 
nieren konnen, wenn wir sie ins Auge fassen auch da, wo sie wirklich 
am christlichsten denkt. Was breitet sich denn da aus? Was ist dieses 
Sonderbare? Was ist es, was im Siegeszuge durch die Welt geht? 
Fragen wir dariiber nun die Geisteswissenschaft, das hellsichtige Be- 
wuBtsein! Was waltete in den ungebildeten Menschen, die sich von 
Osten nach Westen hineinschieben in das hochgebildete Griechen- 
und Romertum? Was waltet in den Menschen, die in die germanische, 
in die fremde Welt das Christentum hineingetragen haben? Was wal- 
tet in der modernen materialistischen Naturwissenschaft, wo die Lehre 
ihr Angesicht gleichsam noch verhullt? Was waltet in all diesen See- 
len, wenn es nicht intellektuelle, nicht einmal moralische Impulse sind? 
Was ist es denn? - Es ist der Christus selbst, der von Herz zu Herz, 
von Seele zu Seele zieht, der durch die Welt Ziehen und wirken kann, 
gleichgiiltig, ob die Seelen ihn verstehen oder nicht durch diese Ent- 
wickelung im Laufe der Jahrhunderte ! 

Wir sind gezwungen, von unseren Begriffen, von aller Wissenschaft 
abzusehen und auf die Realitat hinzuweisen, zu zeigen, wie geheim- 
nisvoll der Christus selber wandelt in vielen tausenden Impulsen, 
Gestalt annehmend in den Seelen, in viele Tausende und aber Tau- 
sende untertauchend und die Menschen erfiillend durch die Jahr- 



hunderte. In den einfachen Menschen ist es der Christus selbst, der 
fiber die griechische und italische Welt schreitet, der nach Westen und 
nach Norden hin immer mehr Menschenseelen ergreift. Bei den spa- 
teren Lehrern, die den germanischen Volkern das Christentum brin- 
gen, ist es der Christus selbst, der ihnen zur Seite wandelt. Er ist es, 
der wirkliche, wahrhaftige Christus, der auf der Erde waltet wie die 
Seele der Erde selber, der von Ort zu Ort, von Seele zu Seele zieht und, 
ganz gleichgultig was die Seelen iiber den Christus denken, in diese 
Seelen einzieht. Einen trivialen Vergleich mochte ich gebrauchen : Wie 
viele Menschen gibt es, die gar nichts verstehen von der Zusammen- 
setzung der Nahrungsmittel und die sich doch nahren nach alien Re- 
geln der Kunst. Es ware doch eigentlich zum Verhungern, wenn man 
die Nahrungsmittel kennen miiBte, bevor man sich nahren konnte. 
Das Sich-nahren-Konnen hat nichts zu tun mit dem Verstandnis der 
Nahrungsmittel. So hatte die Ausbreitung des Christentums iiber die 
Erde hin nichts zu tun mit dem Verstandnis, das man dem Christen- 
tum entgegenbrachte. Das ist das Eigentumliche. Da waltet ein Ge- 
heimnis, das nur dadurch aufgeklart werden kann, daB man die Ant- 
wort gibt auf die Frage : Wie waltet der Christus selber in den mensch- 
Uchen Gemiitern? Und wenn nun die Geisteswissenschaft, die hell- 
seherische Betrachtung, sich diese Frage stellt, dann wird sie zunachst 
auf ein Ereignis gelenkt, das im Grunde nur durch die hellseherische 
Betrachtung wirklich enthiillt werden kann, das auBerlich in der Tat 
in vollem Einklange steht mit allem, was ich heute gesprochen habe. 
Eines werden wir sehen, was in der Zukunft immer mehr wird ver- 
standen werden miissen: Die Zeit ist voriiber, in welcher der Christus 
so gewirkt hat, wie ich eben charakterisiert habe, und die Zeit ist 
gekommen, wo die Menschen den Christus werden verstehen miissen, 
erkennen miissen. 

Deshalb ist es notwendig, auch die Frage sich zu beantworten, 
warum unserer Zeit die andere vorausgegangen ist, in der sich der 
Christus-Impuls ausbreiten konnte, ohne daB das Verstandnis dazu 
notwendig war, ohne daB die Menschen mit ihrem BewuBtsein dabei 
waren. Ein Ereignis war es, wodurch dieses moglich war! Und das 
Ereignis, zu dem das hellseherische BewuBtsein weist, ist das so- 



genannte Pfingstereignis, die Aussendung des Heiligen Geistes. Daher 
war es, daB zuerst der hellseherische Blick, der angeregt worden ist 
durch den wirklichen Christus-Impuls im anthroposophischen Sinne, 
hingelenkt wurde auf dieses Pfingstereignis, die Aussendung des 
Heiligen Geistes. Hellseherisch betrachtet ist es das Pfingstereignis, 
was sich zuerst der Untersuchung darbietet, die von einem gewissen 
Gesichtspunkte aus gefiihrt wird. 

Was geschah in jenem Augenblick der Weltentwickelung auf der 
Erde, der uns ziemlich unverstandlich zunachst als das Herabkom- 
men des Heiligen Geistes auf die Apostel dargestellt wird? Wenn man 
den hellseherischen Blick darauf hinwendet, untersucht, was da eigent- 
lich geschehen ist, dann bekommt man eine geisteswissenschaftliche 
Antwort darauf, was gemeint ist damit, daB gesagt wird: Einfache 
Leute, wie ja auch die Apostel waren, fingen plotzlich an, in verschie- 
denen Zungen zu sprechen, was sie aus den Tiefen des geistigen 
Lebens heraus zu sagen hatten, und was man ihnen nicht zumutete. 
Ja, dazumal fingen das Christentum, die christlichen Impulse an, sich 
so auszubreiten, daB sie unabhangig wurden von dem Verstandnis 
der Menschen, in deren Gemutern sie sich ausbreiteten. 

Von dem Pfingstereignis aus ergieBt sich dann der Strom der 
Christus-Kraft iiber die Erde hin, der charakterisiert worden ist. Was 
ist denn das Pfingstereignis gewesen? Diese Frage trat an die Geistes- 
wissenschaft heran, und mit der Antwort auf diese Frage, mit der 
geisteswissenschaftlichen Antwort auf die Frage: Was war das Pfingst- 
ereignis? - beginnt das Fiinfte Evangelium, und damit wollen wir 
morgen unsere Betrachtungen fortsetzen. 



Kristiania (Oslo), 2. Oktober 1913 
Zrveiter Vortrag 



Von dem sogenannten Pfingstereignis ist bei dieser Betrachtung zu 
beginnen. Im ersten Vortrag habe ich bereits angedeutet, daB der Blick 
der hellsichtigen Forschung zuerst auf dieses Ereignis wenigstens hin- 
gelenkt werden kann. Denn dieses Ereignis stellt sich dem nach ruck- 
warts gerichteten hellseherischen Blick so dar wie eine Art Erwachen, 
das diejenigen Personlichkeiten an einem gewissen Tage, an den eben 
das Pfingstfest erinnern soil, empfunden haben, die Personlichkeiten, 
welche man gewohnllch die Apostel oder Jiinger des Christus Jesus 
nennt. Es ist nicht leicht, eine genaue Vorstellung von all diesen ja 
zweifellos seltsamen Erscheinungen hervorzurufen, und wir werden 
uns schon an manches sozusagen in den Untergninden unserer Seele 
erinnern mussen, was sich uns aus den bisherigen anthroposophischen 
Betrachtungen hat ergeben konnen, wenn wir genaue Vorstellungen 
mit all dem verbinden wollen, was gerade iiber dieses Thema unseres 
Vortragszyklus heute zu sagen ist. 

Wie erwachend kamen sich die Apostel vor, wie Menschen, welche 
in diesem Augenblick das Empfinden hatten, daB sie lange Zeit - viele 
Tage hindurch - in einem ihnen ungewohnten BewuBtseinszustand 
gelebt hatten. Es war tatsachlich etwas wie eine Art Aufwachen aus 
einem tiefen Schlaf, allerdings einem merkwiirdigen, traumerfiillten 
Schlaf, wie aus einem Schlaf, der aber so ist - ich bemerke ausdriick- 
lich, ich spreche immer von der Art, wie es dem BewuBtsein der 
Apostel erschienen ist daB man daneben alle auBeren Verrichtun- 
gen des Tages vollbringt, als leiblich gesunder Mensch herumgeht, so 
daB gewissermaBen auch die anderen Menschen, mit denen man um- 
geht, einem gar nicht ansehen, daB man in einem anderen BewuBtseins- 
zustand ist. Dermoch trat der Zeitpunkt ein, wo es den Aposteln so 
vorkam, als ob sie eine lange, tagelang dauernde Zeit verlebt hatten 
wie in einem traumerfullten Schlafe, aus dem sie nun mit diesem 
Pfingstereignis erwachten. Und dieses Erwachen, schon das fuhlten sie 



in einer eigentiimlichen Weise: sie fuhlten tatsachlich, wie wenn aus 
dem Weltenall niedergestiegen ware auf sie etwas, was man nur nennen 
konnte die Substanz der allwaltenden Liebe. Wie gleichsam von oben 
herab befruchtet durch die allwaltende Liebe und wie auferweckt aus 
dem geschilderten traumhaften Lebenszustand, so fuhlten sich die 
Apostel. Wie wenn durch alles dasjenige, was als die urspriingliche 
Kraft der Liebe, die das Weltenall durchdringt und durchwarmt, sie 
auferweckt worden waren, wie wenn diese urspriingliche Kraft der 
Liebe in die Seele eines jeden Einzelnen sich gesenkt hatte, so kamen 
sie sich vor. Und den anderen Menschen, die sie beobachten konn- 
ten, wie sie nun sprachen, kamen sie ganz fremdartig vor. Sie wuBten, 
diese anderen Menschen, daB das Leute waren, die bisher in einer 
auBerordentlich einfachen Weise gelebt hatten, von denen allerdings 
einige in den letzten Tagen sich etwas sonderbar, wie traumverloren, 
benommen hatten. Das wuBte man. Jetzt aber kamen sie den Leuten 
wie verwandelt vor: wie Menschen, die in der Tat erlangt hatten eine 
ganz neue Verfassung, eine ganz neue Stimmung der Seele, wie Men- 
schen, die alle Engigkeit des Lebens, alle Eigensiichtigkeit des Lebens 
verloren hatten, die ein unendlich weites Herz, eine umfassende Tole- 
ranz im Inneren gewonnen hatten, ein tiefes Herzensverstandnis fiir 
alles, was menschlich auf der Erde ist, die sich so ausdriicken konn- 
ten, daB jeder, der da war, sie verstand. Man empfand gleichsam, daB sie 
in eines jeden Herz und Seele schauen konnten und aus dem tiefsten 
Inneren heraus Geheimnisse der Seele errieten, so daB sie einen jeden 
trosten konnten, dasjenige sagen konnten, was er gerade brauchte. 

Es war naturlich im hochsten Grade verwunderlich fiir diese Beob- 
achter, daB eine solche Umwandlung mit einer Anzahl von Menschen 
vorgehen konnte. Diese Menschen selber aber, die diese Umwandlung 
erfahren hatten, die gleichsam durch den Geist der Liebe des Kosmos 
auferweckt worden waren, diese Menschen fuhlten jetzt in sich selber 
ein neues Verstandnis, fuhlten ein Verstandnis fiir dasjenige, was sich 
allerdings in innigster Gemeinschaft mit ihren Seelen abgespielt hatte, 
das sie aber damals, als es sich abgespielt hatte, nicht begriffen hat- 
ten: Jetzt erst, in diesem Augenblick, da sie sich befruchtet fuhlten 
mit der kosmischen Liebe, trat vor ihr Seelenauge ein Verstandnis 



fur das, was auf Golgatha eigentlich geschehen war. Und wenn wir 
in die Seele des einen dieser Apostel hineinsehen, desjenigen, der ge- 
wohnlich in den anderen Evangelien Petrus genannt wird, so stellt 
sein Seeleninneres fur den riickschauenden hellsichtigen Blick sich so 
dar, daB sein irdisches normales BewuBtsein in jenem Augenblicke 
gleichsam wie vollstandig abgerissen war, von jenem Augenblicke an, 
der in den anderen Evangelien gewohnlich bezeichnet wird als die Ver- 
leugnung. Er sah hin auf diese Verleugnungsszene, wie er gefragt 
worden war, ob er einen Zusammenhang habe mit dem Galilaer, und 
er wuBte jetzt, daB er das dazumal abgeleugnet hatte, weil sein nor- 
males BewuBtsein begann sich herabzudampfen, weil sich ausbreitete 
ein anomaler Zustand, eine Art Traumzustand, der eine Entriicktheit 
in eine ganz andere Welt bedeutete. Es war ihm jetzt an diesem Pfingst- 
fest so zumute, wie einem zumute ist beim Aufwachen am Morgen und 
man sich da an die letzten Ereignisse am Abend vor dem Einschlafen 
erinnert; so erinnerte sich Petrus an die letzten Ereignisse, bevor 
dieser abnorme Zustand eintrat, an dasjenige, was man gewohnlich die 
Verleugnung nennt, die dreimalige Verleugnung, bevor der Hahn 
zweimal gekraht hatte. Und dann erinnerte er sich, daB sich ausbrei- 
tete uber seine Seele jener Zustand, so wie fiir den Schlafenden die 
Nacht sich ausbreitet. Aber er erinnerte sich auch, wie sich jener 
Zwischenzustand erfullte nicht mit bloBen Traumbildern, sondern mit 
Gebilden, die eine Art hoheren BewuBtseinszustand darstellten, die 
darstellten ein Miterleben von rein geistigen Angelegenheiten. Und 
alles, was geschehen war, was Petrus gleichsam verschlafen hatte seit 
jener Zeit, das trat wie aus einem hellschauenden Traum vor seine 
Seele. Vor allem lernte er jetzt schauen das Ereignis, von dem man 
wirklich sagen kann, er habe es verschlafen. Er hatte es nicht mit 
seinem Verstandnis erlebt, weil zum vollen Verstandnis fiir dieses Er- 
eignis notwendig war die Befruchtung mit der allwaltenden kosmi- 
schen Liebe. Jetzt, wo diese erfolgt war, traten ihm vor Augen die 
Bilder des Mysteriums von Golgatha. So traten sie ihm vor Augen, 
wie wir sie wiederum erleben konnen, wenn wir sie wachrufen kon- 
nen mit riickschauendem hellsichtigem BewuBtsein, wenn wir die 
Bedingungen dazu herstellen. 



Offen gestanden: mit einem Gefuhl, das ganz eigenartig ist, ent- 
schlieBt man sich, in Worte zu pragen dasjenige, was sich da eroffnet 
dem hellsichtigen BewuBtsein, wenn man hineinschaut in das BewuBt- 
sein des Petrus und der anderen, die bei jenem Pfingstfeste versam- 
melt waren. Mit einer heiligen Scheu nur kann man sich entschlieBen, 
von diesen Dingen zu reden. Man mochte sagen, man ist fast iiberwal- 
tigt von dem BewuBtsein, man betrete heiligsten Boden des mensch- 
Uchen Anschauens, wenn man in Worten auszudriicken versucht, 
was sich dem Seelenblicke da eroffnet. Dennoch erscheint es aus gewis- 
sen Vorbedingungen unserer Zeit heraus notwendig, xiber diese Dinge 
zu sprechen ; allerdings mit dem vollen BewuBtsein, daB andere Zeiten 
kommen werden als die unsrigen sind, in denen man mehr Verstandnis 
entgegenbringen wird demjenigen, was gesagt werden muB iiber das 
Fiinfte Evangelium, als man es heute schon kann. Denn um vieles von 
dem zu verstehen, was bei dieser Gelegenheit gesagt werden muB, muB 
die Menschenseele sich noch befreien von mancherlei Dingen, die sie 
ganz notwendig aus der Zeitkultur heraus heute noch erfullen mussen. 

Zunachst stellt sich, wenn man hellsichtig zuruckschaut auf das 
Ereignis von Golgatha, vor den hellsehenden Blick etwas hin, was - 
wenn man es in Worte faBt - sich ausnimmt wie eine Art Beleidigung 
des gegenwartigen naturwissenschaftlichen BewuBtseins. Dennoch 
fuhle ich mich gezwungen, so gut es geht, dasjenige in Worte zu 
pragen, was sich dem hellsichtigen Blick also darstellt. Ich kann 
nichts dafur, wenn das, was da gesagt werden muB, etwa hinaus- 
dringen sollte in weniger vorbereitete Gemiiter und Seelen hinein und 
das Ganze aufgebauscht wiirde wie etwas, was gegeniiber den wis- 
senschaftlichen Anschauungen, welche die Gegenwart nun einmal 
beherrschen, nicht standhalten konnte. Es fallt der hellsehende Blick 
zunachst auf ein Bild, das eine Realitat darstellt, das auch in den 
anderen Evangelien angedeutet ist, das aber doch einen ganz beson- 
deren Anblick darbietet, wenn man es gleichsam heraustreten sieht 
aus der Fiille der Bilder, die der hellsehende Blick in der Riickschau 
erhalten kann. Es fallt dieser hellsehende Blick tatsachlich auf eine 
Art von Verfinsterung der Erde. Und man fiihlt, wie in diesem be- 
deutungsvollen Augenblick, der durch Stunden hindurch anhalt, wie 



da die physische Sonne verfinstert war iiber dem Lande Palastina, 
iiber der Statte von Golgatha. Man hat denselben Eindruck, den der 
geisteswissenschaftlich geschulte Blick jet2t noch nachpnifen kann, 
wenn wirklich eine auBere physische Sonnenfinsternis durch das Land 
geht Fiir den Seelenblick nimmt sich die ganze Umgebung des Men- 
schen wahrend einer solchen mehr oder weniger starken Sonnen- 
finsternis folgendermaBen aus. Da sieht alles gan2 anders aus. Ich 
mochte absehen von jenem Anblick, der sich bei einer Sonnenfinster- 
nis darbietet, von all den Dingen, welche Menschenkunst und Men- 
schentechnik hervorgebracht haben, denn es bedarf eines gewissen 
starken Gemiites und eines Durchdrungenseins von dem BewuBtsein 
der Notwendigkeit, daB das alles entstehen muBte, urn den damoni- 
schen Anblick zu ertragen, den diejenigen Wesen darbieten, die sich 
wahrend einer Sonnenfinsternis aus der auBeren kunstlosen Technik 
erheben. Aber ich will auf diese Schilderung nicht weiter eingehen, 
sondern nur darauf aufmerksam machen, daB in einer solchen Zeit das- 
jenige lichtvoll erscheint, was man sonst nur durch sehr schwierige 
Meditationen erreichen kann: Man sieht dann alles Pflanzliche und 
Tierische anders, jeder Vogel, jeder Schmetterling sieht dann anders 
aus. Man bemerkt eine Herabdampfung des Lebensgefuhles. Es ist 
etwas, was im tiefsten Sinne die Uberzeugung hervorrufen kann, wie 
innig zusammenhangt im Kosmos ein gewisses geistiges Leben, das 
zur Sonne gehort und das in dem, was man in der Sonne sieht, gleich- 
sam seinen physischen Leib hat, mit dem Leben auf der Erde. Und 
man bekommt das Gefiihl, wenn dem physischen Leben das physische 
Leuchten der Sonne gewaltsam verdunkelt wird durch den davor- 
tretenden Mond, so ist das etwas ganz anderes, als wenn die Sonne 
bloB nicht scheint in der Nacht. Ganz anders ist fiir den beobach- 
tenden Seelenblick der Anblick der uns umgebenden Erde wahrend 
einer Sonnenfinsternis als wahrend einer bloBen Nacht. Man fuhlt 
wahrend einer Sonnenfinsternis etwas wie ein Aufstehen der Grup- 
penseelen der Pflanzen, der Gruppenseelen der Tiere, dagegen wie ein 
Mattwerden aller physischen Leiblichkeit der Pflanzen und Tiere. Es 
tritt etwas ein wie ein Hellwerden alles dessen, was geistig ist, was 
Gruppenseelenhaftigkeit darstellt. 



Das alles stellt sich in einem hohen MaBe dar, wenn der hellsehende 
Blick in der Riickschau hinsieht auf den Augenblick der Erdenevo- 
lution, den wir bezeichnen als das Mysterium von Golgatha. Und 
dann taucht etwas auf, was man nennen konnte: man lernt lesen, 
was dieses merkwiirdige Naturzeichen, diese plotzlich auftretende 
Verfinsterung der Sonne, die der nach riickwarts gewendete, hell- 
seherische Blick im Kosmos erschaut, was das eigentHch bedeutet. 
Ich kann wirklich nichts dafiir, wenn ich genotigt bin, ein reines 
Naturereignis, wie es natiirlich friiher und spater auch stattgefunden 
hat, gerade an diesem Punkte der Erdenevolution in okkulter Schrift 
so zu lesen - in Widerspruch mit allem gegenwartigen materialisti- 
schen BewuBtsein -, wie es eben unmittelbar den Eindruck macht. 
Wie wenn man ein Buch aufschlagt und die Schrift liest, so fiihlt man 
sich, wenn man dieses Ereignis vor sich hat, so daB einem wie aus 
dem Schriftzeichen entgegenkommt, was man lesen soil. So kommt 
einem aus diesem Schriftzeichen des Kosmos die Notwendigkeit ent- 
gegen, man solle etwas lesen, was die Menschheit kennenlernen soil. 
Wie ein in den Kosmos geschriebenes Wort kommt das einem vor, 
wie ein Lautzeichen im Kosmos. 

Und was liest man dann, wenn man ihm seine Seele offnet? Ich 
habe gestern aufmerksam gemacht, wie in die Griechenzeit hinein die 
Menschheit sich so entwickelt hat, daB sie in Plato und Aristoteles 
aufgestiegen ist zu einer ganz besonders hohen Ausbildung der Intel- 
lektualitat der menschlichen Seele. In vieler Beziehung konnte das- 
jenige Wissen, das von Plato oder Aristoteles erreicht worden ist, in 
der spateren Zeit gar nicht iiberholt werden, denn es war fur die 
Intellektualitat der Menschheit damit in gewisser Beziehung ein Hoch- 
stes herangekommen. Man kann viel erkennen, wenn man dies wirk- 
lich erkennt. Und wenn sich die hellsichtig beobachtende Seele, die 
die Zeit von Palastina beobachtet, anschaut, wie dieses intellektuelle 
Wissen, zu dem sich die Menschheit heraufentwickelt hatte, das 
gerade in der Zeit des Mysteriums von Golgatha auf der griechischen 
und italischen Halbinsel durch Wanderprediger ungeheuer popular 
geworden war, wenn man das alles ins Auge faBt, wie dieses Wissen 
verbreitet worden war in einer Art, wie man es sich heute gar nicht 



vorstellen kann, dann bekommt diese hellsichtig beobachtende Seele 
die Moglichkeit eines Eindruckes, der sich wie ein Lesen jenes genann- 
ten, in den Kosmos hineingestellten Schriftzeichens ausnimmt. Man 
sagt sich dann, wenn man das hellsichtige BewuBtsein so herangezo- 
gen hat : Das alles, was die Menschheit da an Wissen gesammelt hat, 
wozu sie sich erhoben hat in der vorchristlichen Zeit, dafiir ist ein 
Zeichen der Mond, der fur den Erdengesichtspunkt durch das Wel- 
tenall geht, und deshalb der Mond, weil sich fur alles hohere Erken- 
nen der Menschheit dieses Wissen nicht wie aufschlieBend, wie Ratsel 
losend verhalten hat, sondern fur das hohere Erkennen wie verdun- 
kelnd, so wie der Mond die Sonne verfinstert bei einer Sonnenfinster- 
nis. Das liest man, wenn man das okkulte Schriftzeichen der Sonne, 
die vom Mond verdunkelt wird, liest. 

Man weiB dann: So trat alles Wissen damals nicht aufklarend, 
sondern das Weltratsel verdunkelnd auf, und man fiihlt als Hellseher 
die Verfinsterung der hoheren, eigentlich spirituellen Regionen der 
Welt durch das Wissen der alten Zeit, das sich vor die wirkliche 
Erkenntnis hingestellt hat wie der Mond vor die Sonne bei einer 
Sormenfinsternis. Und das auBere Naturereignis wird ein Ausdruck 
dafiir, daB die Menschheit eine Stufe erreicht hat, innerhalb welcher 
sich das aus der Menschheit selbst geschopfte Wissen vor das hohere 
Erkennen hingestellt hat wie der Mond vor die Sonne bei einer Son- 
nenfinsternis. Der Menschheit Seelenverdunkelung innerhalb der 
Erdenevolution fiihlt man hingeschrieben in einem ungeheuren Zei- 
chen der okkulten Schrift in den Kosmos in jener Verfinsterung der 
Sonne im Momente des Mysteriums von Golgatha. Ich habe gesagt, 
daB das GegenwartsbewuBtsein es wie eine Beleidigung empfinden 
kann, wenn man so etwas ausspricht, weil es kein Verstandnis mehr 
hat fur das Walten spiritueller Krafte im Weltenall, die im Zusammen- 
hang stehen mit dem, was in der Menschenseele als Krafte waltet. 
Ich will nicht im gewohnlichen Sinne von Wundern sprechen, von 
einem Durchbrechen der Naturgesetze, aber ich kann nicht anders 
als Ihnen mitteilen, wie man jene Verfinsterung der Sonne lesen muB - 
wie man nicht anders kann, als sich mit seiner Seele vor diese Ver- 
finsterung der Sonne hinzustellen gleichsam wie lesend, was durch 



dieses Naturereignis ausgedriickt wird: Mit dem Mondenwissen ist 
eine Verfinsterung eingetreten gegenuber der hoheren Sonnenbot- 
schaft. 

Und dann - nachdem man diese okkulte Schrift gelesen hat - stellt 
sich in der Tat vor das hellsichtige BewuBtsein das Bild des erhohten 
Kreuzes auf Golgatha, des an ihm hangenden Korpers des Jesus 
zwischen den beiden Raubern. Und es stellt sich ein - und ich darf 
wohl in Parenthese einfiigen, je mehr man sich gegen dieses Bild 
wehrt, desto heftiger stellt es sich ein das Bild stellt sich ein der 
Kreuzabnahme und der Grablegung. Jetzt tritt ein zweites gewaltiges 
Zeichen ein, wodurch wieder wie in den Kosmos hineingeschrieben 
wird etwas, was man eben lesen muB, um es zu begreifen, als ein 
Symbolum dessen, was in der Evolution der Menschheit eigentlich 
geschehen ist: Man verfolgt das Bild des vom Kreuze herabgenom- 
menen Jesus, der in das Grab gelegt wird, und man wird dann durch- 
riittelt, wenn man den Seelenblick darauf richtet, in der Seele von 
einem Erdbeben, das durch jene Gegend ging. 

Vielleicht wird man einmal den Zusammenhang jener Verfinsterung 
der Sonne mit diesem Erdbeben auch naturwissenschaftUch besser ein- 
sehen, denn gewisse Lehren, die heute schon, aber zusammenhang- 
los, durch die Welt ziehen, zeigen einen Zusammenhang zwischen 
Sonnenflnsternissen und Erdbeben und sogar schlagenden Wettern in 
Bergwerken. Jenes Erdbeben war eine Folge der Sonnenverfinsterung 
(siehe Hinweis). Jenes Erdbeben durchriittelte das Grab, in das der 
Leichnam des Jesus gelegt war - und weggerissen wurde der Stein, 
der darauf gelegt worden war, und ein Spalt wurde aufgerissen in der 
Erde, und der Leichnam wurde aufgenommen von dem Spalt. Durch 
weitere Aufruttelung wurde iiber dem Leichnam der Spalt wieder ge- 
schlossen. Und als die Leute am Morgen kamen, war das Grab leer, 
denn die Erde hatte aufgenommen den Leichnam des Jesus; nur der 
Stein lag noch da, hinweggeschleudert. 

Verfolgen wir noch einmal die Bilderreihe! An dem Kreuze auf 
Golgatha verscheidet der Jesus. Finsternis bricht herein iiber die Erde. 
In das offene Grab wird der Leichnam des Jesus hineingelegt. Ein 
Beben durchriittelt den Erdboden, und der Leichnam des Jesus wird 



aufgenommen von der Erde. Der dutch das Beben entstandene Spalt 
schlieBt sich, der Stein wird danebengeschleudert. Das alles sind tat- 
sachliche Ereignisse ; ich kann nicht anders als sie so schildern. Mogen 
die Leute, die aus der Naturwissenschaft heraus solchen Dingen sich 
nahern wollen, urteilen wie sie wollen, alle moglichen Griinde dagegen 
vorbringen : Das, was der hellseherische Blick sieht, ist so, wie ich es 
geschildert habe. Und wenn jemand sagen wollte, so etwas konne nicht 
geschehen, daB aus dem Kosmos heraus wie in einer gewaltigen 
Zeichensprache ein Symbolum hingestellt wird dafur, daft etwas Neues 
eingezogen ist in die Menschheitsevolution, wenn jemand sagen 
wollte, so schreiben die gottlichen Gewalten dasjenige, was geschieht, 
nicht in die Erde hinein mit einer solchen Zeichensprache wie einer 
Verfinsterung der Sonne und einem Erdbeben, so konnte ich nur 
erwidern: Euer Glaube in alien Ehren, daB das nicht so sein kann! 
Aber es ist halt doch geschehen, es hat sich ereignet ! - Ich kann mir 
denken, daB etwa ein Ernest Renan, der ja das eigenartige «Leben 
Jesu» geschrieben hat, kommen und sagen wiirde: An solche Dinge 
glaubt man nicht, denn man glaubt nur an dasjenige, was sich jeder- 
zeit im Experimente wieder herstellen laBt. - Aber der Gedanke ist 
nicht durchfiihrbar, denn wiirde zum Beispiel ein Renan nicht an die 
Eiszeit glauben, obschon es unmoglich ist, durch Experiment die 
Eiszeit wieder herzustellen? Das ist doch ganz gewiB unmoglich, die 
Eiszeit wieder iiber die Erde zu bringen, und dennoch glauben alle 
Naturforscher daran. So ist es unmoglich, da6 dieses einmal gesche- 
hene kosmische Zeichen beim Ereignis von Golgatha jemals wieder 
vor die Menschen hintritt. Dennoch aber ist es geschehen. 

Wir konnen zu diesem Ereignis nur vordringen, wenn wir hell- 
seherisch den Weg einschlagen, den ich angedeutet habe, wenn wir 
uns zunachst etwa vertiefen in die Seele des Petrus oder eines der 
anderen Apostel, die beim Pfingstfeste sich befruchtet fuhlten von der 
allwaltenden kosmischen Liebe. Nur, wenn wir in die Seelen jener 
Leute schauen und da sehen, was diese Seelen erlebt haben, finden wir 
auf diesem Umwege die Moglichkeit, hinzuschauen auf das auf Gol- 
gatha erhohte Kreuz, auf die Verfinsterung der Erde zu jener Zeit 
und auf das Beben der Erde, das darauf folgte. DaB im auBeren Sinne 



diese Verfinsterung und dieses Beben ganz gewohnliche Naturereig- 
nisse waren, das wird durchaus nicht geleugnet; daB aber fur den- 
jenigen, der diese Ereignisse hellseherisch verfolgt, sich diese Ereig- 
nisse so lesen, wie ich sie geschildert habe als gewaltige Zeichen der 
okkulten Schrift, das muB entschieden gesagt werden von demjenigen, 
der in seiner Seele die Bedingungen dazu hergestellt hat. Denn in der 
Tat war, was ich jetzt geschildert habe, fur das BewuBtsein des Petrus 
etwas, das auf dem Felde des langen Schlafes sich herauskristallisierte. 
Auf dem Felde des durch mancherlei Bilder durchkreuzten BewuBt- 
seins des Petrus hoben sich zum Beispiel heraus: das auf Golgatha 
erhohte Kreuz, die Verfinsterung und das Beben. Das waren fur den 
Petrus die ersten Fruchte der Befruchtung mit der allwaltenden kos- 
mischen Liebe beim Pfingstereignis. Und jetzt wuBte er etwas, was er 
friiher mit seinem normalen BewuBtsein tatsachlich nicht gewuBt 
hatte : daB das Ereignis von Golgatha stattgefunden hat, und daB der 
Leib, der am Kreuze hing, derselbe Leib war, mit dem er oftmals im 
Leben gewandelt war. Jetzt wuBte er, daB Jesus am Kreuze gestorben 
ist und daB dieses Sterben eigentlich eine Geburt war, die Geburt 
desjenigen Geistes, der als allwaltende Liebe sich jetzt ausgegossen 
hatte in die Seelen der beim Pfingstfeste versammelten Apostel. Und 
wie einen Strahl der urewigen, aonischen Liebe fuhlte er in seiner 
Seele aufwachen den Geist als denselben, welcher geboren worden 
war, als der Jesus am Kreuze verschied. Und die ungeheuere Wahr- 
heit senkte sich in die Seele des Petrus: Es ist nur Schein, daB am 
Kreuze ein Tod sich vollzogen hat, in Wahrheit war dieser Tod, dem 
unendliches Leiden vorangegangen war, die Geburt desjenigen, was 
wie in einem Strahle jetzt in seine Seele hineingedrungen war, fur die 
ganze Erde. Fur die Erde war mit dem Tode des Jesus geboren das- 
jenige, was friiher allseitig auBerhalb der Erde vorhanden war: die 
allwaltende Liebe, die kosmische Liebe. 

Solch ein Wort ist scheinbar abstrakt leicht auszusprechen, aber man 
muB sich einen Augenblick wirklich hineinversetzen in diese Petrus- 
Seele, wie sie empfunden hat, in diesem Moment zum allerersten 
Male empfunden hat : Der Erde ist etwas geboren worden, was friiher 
nur im Kosmos vorhanden war, in dem Augenblick, als Jesus von 



Nazareth verschied am Kreuze auf Golgatha. Der Tod des Jesus von 
Nazareth war die Geburt der allwaltenden kosmischen Liebe inner- 
halb der Erdensphare. 

Das ist gewissermaBen die erste Erkenntnis, die wir herauslesen 
konnen aus dem, was wir das Fiinfte Evangelium nennen. Mit dem, 
was im Neuen Testamente die Herabkunft, die AusgieBung des Hei- 
ligen Geistes genannt wird, ist gemeint dasjenige, was ich jetzt ge- 
schildert habe. Die Apostel waren nicht geeignet durch ihre ganze da- 
malige Seelenverfassung, dieses Ereignis des Todes des Jesus von 
Nazareth anders mitzumachen als in einem abnormen BewuBtseins- 
zustande. 

Noch eines anderen Momentes seines Lebens muBte Petrus, auch 
Johannes und Jakobus, gedenken, jenes Momentes, der auch in den 
anderen Evangelien geschildert wird, der uns aber nur durch das 
Fiinfte Evangelium in seiner vollen Bedeutung erst verstandlich wer- 
den kann. Derjenige, mit dem sie auf der Erde gewandelt waren, 
hatte sie herausgefuhrt zum Olberge, zum Garten Gethsemane und 
hatte gesagt: Wachet und betet! - Sie aber waren eingeschlafen und 
jetzt wuBten sie: Dazumal war schon gekommen jener Zustand, der 
sich immer mehr und mehr ausbreitete iiber ihre Seelen. Das normale 
BewuBtsein schlief ein, sie versanken in Schlaf, der andauerte wahrend 
des Ereignisses von Golgatha, und aus dem herausstrahlte dasjenige, 
was ich in stammelnden Worten zu schildern versuchte. Und Petrus, 
Johannes und Jakobus muBten gedenken, wie sie in diesen Zustand 
verfallen waren und wie jetzt, als sie zunickblickten, heraufdammerten 
die groBen Ereignisse, die sich um den irdischen Leib Desjerrigen ab- 
gespielt hatten, mit dem sie umhergewandelt waren. Und allmahlich, 
wie versunkene Traume herauftauchen im MenschenbewuBtsein, in 
der Menschenseele, so tauchten die verflossenen Tage in dem BewuBt- 
sein und den Seelen der Apostel auf. Wahrend dieser Tage hatten sie 
das alles nicht mit normalem BewuBtsein miterlebt. Jetzt tauchte das 
in ihr normales BewuBtsein herein, und dasjenige, was hereintauchte, 
das war die ganze Zeit, die sie miterlebt hatten seit dem Ereignis von 
Golgatha bis zu dem Pfingstereignis, in den Untergriinden ihrer Seele 
versunken geblieben. Das fdhlten sie, wie diese Zeit ihnen vorkam 



wie eine Zeit tiefsten Schlafes. Besonders die zehn Tage von der so- 
genannten Himmelfahrt bis zum Pfingstereigrris kamen ihnen vor wie 
eine Zeit tiefsten Schlafes. Riickwartsschauend aber kam ihnen Tag 
fur Tag herauf die Zeit zwischen dem Mysterium von Golgatha und 
der sogenannten Himmelfahrt des Christus Jesus. Das hatten sie mit- 
erlebt, das kam aber erst jetzt herauf, und in einer ganz merkwiirdigen 
Weise kam es herauf. 

Verzeihen Sie, wenn ich hier eine personliche Bemerkung ein- 
schalte. Ich muB gestehen, daB ich selbst in hochstem MaBe erstaunt 
war, als ich gewahr wurde, wie das in den Seelen der Apostel herauf- 
kam, was sie erlebt hatten in der Zeit zwischen dem Mysterium von 
Golgatha und der sogenannten Himmelfahrt. Es ist ganz merkwiirdig, 
wie das heraufkam, auftauchte in den Seelen der Apostel. - Da 
tauchte auf in den Seelen der Apostel Bild nach Bild, und diese 
Bilder sagten ihnen: Ja, du warst ja beisammen mit dem, der am 
Kreuze gestorben oder geboren worden ist, du bist ihm ja begegnet. - 
So wie man am Morgen beim Aufwachen sich erinnert an Traume 
und da weiB, du warst ja in diesem Traum zusammen mit diesem oder 
jenem, so kamen wie Traume herauf in die Seelen der Apostel die 
Erinnerungen. Aber ganz eigenartig war, wie die einzelnen Ereignisse 
ins BewuBtsein herauf kamen. Immer muBten sie sich fragen: Ja, wer 
ist denn das, mit dem wir da zusammen waren? - Und sie erkannten 
ihn immer wiederum und wiederum nicht. Sie fiihlten, das ist eine 
geistige Gestalt; sie wuBten, sie sind sicher in diesem schlafartigen 
Zustand mit ihm herumgewandelt, aber sie erkannten ihn nicht in 
der Gestalt, in der er ihnen jetzt aufgegangen war, nach der Befruch- 
tung mit der allwaltenden Liebe. Sie sahen sich wandelnd mit dem- 
jenigen, den wir Christus nennen, nach dem Mysterium von Golgatha. 
Und sie sahen auch, wie er tatsachlich dazumal ihnen Lehren gab vom 
Reiche des Geistes, wie er sie unterwies. Und sie lernten verstehen, 
wie sie vierzig Tage lang mit diesem Wesen, das am Kreuze geboren 
war, herumgegangen waren, wie dieses Wesen - die aus dem Kosmos 
in die Erde geborene allwaltende Liebe - ihr Lehrer war, wie sie aber 
mit ihrem normalen BewuBtsein nicht reif gewesen waren, zu ver- 
stehen, was dieses Wesen zu sagen hatte, wie sie mit unterbewuBten 



Kraften ihrer Seele das hatten aufnehmen miissen, wie sie wie Nacht- 
wandler neben dem Christus gegangen waren und nicht hatten auf- 
nehmen konnen mit dem gewohnlichen Verstande, was dieses Wesen 
ihnen zu geben hatte. Und sie horten auf ihn wahrend dieser vierzig 
Tage, mit einem BewuBtsein, das sie nicht kannten, das jetzt erst in sie 
heraufdrang, nachdem sie das Pfingstereignis durchgemacht hatten. 
Wie Nachtwandler hatten sie zugehort. Als der geistige Lehrer war 
er ihnen erschienen und hatte sie unterwiesen in Geheimnissen, die 
sie nur verstehen konnten, indem er sie entriickte in einen ganz ande- 
ren BewuBtseinszustand. Und so sahen sie jetzt erst: Sie waren mit 
dem Christus, mit dem auferstandenen Christus gegangen. Jetzt aber 
erkannten sie erst, was mit ihnen geschehen war. Und wodurch er- 
kannten sie, daB das wirklich Derjenige war, mit dem sie im Leibe 
vor dem Mysterium von Golgatha umhergegangen waren? Das ge- 
schah in der folgenden Weise. 

Nehmen wir an, solch ein Bild trate jetzt nach dem Pfingstfest vor 
die Seele eines der Apostel. Er sah, wie er gewandelt war mit dem 
Auferstandenen, wie der Auferstandene ihn unterrichtet hatte. Aber 
er erkannte ihn nicht. Er sah zwar ein himmlisches, geistiges Wesen, 
aber er erkannte es nicht. Da mischte sich ein anderes Bild herein. 
Ein solches Bild vermischte sich mit dem rein geistigen Bilde, das ein 
Erlebnis der Apostel darstellte, das sie wirklich durchgemacht hatten 
mit dem Christus Jesus vor dem Mysterium von Golgatha. Da gab es 
eine Szene, wo sie sich fuhlten wie unterrichtet von dem Geheimnis 
des Geistes, von dem Christus Jesus. Aber sie erkannten ihn nicht. 
Sie schauten sich gegemiberstehend diesem geistigen Wesen, das sie 
unterrichtete, und damit sie das erkannten, verwandelte sich dieses 
Bild, indem es sich zugleich aufrechterhielt, in das Bild des Abend- 
mahles, das sie miterlebt hatten mit dem Christus Jesus. Stellen Sie 
sich wirklich vor, daB solch ein Apostel vor sich hatte das iibersinn- 
liche Erlebnis mit dem Auferstandenen und, wie im Hintergrunde wir- 
kend, das Bild des Abendmahles. Da erst erkannten sie, daB es Der- 
selbe ist, mit dem sie einstmals gewandelt sind im Leibe, wie Der- 
jenige, der sie jetzt unterrichtete in der ganz anderen Gestalt, die er 
angenommen hatte nach dem Mysterium von Golgatha. Es war ein 



vollstandiges ZusammenflieBen der Erinnerungen aus dem BewuBt- 
seinszustand, der gleichsam ein Schlafzustand war, mit den Erinne- 
rungsbildern, die vorangegangen waren. Wie zwei Bilder, die sich 
deckten, erlebten sie das: Ein Bild aus den Erlebnissen nach dem 
Mysterium von Golgatha, und eines vor demselben, wie hereinleuch- 
tend aus der Zeit, bevor sich ihr BewuBtsein so getriibt hatte, daB sie 
nicht mehr miterlebten, was sich da abspielte. So erkannten sie, daB 
diese zwei Wesenheiten zusammengehoren: der Auferstandene und 
Derjenige, mit dem sie einstmals, vor verhaltnismaBig kurzer Zeit, im 
Leibe herumgewandelt waren. Und sie sagten sich jetzt: Bevor wir 
also aufgewacht sind durch die Befruchtung mit der allwaltenden 
kosmischen Liebe, waren wir wie hinweggenommen von unserem ge- 
wohnlichen BewuBtseinszustand. Und der Christus, der Auferstandene 
war mit uns. Er hat uns gleichsam unwissend in sein Reich aufge- 
nommen, wandelte mit uns und enthiillte uns die Geheimnisse seines 
Reiches, die jetzt, nach dem Pfingstmysterium, wie im Traume erlebt 
herauftauchen ins normale BewuBtsein. 

Das ist das jenige, was man als Staunen-Hervorrufendes erlebt : Dieses 
Zusammenfallen immer eines Bildes von einem Erlebnis der Apostel 
mit dem Christus nach dem Mysterium von Golgatha mit einem 
Bilde vor dem Mysterium von Golgatha, das sie wirklich normal wis- 
send im physischen Leibe erlebt hatten mit dem Christus Jesus. 

Wir haben den Anfang damit gemacht, mitzuteilen, was sich lesen 
laBt in dem sogenannten Funften Evangelium, und ich darf am Ende 
dieser ersten Mitteilung, die ich heute zu machen hatte, vielleicht ein 
paar personliche Worte zu Ihnen sprechen, die neben dieser Tatsache 
doch eben ausgesprochen werden mussen. Ich fuhle mich gewisser- 
maBen okkult verpflichtet, von diesen Dingen jetzt zu sprechen. Das- 
jenige aber, was ich sagen mochte, ist das Folgende: Ich weiB sehr 
wohl, daB wir gegenwartig in einer solchen Zeit leben, in der sich 
mancherlei fur die nachste Erdenzukunft der Menschheit vorbereitet, 
und daB wir innerhalb unserer - jetzt Anthroposophischen - Gesell- 
schaft gleichsam als diejenigen uns fiihlen mussen, denen eine Ahnung 
aufgeht, daB in den Seelen der Menschen etwas vorzubereiten ist fur 
die Zukunft, was vorbereitet werden muB. Ich weiB, es werden Zei- 



ten kommen, in denen man noch ganz anders, als es unsere heutige 
Zeit uns gestattet, wird iiber diese Dinge sprechen konnen. Denn wir 
alle sind ja Kinder der Zeit. Es wird aber eine nahe Zukunft kommen, 
in der man genauer, praziser wird sprechen konnen, in der vielleicht 
manches von dem, was heute nur andeutungsweise erkannt werden 
kann, viel, viel genauer wird erkannt werden konnen in der geistigen 
Chronik des Werdens. Solche Zeiten werden kommen, wenn es auch 
der heutigen Menschheit noch so unwahrscheinlich vorkommt. Den- 
noch liegt gerade aus diesem Grunde eine gewisse Verpflichtung vor, 
schon heute wie vorbereitend iiber diese Dinge zu sprechen. Und 
wenn es mich auch eine gewisse tJberwindung gekostet hat, gerade 
iiber dieses Thema zu sprechen, so iiberwog denn doch die Ver- 
pflichtung gegeniiber demjenigen, was sich in unserer Zeit vor- 
bereiten muB. Das fiihrte dazu, zum ersten Male gerade bei Ihnen 
hier iiber dieses Thema zu sprechen. 

Wenn ich von Uberwindung spreche, so fassen Sie dieses Wort 
wirklich so auf, wie es ausgesprochen wird. Ich bitte ausdriicklich, 
dasjenige, was ich gerade bei dieser Gelegenheit zu sagen habe, wirk- 
lich nur aufzufassen wie eine Art Anregung, wie etwas, was ganz ge- 
wiB in Zukunft viel besser und praziser wird ausgesprochen werden 
konnen. Und das Wort tJberwindung werden Sie besser verstehen, 
wenn Sie mir gestatten, eine personliche Bemerkung nicht zu unter- 
driicken: Es ist mir durchaus klar, daB fiir die Geistesforschung, der 
ich mich ergeben habe, zunachst manches auBerordentlich schwierig 
und miihevoll herauszuholen ist aus der geistigen Schrift der Welt; 
gerade Dinge von dieser Art ! Und ich wurde mich gar nicht wundern, 
wenn das Wort «Andeutung», das ich gebrauchte, eine noch viel 
schwerere und weitere Bedeutung hatte, als es vielleicht jetzt auf- 
gefalk zu werden braucht. Ich will durchaus nicht sagen, daB ich 
heute schon imstande bin, alles das prazise zu sagen, was sich in der 
geistigen Schrift darstellt. Denn gerade ich fiihle mancherlei Schwie- 
rigkeiten und Miihe, wenn es sich darum handelt, Bilder, die sich auf 
die Geheimnisse des Christentums beziehen, aus der Akasha-Chronik 
zu holen. Ich fiihle Miihe, diese Bilder zu der notigen Verdichtung 
zu bringen, sie festhalten zu konnen, und betrachte es gewisser- 



maBen als mein Karma, daB mir die Pflicht auferlegt ist, dies zu sagen, 
was ich eben ausspreche. Denn ganz zweifellos wiirde ich weniger 
Miihe haben, wenn ich in der Lage gewesen ware, in der mancher 
unserer Zeitgenossen ist, in meiner ersten Jugend eine wirklich christ- 
liche Erziehung erhalten zu haben. Das habe ich nicht gehabt; ich bin 
in einer vollstandig freigeistigen Umgebung aufgewachsen, und auch 
mein Studium hat mich zum Freigeistigen gefuhrt. Mein eigener 
Bildungsgang war ein rein wissenschaftlicher. Und das macht mir eine 
gewisse Miihe, diese Dinge jetzt zu finden, von denen ich zu spre- 
chen verpflichtet bin. 

Gerade diese personliche Bemerkung darf ich vielleicht machen aus 
zwei Griinden: aus dem Grunde, weil ja gerade durch eine ganz 
eigenartige Gewissenlosigkeit ein torichtes, albernes Marchen iiber 
meine Zusammenhange mit gewissen katholischen Stromungen durch 
die Welt gesendet worden ist. Von alien diesen Dingen ist nicht ein 
einziges Wort wahr. Und wohin es gekommen ist mit dem, was sich 
heute vielfach Theosophie nennt, das kann man einfach daran er- 
messen, daB auf dem Boden der Theosophie solche gewissenlose Auf- 
stellungen und Geriichte in die Welt geschickt werden. Da wir aber 
gezwungen sind, nicht in nachsichtiger Weise, phrasenhaft dariiber 
hinwegzugehen, sondern demgegeniiber die Wahrheit hinzustellen, so 
darf diese personliche Bemerkung gemacht werden. - Auf der anderen 
Seite fiihle ich mich gerade dadurch, daB ich in meiner Jugend dem 
Christentum fernstand, diesem um so unbefangener gegeniiber und 
glaube, da ich erst durch den Geist zu dem Christentum und der 
Christus-Wesenheit gefuhrt worden bin, gerade auf diesem Gebiete 
ein gewisses Recht zu haben auf Vorurteilslosigkeit und Unbefangen- 
heit, um iiber diese Dinge Aussagen zu machen. Vielleicht wird man - 
gerade in dieser Stunde der Weltgeschichte - mehr geben konnen 
auf das Wort eines Menschen, der aus wissenschaftlicher Bildung 
kommt, der in seiner Jugend dem Christentum ferngestanden hat, als 
eines solchen, der seit der friihesten Jugend mit dem Christentum 
im Zusammenhang gewesen ist. Und ich glaube wahrhaftig nicht, daB 
das Christentum etwas verlieren kann, wenn es in seinen tieferen 
Elementen dargestellt wird von einem BewuBtsein, das erst aus dem 



Geist selber sich zu dem Christentum hingefunden hat. Aber wenn 
Sie diese Worte ernst nehmen, so werden Sie wie angedeutet fuhlen, 
was in mir selber lebt, wenn ich jetzt spreche von den Geheimnissen, 
die ich bezeichnen mochte als die Geheimnisse des sogenannten 
Funften Evangeliums. 



Kristiania (Oslo), 3. Oktober 1913 
Dritter Vortrag 



Wenn ich gestern davon gesprochen habe, daB diejenigen Personlich- 
keiten, die man gewohnlich die Apostel des Christus Jesus nennt, 
eine gewisse Auferweckuhg erlebt haben in dem Augenblick, der im 
sogenannten Pfingstfest seinen Ausgangspunkt hat, so ist damit durch- 
aus nicht etwa behauptet, daB dasjenige, wovon ich zu sprechen habe 
als von dem Inhalt des sogenannten Fiinften Evangeliums, gleich 
dazumal so, wie ich es jetzt erzahle, im BewuBtsein, im vollen BewuBt- 
sein dieser Apostel gewesen sei. Allerdings, wenn sich das hellsichtige 
BewuBtsein in die Seelen dieser Apostel vertieft, dann erkennt es jene 
Bilder in diesen Seelen. Aber in den Ap ostein selber lebte das dazumal 
schon weniger als Bild, sondern es lebte, nun, wenn ich sagen darf 
als Leben, als unmittelbares Erleben, als Gefiihl und Macht der Seele. 
Und dasjenige, was die Apostel dann haben sprechen konnen, wodurch 
sie sogar die Griechen in der damaligen Zeit hingerissen haben, wo- 
durch sie den AnstoB gegeben haben zu dem, was wir die christliche 
Entwickelung nennen, dasjenige, was sie so als Macht der Seele, als 
Macht des Gemiites in sich trugen, das erbluhte aus dem, was in ihrer 
Seele lebte als lebendige Kraft des Fiinften Evangeliums. Sie konnten 
so reden, wie sie redeten, sie konnten so wirken, wie sie wirkten, weil 
sie die Dinge, die wir jetzt als Fiinftes Evangelium entziffern, lebendig 
in ihrer Seele trugen, auch wenn sie die Dinge nicht so in Worten er- 
zahlten, wie man jetzt dieses Funfte Evangelium erzahlen muB. Denn sie 
hatten ja empfangen, wie durch eine Auferweckung, die Befruchtung 
durch die allwaltende kosmische Liebe, und unter dem Eindruck dieser 
Befruchtung wirkten sie nun weiter. Was in ihnen wirkte, war dasjenige, 
wozu der Christus geworden ist nach dem Mysterium von Golgatha. 
Und hier stehen wir an einem Punkte, wo wir im Sinne des Fiinften 
Evangeliums iiber das Erdenleben des Christus sprechen miissen. 

Es ist fur heutige BegrirTe, fur BegrifFe der Gegenwart, nicht ganz 
leicht, das in Worte zu fassen, um was es sich dabei handelt. Aber wir 



konnen uns mit mancherlei Begriffen und Ideen, die wir schon ge- 
wonnen haben durch unsere geisteswissenschaftlichen Betrachtungen, 
diesem groBten Erdengeheimnisse nahern. Wenn man das Christus- 
Wesen verstehen will, dann muB man manche Begriffe, die wir 
schon haben durch unsere geisteswissenschaftlichen Auseinander- 
setzungen, in etwas veranderter Form auf die Christus-Wesenheit an- 
wenden. 

Gehen wir einmal, um zu einiger Klarheit zu kommen, aus von 
demjenigen, was man gewohnlich nennt die Johannestaufe im Jordan. 
Sie stellt sich im Fiinften Evangelium dar in bezug auf das Erden- 
leben des Christus wie etwas, was gleich ist wie eine Empfangnis bei 
einem Erdenmenschen. Das Leben des Christus von da ab bis zu dem 
Mysterium von Golgatha verstehen wir, wenn wir es vergleichen mit 
demjenigen Leben, das der Menschenkeim im Leibe der Mutter durch- 
macht. Es ist also gewissermaBen ein Keimesleben der Christus- 
Wesenheit, das diese Wesenheit durchmacht von der Johannestaufe 
bis zum Mysterium von Golgatha. Das Mysterium von Golgatha 
selber mussen wir verstehen als die irdische Geburt, also den Tod 
des Jesus als die irdische Geburt des Christus. Und sein eigentliches 
Erdenleben mussen wir suchen nach dem Mysterium von Golgatha, da 
der Christus seinen Umgang gehabt hat, wie ich gestern angedeutet 
habe, mit den Aposteln, als diese Apostel in einer Art von anderem 
BewuBtseinszustand waren. Das war dasjenige, was der eigentlichen 
Geburt der Christus-Wesenheit folgte. Und was beschrieben wird als 
die Himmelfahrt und die darauf folgende AusgieBung des Geistes, das 
mussen wir bei der Christus-Wesenheit auffassen als dasjenige, was 
wir beim menschlichen Tode als das Eingehen in die geistigen Wel- 
ten anzusehen gewohnt sind. Und das Weiterleben des Christus in 
der Erdensphare seit der Himmelfahrt oder seit dem Pfingstereignis 
mussen wir vergleichen mit dem, was die Menschenseele durchlebt, 
wenn sie im sogenannten Devachan, im Geisterlande ist. 

Wir sehen also, meine lieben Freunde, daB wir in der Christus- 
Wesenheit eine solche Wesenheit vor uns haben, gegeniiber welcher 
wir alle Begriffe, die wir sonst uns angeeignet haben iiber die Auf- 
einanderfolge der Zustande des menschlichen Lebens, vollstandig ver- 



andern miissen. Der Mensch geht nach der kurzen Zwischenzeit, die 
man gewohnlich nennt Lauterungszeit, Kamalokazeit, in die geistige 
Welt uber, um sich vorzubereiten zum nachsten Erdenleben. Der 
Mensch durchlebt also nach seinem Tode ein geistiges Leben. Vom 
Pfingstereignisse an erlebte die Christus-Wesenheit dasjenige, was fur 
sie dasselbe bedeutete, wie fiir den Menschen der Dbergang ins Gei- 
sterland: das Aufgehen in die Erdensphare. Und anstatt in ein De- 
vachan, anstatt in ein geistiges Gebiet zu kommen, wie der Mensch 
nach dem Tode, brachte die Christus-Wesenheit das Opfer, ihren 
Himmel gleichsam auf der Erde aufzuschlagen, auf der Erde zu suchen, 
Der Mensch verlaBt die Erde, um, wenn wir mit den gebrauchlichen 
Ausdriicken sprechen, seinen Wohnplatz mit dem Himmel zu ver- 
tauschen. Der Christus verlieB den Himmel, um diesen seinen Wohn- 
platz mit der Erde zu vertauschen. Das bitte ich Sie im rechten Lichte 
sich anzuschauen und daran zu kmipfen dann die Empfindung, das 
Gefuhl, was geschehen ist durch das Mysterium von Golgatha, was 
geschehen ist durch die Christus-Wesenheit, worin das eigentliche 
Opfer der Christus-Wesenheit bestanden hat, namlich im Verlassen der 
geistigen Spharen, um mit der Erde und mit den Menschen auf der 
Erde zu leben, und die Menschen, die Evolution auf der Erde durch 
den ihr so gegebenen Impuls weiterzufuhren. Das besagt schon, daG 
vor der Johannestaufe im Jordan diese Wesenheit nicht der Erden- 
sphare angehorte. Sie ist also hereingewandert aus den iiberirdischen 
Spharen in die Erdensphare. Und dasjenige, was erlebt wurde zwischen 
der Johannestaufe und dem Pfingstereignis, das muJBte erlebt werden, 
um umzuwandeln die himmlische Wesenheit des Christus in die ir- 
dische Wesenheit des Christus. 

Es ist unendlich viel gesagt, wenn dieses Geheimnis hier aus- 
gesprochen wird mit den Worten: Seit dem Pfingstereignis ist die 
Christus-Wesenheit bei den menschlichen Seelen auf der Erde; vorher 
war sie nicht bei den menschlichen Seelen auf der Erde. Das, was 
die Christus-Wesenheit durchgemacht hat zwischen der Johannestaufe 
und dem Pfingstereignis, ist geschehen, damit der Wohnsitz eines 
Gottes in der geistigen Welt vertauscht werden konnte mit dem Wohn- 
sitz in der irdischen Sphare. Das ist geschehen, damit diese gottlich- 



geistige Christus-Wesenheit die Gestalt annehmen konnte, welche not- 
wendig war fur sie, um mit den menschlichen Seelen fortan Gemein- 
schaft zu haben. Warum sind also die Ereignisse von Palastina voll- 
zogen worden? Damit die gottlich-geistige Wesenheit des Christus die 
Gestalt annehmen konnte, die sie brauchte, um mit den menschlichen 
Seelen auf der Erde Gemeinschaft zu haben. 

Es ist damit zugleich darauf hingewiesen, daB dieses Ereignis von 
Palastina ein einzigartiges ist, worauf ich ja schon ofter aufmerksam 
gemacht habe : es ist das Herabsteigen einer hoheren, nicht irdischen 
Wesenheit in die Erdensphare und das Zusammenbleiben dieser nicht 
irdischen Wesenheit mit der Erdensphare, bis unter ihrem EinfluB die 
Erdensphare die entsprechende Umgestaltung erfahren haben wird. 
Seit jener Zeit ist also die Christus-Wesenheit auf der Erde wirksam. 

Wollen wir nun das Pflngstereignis im Sinne des Fiinften Evange- 
liums vollstandig verstehen, so miissen wir die BegrifTe zu Hilfe neh- 
men, die wir in der Geisteswissenschaft ausgearbeitet haben. Aufmerk- 
sam gemacht worden ist darauf, daB es in den alten Zeiten Mysterien- 
einweihungen gegeben hat, daB die Menschenseele durch diese Ein- 
weihung heraufgehoben worden ist zur Teilnahme am spirituellen 
Leben. Am anschaulichsten wird dieses vorchristliche Mysterien- 
wesen, wenn man ins Auge faBt die sogenannten persischen oder 
Mithrasmysterien. Da gab es sieben Stufen der Einweihung. Da wurde 
derjenige, der heraufgefiihrt werden sollte in die hoheren Grade des 
geistigen Erlebens, zuerst zu dem gefiihrt, was man symbolisch einen 
«Raben» nannte. Dann wurde er ein «Okkulter», ein «Verborgener». 
Im dritten Grade wurde er ein «Streiter», im vierten ein «L6we», im 
fiinften iibertrug man ihm den Namen desjenigen Volkes, dem er 
angehorte. Im sechsten Grade wurde er ein «Sonnenheld», im sie- 
benten Grade ein «Vater». Fur die vier ersten Grade geniigt es heute, 
wenn wir sagen, daB der Mensch allmahlich immer tiefer und tiefer 
in das geistige Erleben hineingefiihrt wurde. Im fiinften Grade er- 
langte der Mensch die Fahigkeit, ein erweitertes BewuBtsein zu haben, 
so daB dieses erweiterte BewuBtsein ihm die Fahigkeit gab, ein gei- 
stiger Behiiter des ganzen Volkes zu werden, dem er angehorte. Des- 
halb iibertrug man ihm auch den Namen des betreifenden Volkes. 



Wenn jemand in diesen alten Mysterien in den fiinften Grad ein- 
geweiht war, dann hatte er eine bestimmte Art der Teilnahme an 
dem geistigen Leben. 

Wir wissen gerade aus einem Vortragszyklus, den ich hier gehalten 
habe, daB die Erdenvolker gefiihrt werden von dem, was wir in den 
Hierarchien der geistigen Wesenheiten die Archangeloi oder Erzengel 
nennen. In diese Sphare wurde hinaufgehoben der in den fiinften Grad 
Eingeweihte, so daB er teilnahm an dem Leben der Erzengel. Man 
brauchte solche Eingeweihte in den fiinften Grad, man brauchte sie 
im Kosmos. Daher gab es auf Erden eine Einweihung in diesen 
fiinften Grad. Wenn solch eine Personlichkeit in die Mysterien ein- 
geweiht wurde und alle die inneren Seelenerlebnisse durchmachte, 
den Seeleninhalt bekam, der dem fiinften Grade entsprach, dann 
blickte gleichsam der Erzengel des betreffenden Volkes, dem diese 
Personlichkeit angehorte, hinab auf diese Seele und las in dieser Seele, 
wie wir in einem Buche lesen, das uns gewisse Dinge mitteilt, die 
wir wissen mtissen, damit wir diese oder jene Tat vollbringen konnen. 
Was einem Volke notwendig war, was ein Volk brauchte, das lasen 
die Archangeloi in den Seelen derjenigen, die in den fiinften Grad 
eingeweiht worden waren. Man muB, damit die Archangeloi in der 
richtigen Weise fiihren konnen, auf der Erde Eingeweihte des fiinften 
Grades schafFen. Diese Eingeweihten sind die Vermittler zwischen den 
eigentlichen Volksfiihrern, den Archangeloi, und dem Volke selber. 
Sie tragen gleichsam hinauf in die Sphare der Archangeloi dasjenige, 
was dort gebraucht wird, damit das Volk in der richtigen Weise ge- 
fiihrt werden kann. 

W T ie konnte nun dieser fiinfte Grad erlangt werden in alten vor- 
christlichen Zeiten? Nicht konnte er erlangt werden, wenn die Seele 
des Menschen im Leibe blieb. Die Seele des Menschen muBte aus dem 
Leibe herausgehoben werden. Die Einweihung bestand gerade darin, 
daB die Seele des Menschen aus dem Leibe herausgeholt worden ist. 
Und auBerhalb des Leibes machte dann die Seele durch, was ihr den 
Inhalt gab, den ich soeben beschrieben habe. Die Seele muBte ver- 
lassen die Erde, muBte in die geistige Welt hinaufsteigen, urn das- 
jenige zu erreichen, was sie erreichen sollte. 



Wenn nun der sechste Grad der alten Einweihung erreicht wurde, 
der Grad des Sonnenhelden, dann wurde in der Seele eines solchen 
Sonnenhelden dasjenige rege, was nicht nur zur Fiihrung, zur Leitung 
und Lenkung eines Volkes notwendig ist, sondern was hoher ist als 
die bloBe Lenkung und Leitung eines Volkes. Wenn Sie den BHck 
hinwenden auf die Entwickelung der ganzen Menschheit auf der Erde, 
so sehen Sie, wie Volker entstehen und wieder hinschwinden, wie 
Volker sich gleichsam verwandeln. Wie die einzelnen Menschen, so 
werden Volker geborenund sterben. Dasjenige aber, was ein Volk fur 
die Erde geleistet hat, muB fortbewahrt werden fur die ganze Ent- 
wickelung der Menschheit auf Erden. Es muB nicht nur ein Volk 
geleitet und gelenkt werden, sondern es muB dasjenige, was dieses 
Volk als irdische Arbeit leistet, weitergefuhrt werden iiber das Volk 
hinaus. Damit eine Volksleistung herausgefiihrt werden kann iiber das 
Volk hinaus von den Geistern, die hoherstehen als die Erzengel, von 
den Zeitgeistern, waren notwendig die Eingeweihten des sechsten 
Grades, die Sonnenhelden. Denn in dem, was in der Seele eines Son- 
nenhelden lebte, konnten die Wesen der hoheren Welten dasjenige 
lesen, was die Arbeit eines Volkes hiniibertrug in die Arbeit des gan- 
zen Menschengeschlechtes. So konnte man die Krafte gewinnen, die 
in der richtigen Weise die Arbeit eines Volkes henibertragen in die 
Arbeit der ganzen Menschheit. Uber die ganze Erde wurde hingetra- 
gen dasjenige, was in dem Sonnenhelden lebte. Und so wie derjenige, 
der in den fiinften Grad in den alten Mysterien eingeweiht werden 
sollte, aus seinem Leibe herausgehen muBte, um das Notwendige 
durchzumachen, so muBte derjenige, der ein Sonnenheld werden 
sollte, herausgehen aus seinem Leibe und zum Wohnplatz wahrend 
der Zeit seines Herausgegangenseins wirklich die Sonne haben. 

Das sind allerdings Dinge, die fur das heutige ZeitbewuBtsein fast 
fabelhaft klingen, ja, vielleicht als eine Torheit gelten. Aber dafiir 
gilt auch das Paulinische Wort, daB was Weisheit vor den Gottern, 
oftmals Torheit ist fur die Menschen. Der Sonnenheld lebte also fur 
diese Zeit seiner Einweihung mit dem ganzen Sonnensystem zusam- 
men. Die Sonne ist sein Wohnplatz, wie der gewohnliche Mensch 
auf der Erde als auf seinem Planeten lebt. Wie um uns Berge und 



Fliisse sind, sind fiir den Sonnenhelden wahrend seiner Einweihung 
um ihn die Planeten des Sonnensystems. Entmckt auf die Sonne 
muBte der Sonnenheld wahrend der Einweihung sein. Das konnte 
man in den alten Mysterien nur auBerhalb des Leibes erreichen. Und 
wenn man zuriickkehrte in seinen Leib, erinnerte man sich daran, was 
man aufierhalb seines Leibes erlebt hatte und konnte es verwenden als 
Wirkenskrafte fur die Evolution der ganzenMenschheit, fiir das Heil der 
ganzenMenschheit.Die Sonnenhelden verlieBen also wahrend der Ein- 
weihung ihren Leib ; hatten sie sich mit diesen Kraften erfiillt, dann tra- 
ten sie wiederum in ihren Leib zuriick. Wenn sie zuruckgekehrt waren, 
dann hatten sie die Krafte in ihrer Seele, welche die Arbeit eines Vol- 
kes herausfuhren konnten in die ganze Entwickelung der Menschheit. 

Und was erlebten diese Sonnenhelden wahrend der dreieinhalb Tage 
ihrer Einweihung? Wahrend sie - wir konnen es schon so nennen - 
wandelten nicht auf der Erde, sondern auf der Sonne, was erlebten 
sie? Die Gemeinsamkeit mit dem Christus, der vor dem Mysterium 
von Golgatha noch nicht auf der Erde war! Alle alten Sonnenhelden 
waren so in die Sonnensphare hinaufgegangen, denn nur da konnte 
man in den alten Zeiten die Gemeinsamkeit mit dem Christus erleben. 
Aus dieser Welt, in die hinaufsteigen muBten wahrend ihrer Ein- 
weihung die alten Eingeweihten, ist der Christus herabgestiegen auf 
die Erde. Wir konnen also sagen: Dasjenige, was durch die ganze 
Prozedur der Einweihung in alten Zeiten fur einzelne Wenige hat er- 
reicht werden konnen, das wurde erreicht wie durch ein natur- 
gemaBes Ereignis in den Pfingsttagen von denjenigen, welche die 
Apostel des Christus waren. Wahrend friiher die Menschenseelen 
hatten hinaufsteigen miissen zu dem Christus, war jetzt der Christus 
zu den Aposteln herabgestiegen. Und die Apostel waren in gewisser 
Weise solche Seelen geworden, die in sich trugen jenen Inhalt, den 
die alten Sonnenhelden in ihren Seelen gehabt haben. Die geistige 
Kraft der Sonne hatte sich ausgegossen uber die Seelen dieser Men- 
schen und wirkte fortan weiter in der Menschheitsevolution. Damit 
dies geschehen konnte, damit das Wirken einer ganz neuen Kraft auf 
die Erde kommen konnte, muBte das Ereignis von Palastina, muBte 
das Mysterium von Golgatha sich vollziehen. 



Aus was heraus aber ist das Erdensein des Christus erwachsen? Es 
ist erwachsen aus dem tiefsten Leiden, aus einem Leiden, das hinaus- 
geht iiber alle menschliche Vorstellungsfahigkeit vom Leiden. Um an 
dieser Stelle richtige Begriffe iiber die Sache zu bekommen, sind 
auch wieder einige Widerstande des gegenwartigen BewuBtseins hin- 
wegzuraumen. Ich muB nun einmal manche Einschaltung machen in 
die Erklarung des Funften Evangeliums. 

Vor kurzem ist ein Buch erschienen, das ich recht sehr zur Lek- 
tiire empfehlen mochte, weil es von einem sehr geistreichen Manne 
herruhrt und beweisen kann, welchen Unsinn geistreiche Menschen 
in bezug auf geistige Dinge aussprechen konnen. Ich meine das Buch 
Maurice Maeterlincks «Vom Tode». Unter mancherlei unsinnigen Din- 
gen, die darin stehen, ist auch die Behauptung, daB wenn der Mensch 
einmal gestorben sei, er nicht mehr leiden konne, da er ja dann ein 
Geist sei, keinen physischen Leib mehr habe. Ein Geist aber konne 
nicht leiden. Der Leib sei es allein, der leide. - Maeterlinck, der 
geistvolle Mann, gibt sich also der Illusion hin, daB nur das Phy- 
sische leiden konne und ein Toter deswegen nicht leiden konne. Er 
merkt gar nicht den phanomenalen, fast unglaublichen Unsinn, der 
darin liegt, zu behaupten, daB der physische Leib, der aus physischen 
Kraften und chemischen Stoffen besteht, allein leidet. Als ob Leiden 
an physische Stoffe und Krafte gebunden sei! Stoffe und Krafte 
leiden iiberhaupt nicht. Wenn diese leiden konnten, dann miiBte auch 
ein Stein leiden konnen. Der physische Leib kann nicht leiden; was 
leidet, das ist doch eben der Geist, das Seelische. Es ist heute so 
weit gekommen, daB die Menschen iiber die einfachsten Dinge das 
Gegenteil von dem denken, was Sinn hat. Es gabe kein Kamaloka- 
leiden, wenn das geistige Leben nicht leiden konnte. Weil es entbehrt, 
wirklich entbehrt den physischen Leib, gerade darin besteht das Kama- 
lokaleiden. Wer nun der Meinung ist, daB ein Geist nicht leiden 
konne, der wird auch nicht die richtige Vorstellung bekommen kon- 
nen von dem unendlichen Leiden, das der Christus-Geist durch- 
machte wahrend der Jahre in Palastina. 

Bevor ich aber von diesem Leiden spreche, muB ich Sie noch auf 
etwas anderes aufmerksam machen. Ins Auge fassen miissen wir, daB 



mit der Johannestaufe im Jordan ein Geist auf die Erde herab- 
gekommen ist, fortan drei Jahre in einem irdischen Leib gelebt und 
in diesem dann den Tod auf Golgatha durchgemacht hat, ein Geist, 
der vor der Johannestaufe im Jordan in ganz anderen als irdischen 
Verhaltnissen gelebt hat. Und was heiBt das, dieser Geist habe in 
ganz anderen als irdischen Verhaltnissen gelebt? Das heiBt, anthro- 
posophisch gesprochen, dieser Geist habe auch kein irdisches Karma 
gehabt. Was das bedeutet, bitte ich ins Auge zu fassen. Ein Geist lebte 
drei Jahre im Leibe des Jesus von Nazareth, der diese Lauf bahn auf 
der Erde durchgemacht hat, ohne ein irdisches Karma in seiner Seele 
zu haben. Damit gewinnen alle irdischen Erfahrungen und Erlebnisse, 
die der Christus durchgemacht hat, eine ganz andere Bedeutung als 
die Erfahrungen, die etwa eine Menschenseele durchmacht. Leiden 
wir, haben wir diese oder jene Erfahrung, so wissen wir, daB Leiden 
im Karma begriindet sind. Fur den Christus-Geist aber war es nicht so. 
Er hatte eine dreijahrige Erdenerfahrung durchzumachen, ohne daB 
ein Karma auf ihm lastete. Was war also das fur ihn? Leiden ohne 
karmischen Sinn, wirklich unverdientes Leiden, ein unschuldiges 
Leiden! Das Fiinfte Evangelium ist das anthroposophische Evange- 
lium und zeigt uns, daB das dreijahrige Christus-Leben das einzige 
Leben in einem menschlichen Leibe ist, das ohne Karma gelebt wurde, 
auf welches der BegrifF von Karma im menschlichen Sinne nicht an- 
wendbar ist. 

Aber die weitere Betrachtung dieses Evangeliums lehrt uns noch 
etwas anders dieses dreijahrige Leben erkennen. Dieses ganze drei- 
jahrige Leben auf der Erde, das wir betrachtet haben wie ein Embryo- 
nalleben, das erzeugte auch kein Karma, das lud auch keine Schuld 
auf sich. Es wurde also auf der Erde ein dreijahriges Leben gelebt, 
das nicht durch Karma bedingt war und auch kein Karma erzeugte. 
Man muJB alle diese BegrifFe und Ideen, die man damit empfangt, nur 
im ganz tiefen Sinne aufnehmen und man wird mancherlei gewinnen 
fur ein richtiges Verstandnis dieses auBerordentlichen Ereignisses von 
Palastina, das sonst wirklich in mancher Hinsicht unerklarlich bleibt. 
Vieles muB man zusammentragen zu seinem Verstandnis. Denn was 
alles hat es hervorgerufen an sich widersprechenden Erklarungen, 



in welcher Weise ist es miBverstanden worden! Und dennoch, wie 
hat es Impuls auf Impuls bewirkt in der Menschheitsentwickelung ! 
Man nimmt diese Dinge nur nicht immer in der richtigen tiefen 
Bedeutung. Man wird einmal iiber diese Dinge ganz anders reden, 
wenn man das in seiner ungeheuren Tiefe einsehen wird, was wir 
hier angedeutet haben, indem wir davon sprachen, daB wir hier 
ein dreijahriges Erdenleben vor uns haben, das ohne Karma gelebt 
wurde. 

Wie gedankenlos geht vielfach der Mensch an Dingen vorbei, die 
eigentlich tief bedeutsam sind. Vielleicht hat mancher von Ihnen doch 
audi etwas gehort von dem im Jahre 1863 erschienenen Buche 
«Leben Jesu» von Ernest Renan. Man liest dieses Buch, ohne auf 
das Signifikante dieses Buches recht Riicksicht zu nehmen. Vielleicht 
werden sich spater die Menschen wundern, daB unzahlige Menschen 
bis heute dieses Buch gelesen haben, ohne zu empfinden, was eigent- 
lich das Sonderbare, Merkwiirdige an diesem Buche ist. Das Merk- 
wiirdige an diesem Buche ist, daB es ein Zwischending, ein Gemisch 
ist einer erhabenen Darstellung und eines Hintertreppenromans. DaB 
diese zwei Dinge zusammengemischt werden konnen, eine schone Dar- 
stellung und eine richtige Hintertreppengeschichte, das wird man spa- 
ter einmal als hochste Absonderlichkeit ansehen. Lesen Sie mit die- 
sem BewuBtsein einmal dieses «Leben Jesu» von Ernest Renan, lesen 
Sie, was er aus dem Christus macht, der fur ihn natiirlich haupt- 
sachlich der Christus Jesus ist. Er macht einen Helden daraus, der 
erst ganz gute Absichten hat, ein groBer Wohltater der Menschheit 
ist, der aber dann gleichsam von der Volksbegeisterung mitgerissen 
wird und nachgibt immer mehr und mehr dem, was das Volk will 
und wiinscht, was es so gerne hort und so gerne gesagt bekommt. 

Im groBen Stile wendet Ernest Renan dasjenige auf den Christus 
an, was man im kleineren Stile oftmals auf uns angewendet findet. 
Denn es kommt schon vor, daB Leute, wenn sie irgend etwas sich 
ausbreiten sehen, wie zum Beispiel die Theosophie, dann an dem 
Lehrer die folgende Kritik liben: Anfangs hatte er ganz gute Absich- 
ten, dann kamen die bosen Anhanger, die ihm schmeichelten und ihn 
verdarben. Da verfiel er in den Fehler, das zu sagen, was die Zuhorer 



gerne horen mochten. - So behandelt Renan das Christus-Leben. Er 
entblodet sich nicht, die Auferweckung des Lazarus wie eine Art 
Betrug darzustellen, den Christus Jesus hat geschehen lassen, damit 
ein gutes Agkationsmittel da sei! Er entblodet sich nicht, Christus 
Jesus in eine Arte Rage, eine Leidenschaft hineinzufiihren und immer 
mehr und mehr dem Volksinstinkt verfallen zu lassen! Dadurch ist 
ein Hintertreppenromanhaftes hineingemischt in die erhabenen Dar- 
stellungen, die auch in diesem Buche enthalten sind. Und das Eigen- 
tumliche ist, daB eigentlich ein etwas gesundes Empfinden - ja, ich 
will nur wenig sagen - zuruckgeschreckt werden miiBte, wenn es 
geschildert bekommt eine Wesenheit, die anfangs die besten Absichten 
hat, schlieBlich aber den Volksinstinkten verfallt und allerlei Schwin- 
deleien geschehen laBt. Renan aber fuhlt sich gar nicht abgeschreckt 
davon, sondern hat schone Worte, hinreiBende Worte fur diese Per- 
sonlichkeit. Kurios, nicht wahr! Aber es ist ein Beispiel dafiir, wie 
groB die Hinneigung der menschlichen Seelen zu dem Christus ist, 
ganz unabhangig davon, ob sie Verstandnis hat fur den Christus oder 
nicht, wenn sie auch nichts von dem Christus verstehen. Es kann so 
weit gehen, daB ein solcher Mensch das Leben Christi zu einem 
Hintertreppenroman macht und dennoch nicht bewundernde Worte 
genug findet, um die Menschen hinzulenken auf diese Personlichkeit. 
Solche Dinge sind nur mbglich gegemiber einer solchen Wesenheit, 
die in die Erdenentwickelung so eintritt wie die Christus- Wesenheit. 
Oh, es ware viel Karma geschaffen worden in dem dreijahrigen 
Leben Christi auf der Erde, wenn Christus so gelebt hatte, wie 
Renan es schildert. Das aber wird man erkennen in kiinftigen Tagen, 
daB eine solche Schilderung einfach zerbrechen muB, weil man erken- 
nen wird, daB das Christus-Leben kein Karma mit sich brachte und 
auch keines geschaffen hat. Das ist die Verkiindigung des Fiinften 
Evangeliums. 

Es war also das Ereignis am Jordan, das wir als die Johannestaufe 
bezeichnen, etwas das man vergleichen kann einer Empfangnis beim 
Erdenmenschen. Das Fiinfte Evangelium sagt uns, daB die Worte, so 
wie sie im Lukas-Evangelium stehen, eine richtige Wiedergabe sind 
dessen, was dazumal hatte gehort werden konnen, wenn ein entwik- 



keltes, hellsichtiges BewuBtsein zugehort hatte dem kosmischen Aus- 
druck dieses Geheimnisses, das sich da vollzog. Die Worte, die vom 
Himmel herabtonten, lauteten wirklich: «Dieser ist mein vielgeliebter 
Sohn, heute habe ich ihn gezeuget.» Das sind die Worte des Lukas- 
Evangeliums, und das ist auch die richtige Wiedergabe dessen, was 
damals geschehen ist: die Zeugung, die Empfangnis des Christus in 
die Erdenwesenheit. Das vollzog sich im Jordan. 

Wollen wir vorlaufig einmal davon absehen, au£ welche irdische 
Personlichkeit sich herabgesenkt hat dieser Geist des Christus in der 
Johannestaufe. Wir wollen in den nachsten Tagen davon sprechen. 
Halten wir uns heute zunachst nur daran, daB ein Jesus von Nazareth 
gekommen war, der den Leib gegeben hat der Christus- Wesenheit. 
Nun sagt uns das Funfte Evangelium - und das ist, was wir lesen kon- 
nen durch den ruckgewendeten hellsichtigen Blick -, daB sich nicht 
vollig mit dem Leibe des Jesus von Nazareth verbunden hatte, daB 
die Christus- Wesenheit vom ersten Augenblick an ihres irdischen 
Wandels zuerst nur eine lose Verbindung hatte mit dem Leibe des 
Jesus von Nazareth. Die Verbindung war nicht so, wie beim gewohn- 
lichen Menschen die Verbindung des LeibHchen und der Seele ist, so 
daB diese vollstandig im Leibe wohnt, sondern so, daB jederzeit, zum 
Beispiel wenn es notig war, die Christus-Wesenheit den Leib des Jesus 
von Nazareth wiederum verlassen konnte. Und wahrend der Leib des 
Jesus von Nazareth irgendwo war wie schlafend, machte die Christus- 
Wesenheit gcistig den Weg da- oder dorthin, wo es eben gerade notig 
war. 

Das Funfte Evangelium zeigt uns, daB nicht immer, wenn die 
Christus-Wesenheit den Aposteln erschienen war, auch der Leib des 
Jesus von Nazareth dabei war, sondern daB oftmals die Sache so sich 
vollzogen hat, daB der Leib des Jesus von Nazareth irgendwo ge- 
blieben war und nur der Geist, eben der Christus-Geist, den Apo- 
steln erschienen war. Aber er war darm so erschienen, daB sie die 
geistige Erscheinung verwechseln konnten mit dem Leibe des Jesus 
von Nazareth. Sie merkten wohl einen Unterschied, aber der Unter- 
schied war zu gering, als daB sie ihn immer deutlich bemerkt hatten. 
In den vier Evangelien tritt das nicht so sehr hervor; das Funfte 



Evangelium sagt es uns klar. Die Apostel konnten nicht immer deut- 
lich unterscheiden: Jetzt haben wir den Christus im Leibe des Jesus 
von Nazareth vor uns, oder jetzt haben wir den Christus als geistige 
Wesenheit allein. Der Unterschied war nicht immer klar, sie wuBten 
nicht immer, ob das eine oder das andere der Fall war. Sie hielten 
diese Erscheinung - sie dachten eben nicht viel dariiber nach - zu- 
meist fur den Christus Jesus, das heiBt fur den Christus-Geist, inso- 
fern sie ihn als solchen erkannten in dem Leibe des Jesus von Naza- 
reth. Aber was sich nach und nach vollzog im dreijahrigen Erden- 
leben, das war, daB gewissermaBen in den drei Jahren der Geist sich 
an den Leib des Jesus von Nazareth immer enger und enger band, 
daB die Christus- Wesenheit immer ahnlicher und ahnlicher wurde als 
atherische Wesenheit dem physischen Leibe des Jesus von Nazareth. 

Bemerken Sie, wie hier wieder anderes eintrat in bezug auf die 
Christus- Wesenheit als beim Leibe des gewohnlichen Menschen. Wenn 
wir dieses verstehen wollen, sagen wir richtig: Der gewohnliche 
Mensch ist ein Mikrokosmos gegemiber dem Makrokosmos, ein 
kleines Abbild des ganzen Makrokosmos, denn dasjenige, was sich 
im physischen Leibe des Menschen ausdriickt, was der Mensch auf 
Erden wird, das spiegelt den groBen Kosmos ab. Das Umgekehrte 
ist bei der Christus- Wesenheit der Fall. Die makrokosmische Sonnen- 
wesenheit formt sich nach der Gestalt des menschlichen Mikrokos- 
mos, drangt sich und engt sich, preBt sich immer mehr und mehr 
zusammen, so daB sie immer ahnlicher wird dem menschlichen 
Mikrokosmos. Gerade das Umgekehrte als beim gewohnlichen Men- 
schen ist da der Fall. 

Im Anfang des Erdenlebens des Christus, gleich nach der Taufe im 
Jordan, war die Verbindung mit dem Leibe des Jesus von Nazareth 
noch die am meisten lose. Noch ganz auBer dem Leibe des Jesus von 
Nazareth war die Christus- Wesenheit. Da war dasjenige, was beim 
Herumwandeln auf Erden die Christus-Wesenheit wirkte, noch etwas 
ganz Uberirdisches. Sie vollzog Heilungen, die mit keiner Menschen- 
kraft zu vollziehen sind. Sie sprach mit einer Eindringlichkeit zu 
den Menschen, die eine gottliche Eindringlichkeit war. Die Christus- 
Wesenheit, wie nur sich selber fesselnd an den Leib des Jesus von 



Nazareth, wirkte als iiberirdische Christus-Wesenheit. Aber immer 
mehr und mehr machte sie sich ahnlich dem Leibe des Jesus von 
Nazareth, preBte sich, zog sich immer mehr und mehr zusammen in 
irdische Verhaltnisse hinein und machte das mit, daB immer mehr die 
gottliche Kraft hinschwand. Das alles machte die Christus-Wesenheit 
durch, indem sie sich dem Leibe des Jesus von Nazareth anahnlichte, 
eine Entwickelung, die in gewisser Beziehung eine absteigende Ent- 
wickelung war. Die Christus-Wesenheit muBte fiihlen, wie Macht und 
Kraft des Gottes immer mehr und mehr entwich im Ahnlichwerden 
dem Leibe des Jesus von Nazareth. Aus dem Gotte wurde nach und 
nach ein Mensch. 

Wie jemand, der unter unendlichen Qualen immer mehr und mehr 
seinen Leib dahinschwinden sieht, so sah schwinden ihren gottlichen 
Inhalt die Christus-Wesenheit, indem sie immer ahnlicher wurde als 
atherische Wesenheit dem irdischen Leibe des Jesus von Nazareth, 
bis sie diesem so ahnlich geworden war, daB sie Angst fiihlen konnte 
wie ein Mensch. Das ist dasjenige, was auch die anderen Evangelien 
schildern beim Herausgehen des Christus Jesus mit seinen Jiingern 
auf den Olberg, wo die Christus-Wesenheit in dem Leibe des Jesus 
von Nazareth den AngstschweiB auf der Stirn hatte. Das war die 
Vermenschlichung, das immer Menschlicher-und-menschlicher-Wer- 
den des Christus, die Anahnlichung an den Leib des Jesus von 
Nazareth. In demselben MaBe, in dem diese atherische Christus- 
Wesenheit immer ahnlicher wurde dem Leibe des Jesus von Naza- 
reth, in demselben MaBe wurde der Christus Mensch. Es schwanden 
ihm die geistigen Wunderkrafte des Gottes dahin. Und da sehen wir 
den ganzen Passionsweg des Christus-Wesens, der begann von jenem 
Zeitpunkte an, wie er bald nach der Johannestaufe im Jordan kam, 
wo er die Kranken heilte und die Damonen austrieb durch seine 
gottlichen Krafte, wo die staunenden Menschen, die das gesehen 
hatten, was der Christus vermochte, sagten: Das habe noch nie ein 
Wesen auf Erden vollbracht. - Das war die Zeit, in der die Christus- 
Wesenheit noch wenig ahnlich war dem Leibe des Jesus von Naza- 
reth. Von diesem staunenden Aufsehen der ringsherum befindlichen 
Bewunderer vollzieht sich in drei Jahren der Weg bis dahin, wo die 



Christus-Wesenheit so ahnlich geworden ist dem Leibe des Jesus von 
Nazareth, daB sie in diesem siechen Leibe des Jesus von Nazareth, 
dem sie sich angeahnelt hatte, nicht mehr antworten konnte auf die 
Fragen des Pilatus, des Herodes und des Kaiphas. So ahnlich war 
sie geworden dem Leibe des Jesus von Nazareth, dem immer schwa- 
cher und schwacher werdenden, immer siecher und siecher werdenden 
Leibe, daft auf die Frage: Hast du gesagt, daB du den Tempel ab- 
brechen und in drei Tagen wieder aufbauen werdest? - aus dem 
morschen Leibe des Jesus von Nazareth die Christus-Wesenheit nicht 
mehr sprach und stumm blieb vor dem Hohenpriester der Juden, 
daB sie stumm blieb vor Pilatus, der fragte : Hast du gesagt, du warest 
der Konig der Juden? - Das war der Passions weg von der Taufe 
im Jordan bis zur Machtlosigkeit. Und bald darauf stand die stau- 
nende Menge, die vorher die uberirdischen Wunderkrafte der Chri- 
stus-Wesenheit angestaunt hatte, nicht mehr bewundernd um ihn, son- 
dern stand vor dem Kreuze, spottend uber die Ohnmacht des Gottes, 
der Mensch geworden war, mit den Worten: Bist du ein Gott, so 
steige herab. Du hast anderen geholfen, jetzt hilf dir selber! - Von 
der gottlichen Machtfulle bis zur Machtlosigkeit, das war der Pas- 
sions weg des Gottes. Ein Weg unendlichen Leidens fur den Mensch 
gewordenen Gott, zu dem hinzukam jenes Leid iiber die Mensch- 
heit, die sich so weit gebracht hatte, wie sie eben war zur Zeit des 
Mysteriums von Golgatha. Und das war zu der Zeit der hohen in- 
tellektuellen Entwickelung der Menschheit, wie es gestern angedeutet 
wurde. 

Dieses Schmerz-Erleiden aber gebar jenen Geist, der beim Pfingst- 
feste ausgegossen worden ist auf die Apostek Aus diesen Schmerzen 
herausgeboren ist die allwaltende kosmische Liebe, die herabgestiegen 
ist bei der Taufe im Jordan aus den auBerirdischen, himmlischen 
Spharen in die irdische Sphare hinein, die ahnlich geworden ist dem 
Menschen, ahnlich einem menschlichen Leibe, und die durchmachte 
das unendliche Leiden, das sich kein Menschendenken ausdenken 
kann, die durchmachte den Augenblick der hochsten, gottlichen Ohn- 
macht, um jenen Impuls zu gebaren, den wir dann als den Christus- 
Impuls in der weiteren Evolution der Menschheit kennen. 



Das sind die Dinge, die wir ins Auge fassen miissen, wenn wir 
den tiefen Sinn verstehen wollen, die ganze Bedeutung des Christus- 
Impulses, wie sie wird verstanden sein miissen in die Zukunft der 
Menschheit hinein, was die Menschenzukunft brauchen wird, urn auf 
ihrem Kultur-, auf ihrem Entwkkelungspfade weiterzukommen. 



Kristiania (Oslo), 5. Oktober 1913 
Vierter Vortrag 



Eine Art Beruhigung, wenn ich iiberhaupt darangehe, von demjenigen 
zu sprechen, wovon als zum Fiinften Evangelium gehdrig heute ge- 
sprochen werden soli, gibt gewissermaBen der SchluB des Johannes- 
Evangeliums. Wir erinnern uns dieses Schlusses, wo da stent, daB ja 
in den Evangelien keineswegs aufgezeichnet sind alle Ereignisse, die 
geschehen sind urn den Christus Jesus herum. Denn hatte man damals, 
so steht es da, alles aufzeichnen wollen, so hatte die Welt nicht genug 
Biicher aufweisen konnen, urn alles das zu fassen. So also wird das 
eine nicht bezweifelt werden konnen: daB auBer dem, was auf- 
gezeichnet worden ist in den vier Evangelien, noch mancherlei anderes 
geschehen sein kann. Urn mich verstandlich zu machen in bezug auf 
alles dasjenige, was ich gerade in diesem Vortragszyklus aus dem 
Fiinften Evangelium geben will, mochte ich heute beginnen mit 
Erzahlungen aus dem Leben des Jesus von Nazareth, und zwar un- 
gefahr von jenem Zeitpunkte an, auf den wir ja schon hingewiesen 
haben bei anderen Anlassen, wo kleine Teile aus dem Fiinften 
Evangelium schon mitgeteilt worden sind. 

Ungefahr von dem zwolften Jahre an des Jesus von Nazareth 
mochte ich heute einiges erzahlen. Es war, wie Sie wissen, dasjenige 
Jahr, in dem das Ich des Zarathustra, das verkorpert war in dem 
einen der beiden Jesusknaben, die in der damaligen Zeit geboren 
sind und dessen Herkunft Matthaus beschreibt, hiniibergegangen ist 
durch einen mystischen Akt in den anderen Jesusknaben, in jenen 
Jesusknaben, der insbesondere im Anfang des Lukas-Evangeliums 
geschildert wird. So daB wir also beginnen mit unserer Erzahlung 
von demjenigen Jahre im Leben des Jesus von Nazareth, in dem 
aufgenommen hatte dieser Jesus des Lukas-Evangeliums das Ich des 
Zarathustra. Wir wissen, daB angedeutet wird im Evangelium dieser 
Augenblick im Leben des Jesus von Nazareth durch die Erzahlung, 
daB verlorengegangen war auf einer Reise nach Jerusalem zum Feste 



der Jesusknabe des Lukas-Evangeliums und, als er wieder gefunden 
wurde, es sich zeigte, daB er itn Tempel zu Jerusalem mitten unter 
den Schriftgelehrten saB und bei diesen und den Eltern Staunen 
hervorrief durch die gewaltigen Antworten, die er gab. Wir wissen 
jedoch, diese bedeutsamen, gewaltigen Antworten kamen daher, daB 
das Ich des Zarathustra wirklich jetzt bei diesem Knaben auftauchte 
und aus der tiefen Oberfulle der Erinnerung seine Weisheit aus dieser 
Seele heraus wirkte, so daB der Jesus von Nazareth dazumal jene alle 
iiberraschenden Antworten geben konnte. Wir wissen auch, daB die 
beiden Familien durch den Tod der nathanischen Mutter einerseits 
und des salomonischen Vaters anderseits zusammengekommen sind 
und fortan eine Familie gebildet haben, und daB der mit dem Ich des 
Zarathustra befruchtete Jesusknabe in der gemeinsam gewordenen 
Familie heranwuchs. 

Es war aber nun - so laBt es sich erkennen aus dem Inhalt des 
Funften Evangeliums - ein ganz sonderbares, merkwiirdiges Heran- 
wachsen in den nachsten Jahren. Zuerst hatte ja die nachste Umge- 
bung des jungen Jesus von Nazareth eine groBe, gewaltige Meinung 
bekommen von ihm, eben durch jenes Ereignis im Tempel, durch 
jene gewaltigen Antworten, die er den Schriftgelehrten gegeben hatte. 
Die nachste Umgebung sah sozusagen den kommenden Schriftgelehr- 
ten selber in ihm, sie sah heranwachsen in ihm denjenigen, der 
eine ganz hohe, besondere Stufe der Schriftgelehrsamkeit erreichen 
werde. Mit groBen, ungeheueren Hoffnungen trug sich die Umgebung 
des Jesus von Nazareth. Man fing sozusagen an, jedes Wort von ihm 
aufzufangen. Dabei aber wurde er, trotzdem man formlich danach 
jagte, jedes Wort aufzufangen, nach und nach immer schweigsamer 
und schweigsamer. Er wurde so schweigsam, daB es seiner Umgebung 
im hochsten Grade oftmals unsympathisch war. Er aber kampfte in 
seinem Inneren, kampfte einen gewaltigen Kampf, einen Kampf, der 
ungefahr in dieser seiner Innerlichkeit hineinfiel zwischen das zwolfte 
und achtzehnte Jahr seines Lebens. Es war wirklich etwas in seiner 
Seele wie ein Aufgehen innerlich liegender Weisheitsschatze, etwas, 
wie wenn aufgeleuchtet hatte in der Form der jiidischen Gelehrsam- 
keit die Sonne des einstigen Zarathustra-Weisheitslichtes. 



Zunachst auBerte sich das so, als ob dieser Knabe in der feinsten 
Weise alles, was die zahlreichen Schriftgelehrten, die in das Haus 
kamen, sprachen, mit groBter Aufmerksamkeit aufnehmen sollte und 
wie durch eine ganz besondere Geistesgabe uberall Antwort zu geben 
wiiBte. So iiberraschte er auch noch anfangs zu Hause in Nazareth 
diejenigen, die als Schriftgelehrte da erschienen und ihn wie ein 
Wunderkind anstaunten. Dann aber wurde er immer schweigsamer 
und schweigsamer und horte nur noch schweigend dem zu, was die 
anderen sprachen. Dabei gingen ihm aber immer groBe Ideen, Sitten- 
spriiche, namentlich bedeutsame, moralische Impulse in jenen Jahren 
in der eigenen Seele auf. Wahrend er so schweigsam zuhorte, machte 
doch einen gewissen Eindruck, was er von den im Hause sich ver- 
sammelnden Schriftgelehrten horte, aber einen Eindruck, der ihm oft- 
mals in der Seele Bitterkeit verursachte, weil er das Gefiihl hatte - 
wohlgemerkt schon in jenen jungen Jahren -, daB vieles Unsichere, 
leicht zum Irrtum Neigende stecken miisse in dem, was da jene Schrift- 
gelehrten sprachen von den alten Traditionen, von den alten Schriften, 
die in dem Alten Testamente vereinigt sind. Ganz besonders aber 
bedriickte es in einer gewissen Weise seine Seele, wenn er horte, daB 
in alten Zeiten der Geist iiber die Propheten gekommen sei, daB Gott 
selber inspirierend gesprochen hatte zu den alten Propheten, und daB 
jetzt die Inspiration von dem nachgeborenen Geschlechte gewichen 
sei. Besonders aber bei einem horchte er immer tief auf, weil er fiihlte, 
daB dies, wovon die Rede war, bei ihm selber kommen wurde. Es 
sagten jene Schriftgelehrten oftmals: Ja, jener hohe Geist, jener ge- 
waltige Geist, der zum Beispiel iiber den Elias gekommen ist, der 
spricht nicht mehr; aber wer doch noch immer spricht - was auch 
noch mancher von den Schriftgelehrten zu vernehmen glaubte als 
Inspiration aus den geistigen Hohen -, was doch noch immer spricht, 
das ist eine schwachere Stimme zwar, aber eine Stimme, die manche 
doch noch zu vernehmen glauben als etwas, was der Geist Jahves 
selber gibt. - Die Bath-Kol nannte man jene eigentumliche, inspirie- 
rende Stimme, zwar eine schwachere Stimme der Eingebung, eine 
Stimme minderer Art als der Geist, der die alten Propheten inspi- 
rierte, aber doch noch etwas Ahnliches stellte diese Stimme dar. So 



sprach mancher in der Umgebung des Jesus von der Bath-Kol. Von 
dieser Bath-Kol wird uns in spateren judischen Schriften manches er- 
zahlt. 

Ich schiebe nun etwas ein in dieses Fiinfte Evangelium, was nicht 
eigentlich dazugehort, was nur zur Erklarung der Bath-Kol fuhren 
soli. Es war in etwas spaterer Zeit, nach der Entstehung des Christen- 
tums, ein Streit ausgebrochen zwischen zwei Rabbinatschulen. Denn 
es behauptete der beriihmte Rabbi Elieser ben Hirkano eine Lehre und 
fuhrte zum Beweise dieser Lehre an - das erzahlt auch der Talmud 
daB er Wunder wirken konne. Der Rabbi Elieser ben Hirkano lieB 
einen Karobbaum aus der Erde sich erheben - so erzahlt der Talmud - 
und hundert Ellen weiter sich an einem anderen Orte wieder ein- 
pflanzen, er lieB einen FluB riickwarts laufen, und als drittes berief 
er sich auf die Stimme vom Himmel, als OfTenbarung, die er von Bath- 
Kol selber erhalte. Aber in der gegnerischen Rabbinatschule des Rabbi 
Josua glaubte man diese Lehre trotzdem nicht, und Rabbi Josua er- 
widerte: Mag auch Rabbi Elieser zur Bekraftigung seiner Lehre 
Karobbaume von einem Orte zum anderen sich verpflanzen lassen, 
mag er auch Flusse nach aufwarts flieBen lassen, mag er sich selbst 
berufen auf die groBe Bath-Kol - es steht geschrieben im Gesetz, 
daB die ewigen Gesetze des Daseins gelegt sein miissen in der Men- 
schen Mund und in der Menschen Herz. Und wenn uns uberzeugen 
will von seiner Lehre der Rabbi Elieser, so darf er sich nicht berufen 
auf die Bath-Kol, sondern er muB uns uberzeugen von dem, was des 
Menschen Herz fassen kann. - Ich erzahle diese Geschichte aus dem 
Talmud, weil wir sehen, daB die Bath-Kol bald nach der Einfuhrung 
des Christentums in gewissen Rabbinerschulen nur noch von einem 
geringeren Ansehen war. Aber sie hat in einer gewissen Weise 
gebliiht als inspirierende Stimme unter den Rabbinern und Schrift- 
gelehrten. 

Wahrend in dem Hause des Jesus von Nazareth die dort versam- 
melten Schriftgelehrten von dieser inspirierenden Stimme der Bath- 
Kol sprachen, und der junge Jesus das alles horte, fuhlte und emp- 
fing er in sich selber die Inspiration durch die Bath-Kol. Das war 
das Merkwiirdige, daB durch die Befruchtung dieser Seele mit dem 



Ich des Zarathustra in der Tat Jesus von Nazareth fahig war, rasch 
alles aufzunehmen, was die anderen um ihn herum wuBten. Nicht 
nur, daB er den Schriftgelehrten in seinem zwolften Jahre die gewal- 
tigen Antworten hatte geben konnen, sondern er konnte auch die 
Bath-Kol in der eigenen Brust vernehmen. Aber gerade dieser Um- 
stand der Inspiration durch die Bath-Kol wirkte auf den Jesus von 
Nazareth, als er sechzehn, siebzehn Jahre alt war und er oftmals diese 
offenbarende Stimme der Bath-Kol fuhlte, so daB er in bittere, schwere 
innere Seelenkampfe dadurch gefuhrt wurde. Denn ihm offenbarte die 
Bath-Kol - und das glaubte er alles sicher zu vernehmen -, daB 
nicht mehr fern ware der Zeitpunkt, daB im Fortgang der alten Stro- 
mung des Alten Testamentes dieser Geist nicht mehr sprechen wiirde 
zu den alten judischen Lehrern, wie er friiher zu ihnen gesprochen 
habe. Und eines Tages, und das war furchtbar fur die Seele des Jesus, 
glaubte er, daB die Bath-Kol ihm offenbarte: Ich reiche jetzt nicht 
mehr hinauf zu den Hohen, wo mir wirklich der Geist offenbaren 
kann die Wahrheit iiber den Fortgang des judischen Volkes. - Das 
war ein furchtbarer Augenblick, ein furchtbarer Eindruck, den die 
Seele des jungen Jesus empfing, als die Bath-Kol ihm selber zu offen- 
baren schien, daB sie nicht Fortsetzer sein konne des alten Offen- 
barertums, daB sie sich selber sozusagen fur unfahig erklarte, Fort- 
setzer der alten Offenbarungen des Judentums zu sein. So glaubte 
Jesus von Nazareth in seinem sechzehnten, siebzehnten Jahre, daB 
ihm aller Boden unter den FuBen entzogen ware, und er hatte manche 
Tage, wo er sich sagen muBte: Alle Seelenkrafte, mit denen ich 
glaubte begnadet zu sein, sie bringen mich nur dazu, zu begreifen, 
wie in der Substanz der Evolution des Judentums kein Vermogen 
mehr besteht, heraufzureichen zu den Offenbarungen des Gottes- 
geistes. 

Versetzen wir uns einen Augenblick in seinen Geist, in die Seele 
des jungen Jesus von Nazareth, der solche Erfahrungen in seiner 
Seele machte. Es war das in derselben Zeit, in der dann der junge 
Jesus von Nazareth im sechzehnten, siebzehnten, achtzehnten Jahre, 
teilweise veranlaBt durch sein Handwerk, teilweise durch andere 
Umstande, viele Reisen machte. Auf diesen Reisen lernte er mannig- 



fache Gegenden Palastinas kennen, und auch wohl manche Orte auBer- 
halb Palastinas. Nun verbreitete sich in jener Zeit - das kann man 
ganz genau sehen, wenn man die Akasha-Chronik hellseherisch durch- 
dringt - uber die Gegenden Vorderasiens, ja sogar auch des siid- 
lichen Europas, ein asiatischer Kultus, der aus mancherlei anderen 
Kulten zusammengemischt war, der aber namentlich den Mithras- 
kultus darstellte. An vielen Orten der verschiedensten Gegenden 
waren Tempel fur den Mithrasdienst. An manchen Orten hatte er mehr 
Ahnlichkeit mit dem Attisdienst, aber im wesentlichen war es Mithras- 
dienst, Tempel, Kultusstatten waren es, in denen man uberall die 
Mithrasopfer und Attisopfer verrichtete. Es war gewissermaBen ein 
altes Heidentum, aber in einer gewissen Art durchdrungen von den 
Gebrauchen, Zeremonien des Mithras- oder Attisdienstes. Wie sehr 
sich das verbreitete auch liber die italienische Halbinsel, geht zum 
Beispiel daraus hervor, daB die Peterskirche in Rom an derselben 
Stelle stent, wo einstmals eine solche Kultstatte war. Ja, man muB 
auch das fur manche Katholiken lasterliche Wort aussprechen: Der 
Zeremoniendienst der Peterskirche und alles dessen, was sich davon 
ableitet, ist in bezug auf die auBere Form gar nicht unahnlich dem 
Kult des alten Attisdienstes, der verrichtet wurde in dem Tempel, 
der damals auf derselben Stelle stand, auf deren Statte die Peters- 
kirche steht. Und der Kultus der katholischen Kkche ist in vieler 
Beziehung nur eine Fortsetzung des alten Mithraskultus. 

Was an solchen Kultstatten vorhanden war, das lernte Jesus von 
Nazareth kennen, als er jetzt in seinem sechzehnten, siebzehnten, 
achtzehnten Jahre begann herumzuwandern. Und er setzte das noch 
sparer fort Er lernte, wenn wir so sagen diirfen, auf diese Weise 
durch auBere, physische Anschauung die Seele der Heiden kennen. 
Und es war dazumal in seiner Seele wie auf eine natiirliche Weise 
durch den gewaltigen Vorgang des Oberganges des Zarathustra-Ich 
in seine Seele dasjenige in einem hohen Grade ausgebildet, was 
andere sich nur miihsam aneignen konnten, was aber bei ihm natur- 
gemaB ausgebildet war: eine hohe hellseherische Kraft. Daher erlebte 
er, wenn er bei solchen Kulten zuschaute, etwas ganz anderes als die 
anderen Zuschauer. Manches erschutternde Ereignis hat er dort erlebt. 



Und wenn es auch fabelhaft er scheint, so muB ich doch hervorheben, 
daB, wenn an manchen heidnischen Altaren der Priester den Kult ver- 
richtete und sich Jesus von Nazareth dann mit seinen hellseherischen 
Kraften das Opfer anschaute, er sah, wie durch die Opferhandlung 
mancherlei damonische Wesen herangezogen wurden. Er machte auch 
die Entdeckung, daB manches Gotzenbild, das da angebetet wurde, 
das Abbild war nicht von guten geistigen Wesenheiten der hoheren 
Hierarchien, sondern von bosen, damonischen Machten. Ja, er machte 
weiter die Entdeckung, daB diese bosen, damonischen Machte vielfach 
iibergingen in die Glaubenden, in die Bekenner, die an solchen 
Kultushandlungen teilnahmen. Aus leicht begreif lichen Griinden sind 
diese Dinge nicht in die anderen Evangelien iibergegangen. Und es 
ist im Grunde erst im SchoBe unserer geistigen Bewegung moglich, 
iiber solche Dinge zu sprechen, weil die Menschenseele erst in unserer 
Zeit ein wirkliches Verstandnis haben kann fur jene ungeheueren, 
tiefen, gewaltigen Erlebnisse, wie sie sich schon in diesem jungen 
Jesus von Nazareth abspielten lange vor der Johannestaufe. 

Diese Wanderungen dauerten fort bis ins zwanzigste, zweiund- 
zwanzigste, vierundzwanzigste Jahr hinein. Es waren immer Bitter- 
nisse, die er in seiner Seele empfand, wenn er also das Walten sah 
der Damonen, der gleichsam von Luzifer und Ahriman hervorge- 
brachten Damonen, und sah, wie das Heidentum es in vieler Beziehung 
sogar so weit gebracht hatte, die Damonen fur Gotter hinzunehmen, 
ja sogar in den Gotzenabbildungen Bilder zu haben wilder damo- 
nischer Machte, die angezogen wurden von diesen Bildern, von die- 
sen Kultushandlungen, und in die betenden Menschen iibergingen, 
die betenden Menschen, die in gutem Glauben daran teilnahmen, 
von sich besessen machten. Es waren bittere Erfahrungen, die Jesus 
von Nazareth so machen muBte. Und diese Erfahrungen kamen zu 
einem bestimmten AbschluB etwa im vierundzwanzigsten Lebensjahre. 
Da hatte Jesus von Nazareth dasjenige Erlebnis, welches sich anschloB 
als ein neues, unendlich schweres Erlebnis an das andere von der Ent- 
tauschung durch die Bath-Kol. Ich muB, da ich ja dieses Erlebnis des 
Jesus von Nazareth auch zu erzahlen habe, sagen, daB ich heute noch 
nicht in der Lage bin anzugeben, an welchem Orte seiner Reisen sich 



dieses Ereignis zugetragen hat. Die Szene selbst in einem hohen 
Grade richtig zu entziffern war mir moglich. Allein den Ort gerade 
fur diese Szene ist mir heute nicht moglich anzugeben. Es scheint 
mir aber, daB diese Szene sich zugetragen hat bei einer Wanderung 
des Jesus von Nazareth auBerhalb Palastinas. Aber ich kann das nicht 
mit Bestimmtheit sagen, mu6 aber die Szene mitteilen. 

An einen Ort also kam Jesus von Nazareth, im vierundzwanzig- 
sten Jahre seines Lebens, wo eine heidnische Kultstatte war, an der 
einer bestimmten Gottheit geopfert wurde. Ringsherum aber war nur 
trauriges, von allerlei furchtbaren seelischen und bis ins Korperliche 
gehenden Krankheiten behaftetes Volk. Von den Priestern war die 
Kultstatte langst verlassen worden. Und Jesus horte das Volk jam- 
mern: Die Priester haben uns verlassen, die Segnungen des Opfers 
kommen nicht auf uns hernieder und wir sind aussatzig und krank, 
wir sind muhselig und beladen, weil uns die Priester verlassen haben. — 
Jesus sah mit tiefem Schmerze diese armen Menschen; es jammerte 
ihn dieses bedriickte Volk und eine unendliche Liebe zu diesen 
Bedriickten flammte in seiner Seele auf. Es muB von dieser unend- 
lichen Liebe, die auflebte in seiner Seele, das Volk ringsherum 
etwas gemerkt haben ; das muB einen tiefen Eindruck gemacht haben 
auf das jammernde Volk, welches von seinen Priestern und, wie es 
glaubte, auch von seinen Gottern verlassen worden war. Und nun 
entstand, man mochte sagen wie auf einen Schlag, in den Herzen der 
meisten dieses Volkes etwas, was darin zum Ausdruck kam, daB die 
Leute sagten, erkennend den Ausdruck der unendlichen Liebe auf dem 
Antlitz des Jesus: Du bist der neue uns gesandte Priester. - Sie 
drangten ihn zum Opferaltar hin, sie stellten ihn auf den heidnischen 
Altar. Und er stand auf dem heidnischen Altar, und sie erwarteten, 
ja sie verlangten von ihm, daB er die Opfer verrichte, damit der Segen 
ihres Gottes wieder iiber sie komme. 

Und wahrend das geschah, wahrend ihn das Volk auf den Opfer- 
altar erhob, da fiel er wie tot hin, seine Seele wurde wie entruckt, 
und das Volk, das ringsherum glaubte seinen Gott wiedergekom- 
men, sah das Furchtbare, daB derselbe, den es fur den neuen, vom 
Himmel gesandten Priester gehalten hatte, wie tot hingefallen war. 



Die entruckte Seele des Jesus von Nazareth aber, sie fuhlte sich er- 
hoben in die geistigen Reiche, sie fuhlte sich wie hineinversetzt in 
den Bereich des Sonnendaseins. Und jetzt horte sie, wie aus den 
Spharen des Sonnendaseins herausklingend, Worte, wie diese Seele sie 
friiher durch die Bath-Kol oftmals vernommen hatte. Aber jetzt war 
die Bath-Kol verwandelt, zu etwas vollig anderem geworden. Die 
Stimme kam ihm auch von ganz anderer Richtung her, und dasjenige, 
was Jesus von Nazareth jetzt vernahm, das kann man, wenn man es 
in unsere Sprache iibersetzt, zusammenfassen in die Worte, die ich 
zum ersten Male mitteilen durfte, als wir vor kurzer Zeit den Grund- 
stein legten fur unseren Dornacher Bau. 

Es gibt ja okkulte Verpflichtungen! Und einer solchen okkulten 
Verpflichtung folgend hatte ich damals mitzuteilen, was durch die 
verwandelte Stimme der Bath-Kol Jesus von Nazareth vernahm dazu- 
mal, als dies geschah, was ich jetzt eben erzahlt habe. Es vernahm 
Jesus von Nazareth die Worte : * 

Amen 

Es walten die (Jbel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wille 

Da der Mensch sich schied von Eurem Reich 

Und vergaB Euren Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Nicht anders als so kann ich in die deutsche Sprache ubersetzen 
dasjenige, was wie die verwandelte Stimme der Bath-Kol dazumal 
von Jesus von Nazareth vernommen worden ist Nicht anders als so ! 
Es waren diese Worte, welche die Seele des Jesus von Nazareth zu- 
ruckbrachte, als sie aus der Betaubung wieder erwachte, durch die sie 
sich entruckt fuhlte bei jener eben geschilderten Begebenheit. Und 



* Siehe unter Hinweise Seite 333. 



als Jesus von Nazareth wieder zu sich gekommen war, und die Augen 
rings herum richtete auf die Menge der Miihseligen und Beladenen, 
die ihn auf den Altar erhoben hatten, da war diese entflohen. Und 
als er den hellsichtigen Blick in die Feme schweifen lieB, konnte 
er ihn nur richten auf eine Schar von damonischen Gestalten, von 
damonischen Wesen, die alle mit diesen Leuten verbunden waren. 

Das war das zweite bedeutsame Ereignis, der zweite bedeutsame 
AbschluB in den verschiedenen Perioden der Seelenentwickelung, 
die Jesus von Nazareth durchgemacht hat seit seinem zwolften Jahre. 
Ja, meine Ueben Freunde, Ereignisse, die sozusagen durch ihr gemiit- 
liches Wesen die Seele nur in selige Stimmung versetzen, die waren 
es nicht, welche auf die Seele des heranwachsenden Jesus von Naza- 
reth den groBten Eindruck machten. Kennenlernen muBte diese Seele 
die Abgriinde der Menschennatur schon in so jungen Jahren, bevor 
das Ereignis vom Jordan eingetreten war. 

Und von dieser Reise kam Jesus von Nazareth nach Hause. Es 
war um jene Zeit, als der Vater, der zu Hause geblieben war, starb, 
etwa im vierundzwanzigsten Lebensjahre des Jesus von Nazareth. 
Als Jesus nach Hause kam, da hatte er in der Seele lebendig den 
gewaltigen Eindruck der damonischen Wirkungen, die sich hinein- 
gesenkt hatten in manches, was in der alten Heidenreligion lebte. 
Wie es aber immer so ist, daB man gewisse Stufen der hoheren 
Erkenntnis nur dadurch erreicht, indem man die Abgriinde des Le- 
bens kennenlernt, so war es in gewisser Weise auch bei Jesus von 
Nazareth, daB er - an einer Stelle, die ich nicht weiB - um sein 
vierundzwanzigstes Lebensjahr herum dadurch, daB er so unendlich 
tief in die menschlichen Seelen hineingeschaut, in Seelen, in die wie 
hineinkonzentriert war aller Seelenjammer der Menschheit der damali- 
gen Zeit, auch besonders vertieft worden war in der Weisheit, die 
allerdings wie gluhendes Eisen die Seele durchzieht, aber auch die 
Seele so hellsichtig macht, daB sie durchschauen kann die lichten 
Geistesweiten. Und dadurch, daB er die umgewandelte Stimme der 
Bath-Kol vernommen hatte, war er auch wie umgewandelt. So war er 
in verhaltnismaBig jungen Jahren behaftet mit dem ruhigen, ein- 
dringlichen Geistesleseblick. Jesus von Nazareth war zu einem Men- 



schen geworden, der tief in die Geheimnisse des Lebens hinein- 
schaute, der so in die Geheimnisse des Lebens schauen konnte, wie 
bisher niemand auf der Erde, weil niemand vorher so wie er be- 
trachten konnte, bis zu welchem Grade menschliches Elend sich 
steigern kann. Zuerst hatte er gesehen, wie man den Boden unter 
den FtiBen verlieren kann durch bloBe Gelehrsamkeit; dann hatte er 
erlebt, wie die alten Inspirationen verlorengingen; dann hatte er 
gesehen, wie die Kulte und Opferhandlungen, anstatt die Menschen 
in Verbindung zu bringen mit den Gottern, herbeizauberten allerlei 
damonische Wesen, die die Menschen von sich besessen machten 
und sie dadurch in seelische und korperliche Krankheiten und Elend 
aller Art hineinbrachten. GewiB hatte keiner auf der Erde all diesen 
menschlichen Jammer so tief geschaut als Jesus von Nazareth, kei- 
ner jene unendlich tiefe Empfindung in seiner Seele gehabt wie er, 
als er jenes von Damonen besessene Volk geschaut hatte. GewiB 
war keiner auf der Erde so vorbereitet auf die Frage: Wie, wie 
kann der Verbreitung dieses Jammers auf der Erde Einhalt getan 
werden? 

So war Jesus von Nazareth nicht nur ausgestattet mit dem Blick, 
mit dem Wissen des Weisen, sondern in gewisser Weise durch das 
Leben ein Eingeweihter geworden. Das lernten kennen Leute, die in 
jener Zeit zusammengetreten waren in einen gewissen Orden, der ja 
der Welt bekannt ist als der Essaerorden. Essaer waren Leute, welche 
eine Art Geheimdienst und Geheimlehre pflegten an bestimmten 
Orten Palastinas. Es war ein strenger Orden. Derjenige, der dem 
Orden beitreten wollte, muBte mindestens ein Jahr, zumeist aber 
mehrere Jahre strenge Probe durchmachen. Er muBte zeigen durch 
seine Auffiihrung, durch seine Gesittung, durch seinen Dienst gegen- 
iiber den hochsten geistigen Machten, durch seinen Sinn fur Gerech- 
tigkeit, Menschengleichheit, durch seinen Sinn des Nichtachtens 
auBerer menschlicher Guter und dergleichen, daB er wiirdig war, 
eingeweiht zu werden. Wenn er dann aufgenommen wurde in den 
Orden, dann gab es verschiedene Grade, durch die man aufstieg zu 
jenem Essaerleben, das bestimmt war, mit einer gewissen Aus- und 
Absonderung von der iibrigen Menschheit, in einer strengen kloster- 



lichen Zucht und durch gewisse Reinheitsbestrebungen, durch die 
man alles Unwurdige korperlicher und seelischer Art beseitigen 
wollte, sich der geistigen Welt zu nahern. Das driickt sich schon in 
mancherlei symbolischen Gesetzen des Essaerordens aus. Die Ent- 
zifferung der Akasha-Chronik hat gezeigt, daB der Name Essaer 
kommt von oder jedenfalls zusammenhangt mit dem judischen Wort 
«Essin» oder «Assin». Und das bedeutet so etwas wie Schaufel, 
Schaufelchen, weil die Essaer als einziges symbolisches Zeichen stets 
eine kleine Schaufel als Abzeichen trugen, was sich in manchen 
Ordensgemeinschaften bis heute erhalten hat. In gewissen symbo- 
lischen Gepflogenheiten driickte sich auch das aus, was die Essaer 
wollten: da6 sie keine Miinzen bei sich tragen durften, daB sie nicht 
durch ein Tor gehen durften, das bemalt war oder in dessen Nahe 
Bilder waren. Und weil der Essaerorden in der damaligen Zeit in 
einer gewissen Weise auch auBerlich anerkannt war, hatte man in 
Jerusalem besondere Tore, unbemalte Tore gemacht, so daB auch sie 
in die Stadt gehen konnten. Denn wenn der Essaer an ein bemaltes 
Tor kam, muBte er immer wieder umkehren. Im Orden selbst gab es 
alte Urkunden und Traditionen, iiber deren Inhalt die Mitglieder 
des Ordens streng schwiegen. Sie durften lehren, aber nur, was sie 
innerhalb des Ordens gelernt hatten. Jeder, der in den Orden eintrat, 
muBte sein Vermogen dem Orden abgeben. Die Zahl der Essaer war 
damals zur Zeit des Jesus von Nazareth eine sehr groBe, etwa vier- 
bis fiinftausend. Es waren von alien Orten der damaligen Welt Leute 
zusarnmengekommen, die sich den strengen Regeln widmeten. Sie 
schenkten jedesmal, wenn sie irgendwo weit weg, in Kleinasien oder 
noch weiter, ein Haus hatten, dasselbe dem Essaerorden, und der 
Orden bekam iiberall kleine Besitzungen, Hauser, Garten, ja weite 
Acker. Keiner wurde aufgenommen, der nicht alles schenkte, was den 
Essaern Gemeingut wurde. Alles gehorte alien, kein einzelner hatte 
Besitz. Ein fur unsere heutigen Verhaltnisse auBerordentlich stren- 
ges Gesetz, das aber begreif lich ist, war dieses, daB ein Essaer unter- 
stiitzen durfte mit dem Gute des Ordens alle bediirftigen und belaste- 
ten Leute, nur diejenigen nicht, die seiner eigenen Familie angehor- 
ten. 



In Nazareth gab es durch Schenkung eine solche Niederlassung 
des Essaerordens, und dadurch war gerade in den Gesichtskreis des 
Jesus von Nazareth dasjenige gekommen, was der Essaerorden war. 
In dem Zentrum des Ordens bekam man Kunde von der tiefen Weis- 
heit, die sich in der beschriebenen Art in die Seele des Jesus von 
Nazareth gesenkt hatte, und gerade unter den Bedeutendsten, Weise- 
sten der Essaer entstand eine gewisse Stimmung. Es hatte unter 
ihnen sich herausgebildet eine gewisse prophetische Anschauung: 
Wenn die Welt ihren richtigen Fortgang nehmen sollte, dann miisse 
eine besonders weise Seele erstehen, die wie eine Art Messias wirken 
miisse. Deshalb hatten sie Umschau gehalten, wo besonders weise 
Seelen waren. Und sie waren tief beriihrt, als sie Kunde erhielten von 
jener tiefen Weisheit, die in der Seele des Jesus von Nazareth ent- 
standen war. Daher war es kein Wunder, daB die Essaer, ohne daC 
Jesus von Nazareth die Erprobung der niederen Grade durchzuma- 
chen hatte, ihn aufnahmen wie einen Externisten in ihre Gemein- 
schaft - ich will nicht sagen in den Orden selber - und da6 in einer 
gewissen Weise zutraulich, ofFenherzig wurden selbst die weisesten 
Essaer in bezug auf ihre Geheimnisse gegeniiber diesem weisen, jun- 
gen Menschen. In der Tat horte in diesem Essaerorden der junge 
Jesus von Nazareth viel, viel Tieferes iiber die Geheimnisse, die vom 
Hebraertum bewahrt worden waren, als von den Schriftgelehrten im 
Hause seines Vaters. Manches auch horte er, was er schon selber fru- 
her durch die Bath-Kol wie durch eine Erleuchtung in seiner Seele auf- 
glanzend vernommen hatte. Kurz, es entstand ein reger Ideenaus- 
tausch zwischen Jesus von Nazareth und den Essaern. Und Jesus von 
Nazareth lernte kennen in seinem Verkehr mit den Essaern, im fiinf- 
undzwanzigsten, sechsundzwanzigsten, siebenundzwanzigsten, acht- 
undzwanzigsten Lebensjahr und noch dariiber hinaus, fast alles, was 
der Essaerorden zu geben hatte. Denn was ihm nicht durch Worte 
mitgeteilt wurde, das stellte sich ihm dar durch allerlei hellsichtige 
Impressionen. Wichtige hellsichtige Impressionen hatte Jesus von 
Nazareth entweder innerhalb der Gemeinschaft der Essaer selber oder 
einige Zeit darauf in Nazareth zu Hause, wo er in einem mehr be- 
schaulichen Leben auf sich wirken lieB, was in seine Seele sich hin- 



eindrangte axis Kraften, die ihm gekommen waren, von denen die 
Essaer nichts ahnten, die aber als Folge der mit den Essaern gefiihr- 
ten bedeutsamen Gesprache in seiner Seele erlebt wurden. 

Eines von diesen Erlebnissen, von diesen inneren Impressionen muB 
besonders hervorgehoben werden, weiles hineinleuchten kann in den 
ganzen geistigen Gang der Menschheitsentwickelung. Es war eine 
gewaltige, bedeutsame Vision, die wie in einer Art Entriickung Jesus 
von Nazareth hatte, in der ihm Buddha wie in unmittelbarer Gegen- 
wart erschien. Ja, der Buddha erschien dem Jesus von Nazareth als 
Folge des Ideenaustausches mit den Essaern. Und man kann sagen, 
daB in jener Zeit zwischen Jesus und Buddha ein Geistgesprach statt- 
gefunden hat. Es gehort zu meiner okkulten Verpflichtung, Ihnen 
den Inhalt dieses Geistgespraches mitzuteilen, denn wir durfen, ja wir 
mussen heute diese bedeutsamen Geheimnisse der Menschheitsevolu- 
tion beriihren. In diesem bedeutsamen Geistgesprach erfuhr Jesus 
von Nazareth von dem Buddha, daB dieser etwa sagte: Wenn meine 
Lehre so, wie ich sie gelehrt habe, vollig in Erfullung gehen wiirde, 
dann miiBten alle Menschen den Essaern gleich werden. Das aber kann 
nicht sein. Das war der Irrtum in meiner Lehre. Auch die Essaer kon- 
nen sich nur weiter fortbringen, indem sie sich aussondern von der 
ubrigen Menschheit; fur sie mussen iibrige Menschenseelen da sein. 
Durch die Erfullung meiner Lehre miiBten lauter Essaer entstehen. 
Das aber kann nicht sein. - Das war ein bedeutsames Erlebnis, das 
durch die Gemeinschaft mit den Essaern Jesus von Nazareth hatte. 

Ein anderes Erlebnis war dieses, daB Jesus von Nazareth die Be- 
kanntschaft machte mit einem auch noch jungeren Manne, mit einem 
fast gleichaltrigen Manne, der nahegetreten war, allerdings in einer 
ganz anderen Weise als Jesus von Nazareth, dem Essaerorden, der 
aber trotzdem auch nicht ganz Essaer geworden ist. Es war der, man 
mochte sagen, wie ein Laienbruder innerhalb der Essaergemeinschaft 
lebende Johannes der Taufer. Er trug sich wie die Essaer, denn diese 
trugen im Winter Kleider von Kamelhaar. Aber er hatte niemals die 
Lehre des Judentums vollstandig in sich auswechseln konnen mit der 
Lehre der Essaer. Da aber die Lehre der Essaer, das ganze Leben der 
Essaer auf ihn einen groBen Eindruck machte, lebte er als Laienbruder 



das Essaerleben, lieB sich anregen, lieB sich allmahlich inspirieren 
und kam nach und nach zu dem, was ja von Johannes dem Taufer in 
den Evangelien erzahlt ist. Viele Gesprache fanden statt zwischen 
Jesus von Nazareth und Johannes dem Taufer. - Da geschah es eines 
Tages - ich weiB, was es heiBt, diese Dinge so einfach zu erzahlen, 
aber nichts kann mich abhalten; ich weiB trotzdem, daB diese Dinge 
jener okkulten Verpflichtung zufolge jetzt erzahlt werden miissen 
es geschah eines Tages, daB Jesus von Nazareth, wahrend er mit 
Johannes dem Taufer sprach, wie verschwunden vor sich sah die 
physische Leiblichkeit des Taufers und die Vision des EHas hatte. Das 
war das zweite wichtige Seelenerlebnis innerhalb der Gemeinschaft 
des Essaerordens. 

Da gab es aber noch andere Erlebnisse. Schon seit langerer Zeit 
hatte Jesus von Nazareth etwas Besonderes beobachten konnen: Wenn 
er an Orte kam, wo Essaertore waren, wo bildlose Tore waren, da 
konnte Jesus von Nazareth durch solche Tore nicht schreiten, ohne 
wiederum eine bittere Erfahrung zu machen. Er sah diese bildlosen 
Tore, aber fur ihn waren geistige Bilder an die sen Toren; fur ihn 
erschien zu beiden Seiten eines solchen Tores immer dasjenige, was 
wir jetzt kennengelernt haben in den verschiedenen geisteswissen- 
schaftlichen Auseinandersetzungen unter dem Namen Ahriman und 
Luzifer. Und allmahlich hatte sich ihm das Gefuhl, der Eindruck in 
der Seele gefestigt, daB die Abneigung der Essaer gegen die Tor- 
bilder etwas zu tun haben miisse mit dem Herbeizaubern solcher 
geistiger Wesenheiten, wie er sie an diesen Toren erschaute, daB Bil- 
der an den Toren Abbilder von Luzifer und Ahriman seien. Und ofter 
hatte Jesus von Nazareth dieses bemerkt, ofter waren solche Gefuhle 
in seiner Seele aufgestiegen. 

Wer solches erlebt, der findet nicht, daB man iiber diese Dinge gleich 
viel griibeln sollte; denn diese Dinge wirken zu erschiitternd auf die 
Seele. Man fiihlt auch sehr bald, daB menschliche Gedanken nicht hin- 
reichen, um sie tief genug zu ergriinden. Die Gedanken halt man 
dann nicht fur fahig, an diese Dinge heranzudringen. Aber die Ein- 
driicke graben sich nicht nur tief in die Seele ein, sondern werden zu 
einem Teil des Seelenlebens selber. Man fiihlt sich wie verbunden mit 



dem Teil seiner Seele, in dem man solche Erlebnisse gesammelt hat, 
wie vetbunden mit den Erlebnissen selber, man tragt diese Erlebnisse 
weiter durchs Leben. 

So hatte Jesus von Nazareth durchs Leben getragen die beiden Bil- 
der von Luzifer und Ahriman, die er oftmals gesehen hatte an den 
Toren der Essaer. Es hatte zunachst nichts anderes bewirkt, als da6 
ihm bewuBt wurde, daB ein Geheimnis walte zwischen diesen geisti- 
gen Wesenheiten und den Essaern. Und die Wirkung, die das auf seine 
Seele ausiibte, trug sich hinein in die Verstandigung mit den Essaern; 
man konnte sich seit diesen Erlebnissen in der Seele des Jesus von 
Nazareth nicht mehr so gut gegenseitig verstehen. Denn es lebte in 
seiner Seele etwas, von dem er nicht sprechen konnte gegeniiber den 
Essaern, weil sich jedesmal etwas wie in der Rede verschlug, denn 
immer stellte sich dazwischen, was er an den Essaertoren erlebt hatte. 

Eines Tages, als nach einer besonders wichtigen, bedeutsamen 
Unterredung, in der vieles Hochste, Geistige zur Sprache gekom- 
men war, Jesus von Nazareth das Tor des Hauptgebaudes der Essaer 
verlieB, da traf er, indem er durch das Tor ging, auf die Gestalten, 
von denen er wuBte, daB sie Luzifer und Ahriman waren. Und er sah 
fliehen Luzifer und Ahriman von dem Tore des Essaer klosters. Und es 
senkte sich in seine Seele eine Frage. Aber nicht als ob er selber, nicht 
als ob er durch den Verstand friige, sondern mit tiefer elementarer 
Gewalt drangte sich herauf in seine Seele die Frage: Wohin fliehen 
diese, wohin fliehen Luzifer und Ahriman? - Denn er wuBte, die Hei- 
Hgkeit des Klosters der Essaer hatte sie zum Fliehen gebracht. Aber 
die Frage lebte sich in seine Seele ein: Wohin fliehen diese? - Und 
diese Frage brachte er nicht mehr los aus seiner Seele, diese Frage 
brannte wie Feuer in seiner Seele; mit dieser Frage ging er stiind- 
lich, ja minutlich sie erlebend in den nachsten Wochen umher. Als er 
nach dem geistigen Gesprach, das er gefiihrt hatte, die Tore des Haupt- 
gebaudes der Essaer verlassen hatte, da brannte in seiner Seele die 
Frage: Wohin fliehen Luzifer und Ahriman? 

Was er unter dem Eindruck dieser in seiner Seele lebenden Frage 
weiter tat, nachdem er durchlebt hatte, daB die alten Inspirationen 
verlorengegangen waren, die Religionen und Kulte von damonischen 



Gewalten verdorben waren und als er hingefallen war an dem Altare 
des Heidenkultus, die umgewandelte Stimme der Bath-Kol vernom- 
men hatte, und sich fragen muBte, was die Worte der Bath-Kol zu 
bedeuten haben, und was das eben von mir Erzahlte zu bedeuten 
hatte, daB die Seele des Jesus von Nazareth sich jetzt fragte; Wohin 
Jfliehen Luzifer und Ahriman? ~ davon wollen wir morgen weiter 
sprechen. 



Kristiania (Oslo), 6. Oktober 1913 
Fiinfter Vortrag 



Gestern haben wir einen Blick werfen konnen auf das Leben des Jesus 
von Nazareth in der Zeit, die fur ihn verflossen war ungefahr seit 
seinem zwolften Lebensjahre bis etwa zum Ende seiner Zwanziger- 
jahre. Aus demjenigen, was ich erzahlen durfte, konnten Sie gewiB die 
Empfindung haben, daB Tief bedeutsames fur die Seele des Jesus von 
Nazareth sich abgespielt hat in dieser Zeit, Tief bedeutsames aber auch 
fur die ganze Evolution der Menschheit. Denn Sie werden ja gewiB 
aus der Grundempfindung, die Sie sich durch ihre geisteswissen- 
schaftlichen Studien haben bilden konnen, wissen, daB alles in der 
Menschheitsevolution zusarnmenhangt, und daB ein so bedeutsames 
Ereignis mit einem Menschen, in dessen Seelenleben so viel, so un- 
endlich viel von den Angelegenheiten der ganzen Menschheit hinein- 
spielt, eben auch von Bedeutung fiir die ganze Menschheitsevolution 
ist. Wir lernen dasjenige, was das Ereignis von Golgatha geworden 
ist fiir die Evolution der Menschheit, in der verschiedensten Weise 
kennen. In diesem Vortragszyklus handelt es sich darum, es erkennen 
zu lernen durch die Betrachtung des Christus Jesus-Lebens selber. 
Und so wenden wir den Blick, den wir gestern auf den charakteri- 
sierten Zeitraum gerichtet haben, der zwischen dem zwolften Jahre 
und der Johannestaufe liegt, heute noch einmal auf die Seele des Jesus 
von Nazareth hin und fragen uns : Was mag alles in dieser Seele gelebt 
haben, nachdem die bedeutsamen Ereignisse sich abgespielt hatten bis 
in das achtundzwanzigste, neunundzwanzigste Jahr hinein, von denen 
ich gestern gesprochen habe. 

Was in dieser Seele lebte, man wird vielleicht eine Empfindung, 
ein Gefiihl davon erhalten, wenn erzahlt werden darf eine Szene, die 
sich am Ende seiner Zwanzigerjahre bei Jesus von Nazareth abspielte. 
Diese Szene, die ich da zu erzahlen habe, betrifft ein Gesprach, das 
Jesus von Nazareth gefiihrt hat mit seiner Mutter, mit derjenigen also, 
die durch das Zusammenziehen der beiden Familien durch lange Jahre 



hindurch seine Mutter geworden war. Er hatte sich ja die ganzen Jahre 
her mit dieser Mutter ganz innig und vorziiglich verstanden, viel bes- 
ser, als er sich verstehen konnte mit den anderen Gliedern der Familie, 
die im Hause zu Nazareth lebten, das heiBt, er hatte sich schon gut 
mit ihnen verstanden, aber sie konnten sich nicht gut mit ihm verste- 
hen. Es war ja auch schon friiher zwischen ihm und seiner Mutter 
mancherlei von den Eindriicken, die sich allmahlich in seiner Seele 
gebildet hatten, besprochen worden. Aber in dem genannten Zeitraum 
spielte sich einmal ein recht bedeutsames Gesprach ab, das wir heute 
betrachten werden, das uns tief hineinblicken laBt in seine Seele. 

Es war der Jesus von Nazareth nach und nach durch die gestern 
charakterisierten Eriebnisse allerdings umgewandelt worden, so daB 
unendliche Weisheit sich in seinem Antlitz auspragte. Aber er war 
auch, wie das ja immer, wenn auch in geringerem Grade der Fall ist, 
wenn die Weisheit in einer Menschenseele zunimmt, zu einer gewis- 
sen inneren Traurigkeit gekommen. Die Weisheit hatte ihm zunachst 
die Frucht gebracht, daB der Blick, den er wenden konnte in seine 
menschliche Umgebung, ihn eigentlich recht traurig machte. Dazu 
kam noch, daB er in den letzten Zwanzigerjahren immer mehr in 
stillen Stunden an etwas ganz Bestimmtes hatte denken miissen: 
Immer wieder von neuem muBte er daran denken, wie in seinem 
zwolften Jahre ein solcher Umschwung, eine solche Revolution in 
seiner Seele stattgefunden hatte, wie sich das ergab durch das Heriiber- 
treten des Zarathustra-Ich in seine Seele. Er muBte daran denken, wie 
er in den ersten Zeiten nach seinem zwolften Jahre gewissermaBen nur 
den unendlichen Reichtum dieser Zarathustra-Seele in sich gefuhlt 
hatte. Er wuBte ja am Ende der Zwanziger jahre noch nicht, daB er der 
wiederverkorperte Zarathustra war; aber er wuBte, daB ein groBer, 
gewaltiger Umschwung in seiner Seele in seinem zwolften Jahre vor 
sich gegangen war. Und jetzt hatte er oftmals das Gefuhl: Ach, wie 
war es doch anders mit mir vor diesem Umschwung in meinem zwolf- 
ten Jahre ! - Er fiihlte, wenn er jetzt zuriickdachte an diese Zeit, wie 
unendlich warm es dazumal in seinem Gemiit war. Er war ja als Knabe 
ganz weltentriickt gewesen. Da hatte er zwar gehabt die lebhafteste 
Empfindung fur alles, was aus der Natur heraus zum Menschen 



spricht, fur alle Herrlichkeit und GroBe der Natur, aber er hatte wenig 
Anlage fur dasjenige, was menschliche Weisheit, menschlkhes Wissen 
sich angeeignet hatte. Er interessierte sich wenig fur das, was man 
schulmaBig lernen konnte! Es ware ein volliger Irrtum, wenn man 
glauben wiirde, daB dieser Jesusknabe, bevor der Zarathustra in seine 
Seele heriibergezogen war, bis in sein zwolftes Jahr hinein etwa im 
auBeren Sinne eine besondere Begabung gehabt hatte, daB er beson- 
ders gescheit gewesen ware. Dagegen hatte er besessen ein ungemein 
mildes, sanftmiitiges Wesen, eine unendliche Liebefahigkeit, ein tiefes 
inneres Gemiitsleben, ein umfassendes Verstandnis fur alles Mensch- 
liche, aber kein Interesse fur alles dasjenige, was die Menschen an 
Wissen im Laufe der Jahrhunderte sich aufgespeichert haben. Und 
dann war es so, wie wenn nach diesem Moment im Tempel zu 
Jerusalem in seinem zwolften Jahre dies alles aus seiner Seele heraus- 
gesturmt und dafur alle Weisheit hineingestromt ware! Und jetzt 
muBte er oftmals denken und empfinden, wie so in ganz anderer 
Weise er mit allem tieferen Geiste der Welt friiher vor seinem zwolf- 
ten Jahre verbunden war, als ob da seine Seele offen gewesen ware fur 
die Tiefen der unendlichen Weiten! Und wie er seitdem gelebt hatte 
seit seinem zwolften Jahre, wie er da seine Seele geeignet fand fur 
eine Art Aufnahme der hebraischen Gelehrsamkeit, die aber ganz ur- 
sprunglich wie aus sich heraus kam, wie er durchgemacht hatte die 
Erschiitterung, daB die Bath-Kol nicht mehr in der alten Weise inspi- 
rierend wirken konnte; wie er dann auf seinen Reisen kennenlernte 
die heidnischen Kulte, wie ihm all das Wissen und die Religiositat 
des Heidentums in seinen verschiedenen Nuancierungen durch die 
Seele gezogen war. Er dachte daran, wie er da zwischen seinem 
achtzehnten und vierundzwanzigsten Jahre gelebt hatte in alledem, 
was die Menschheit sich auBerlich errungen hatte, und wie er dann 
eingetreten war in die Gemeinschaft der Essaer ungefahr um das vier- 
undzwanzigste Jahr und dort eine Geheimlehre kennengelernt hatte 
und Menschen, die einer solchen Geheimlehre sich hingaben. Daran 
muBte er oftmals denken. Aber er wuBte auch, daB im Grunde genom- 
men nur dasjenige in seiner Seele aufgegangen war, was seit dem 
Altertum her Menschen an Wissen in sich aufgespeichert hatten; er 



lebte in dem, was Menschenschatze an Weisheit, Menschenschatze 
an Kultur, Menschenschatze an moralischen Errungenschaften dar- 
boten. Er fuhlte, in dem Menschlichen auf Erden hatte er gelebt seit 
seinem zwolften Jahre. Und jetzt muBte er oftmals zurtickdenken, wie 
er war vor diesem zwolften Jahre, wo er gleichsam sich mit den 
gottlichen Urgriinden des Daseins verbunden fuhlte, wo alles in ihm 
elementar und ursprunglich war, wo alles aus einem aufsprudelnden 
Leben, aus einem warmen, liebenden Gemiite kam und ihn innig zu- 
sammenschloB mit anderen Menschenseelen, wahrend er jetzt verein- 
samt und allein und schweigsam geworden war. 

Alle diese Gefiihle waren es, die zustande brachten, daB ein ganz 
bestimmtes Gesprach stattgefunden hat zwischen ihm und der Person- 
lichkeit, die ihm Mutter geworden war. Die Mutter liebte ihn unge- 
heuer, und sie hatte ofters mit ihm gesprochen iiber all das Schone und 
GroBe, das sich seit seinem zwolften Jahre in ihm gezeigt hatte. Ein 
immer intimeres, edleres, schoneres Verhaltnis hatte sich herausgebil- 
det zu dieser Stiefmutter. Aber seinen inneren Zwiespalt hatte er bis- 
her auch dieser Mutter verschwiegen, so daB sie nur das Schone und 
GroBe gesehen hatte. Sie hatte nur gesehen, wie er immer weiser und 
weiser wurde, wie er immer tiefer eindrang in die ganze Menschheits- 
evolution. Deshalb war von demjenigen, was wie eine Art General- 
beichte mit diesem Gesprach stattfand, vieles neu fur sie, aber sie nahm 
es auf mit innigem, warmem Herzen. Es war in ihr wie ein unmittel- 
bares Verstehen fur seine Traurigkeit, seine Gefuhlsstimmung, des- 
sen, daB er sich zuriicksehnte zu dem, was er in sich hatte vor seinem 
zwolften Jahre. Deshalb suchte sie ihn zu erheben und zu trosten, in- 
dent sie anfing zu sprechen von allem, was seitdem in ihm so schon 
und herrlich zutage getreten sei. Sie erinnerte ihn an all das, was ihr 
durch ihn bekanntgeworden war von der Wiedererneuerung der gro- 
Ben Lehren, Weisheitsspriiche und Gesetzesschatze des Judentums. 
Was alles durch ihn zutage getreten ist, davon sprach sie mit ihm. Es 
wurde ihm aber nur immer schwerer urns Herz, wenn er so die Mut- 
ter sprechen horte, so schatzend das, was er innerlich doch eigentlich 
als iiberwunden fuhlte. Und endlich erwiderte er: Ja, das mag alles 
sein. Aber ob durch mich oder durch einen anderen heute erneuert 



werden konnen all die alten, herrlichen Weisheitsschatze des Juden- 
tums, was hatte das alles fur eine Bedeutung fur die Menschheit? Es 
ist im Grunde doch alles bedeutungslos, was in soldier Art zutage 
tritt. Ja, wenn es heute eine Menschheit gabe um uns herum, die Ohrejn 
hatte, den alten Propheten noch zuzuhoren, dann ware es fur diese 
Menschheit nutzlich, wenn erneuert werden konnten die Weisheits- 
schatze des alten Prophetentums. Aber selbst wenn jemand so spre- 
chen konnte, wie die alten Propheten gesprochen haben, selbst wenn 
Elias heute kame - so sagte Jesus von Nazareth - und unserer 
Menschheit verkunden wollte dasjenige, was er als Bestes erfahren hat 
in den Himmelsweiten: es sind ja nicht die Menschen da, die Ohren 
hatten zu horen die Weisheit des Elias, der alteren Propheten, auch 
des Moses, ja bis Abraham hinauf. Alles was diese Propheten ver- 
kundeten, ware heute zu kiinden unmoglich. Ihre Worte wiirden un- 
gehort im Winde verhallen ! Und so ist ja alles, was ich in meiner Seele 
halte, wertlos. 

So sprach Jesus von Nazareth und er wies darauf hin, wie vor kur- 
zem erst eines wahrhaft groBen Lehrers Worte im Grunde genommen 
verklungen seien, ohne eine groBe Wirkung zu hinterlassen. Denn, so 
sagte er, war das auch kein Lehrer, der heranreichte an die alten 
Propheten, so war er doch ein groBer, bedeutsamer Lehrer, der gute 
alte Hillel. Jesus wuBte genau, was dieser alte Hillel, der selbst in den 
so schweren Zeiten des Herodes als Geisteslehrer ein groBes Anse- 
hen zu gewinnen wuBte, fiir viele bedeutet hatte innerhalb des Juden- 
tums. Er war ein Mann, der groBe Weisheitsschatze in seiner Seele 
gehabt hatte. Und Jesus wuBte, wie wenig die innigen Worte, die der 
alte Hillel gesprochen hatte, Eingang gefunden hatten in die Herzen 
und Seelen. Dennoch hatte man von dem alten Hillel gesagt: die 
Thora, die Summe der altesten, bedeutsamsten Gesetze des Juden- 
tums, ist verschwunden und Hillel hat sie wiederum hergestellt. - Wie 
ein Erneuerer der urspriinglichen Judenweisheit erschien Hillel fiir 
diejenigen seiner Zeitgenossen, die ihn verstanden. Er war ein Lehrer, 
der auch herumwandelte wie ein wahrer Weisheitslehrer, Sanftmut war 
sein Grundcharakter, eine Art Messias war er. Das alles erzahlt selbst 
der Talmud, und es laBt sich nachpriifen durch auBere Gelehrsam- 



keit. Die Leute waren des Lobes voll iiber Hillel und erzahlten viel 
Gutes von ihm. Ich kann nur einzelnes herausgreifen, urn hinzudeu- 
ten auf die Art, wie Jesus von Nazareth von Hillel zu seiner Mutter 
sprach, um seine Seelenstimmung anzudeuten. 

Hillel wird als ein sanfter, milder Charakter geschildert, der Unge- 
heueres durch Milde und Liebe wirkte. Eine Erzahlung hat sich erhal- 
ten, die besonders bedeutsam ist, um zu zeigen, wie Hillel der Mann 
der Geduld und Sanftmut war, der jedem entgegenkam. Zwei Men- 
schen wetteten einstmals um die Moglichkeit, Hillel zum Zorn zu 
reizen, denn bekannt war, daft Hillel iiberhaupt nicht in Zorn geraten 
konne. Da wetteten nun zwei Manner, von denen der eine sagte : Ich 
will alles tun, um Hillel dennoch in Zorn zu bringen. - Er wollte 
dann seine Wette gewonnen haben. Als fur Hillel die Zeit gerade am 
allerbesetztesten war, als er am meisten zu tun hatte mit der Vorbe- 
reitung fur den Sabbat, wo ein solcher Mann am wenigsten gestort 
werden kann, da klopfte jener Mann, der die Wette eingegangen war, 
an die Tiire Hillels und sagte nicht etwa in einem hof lichen Ton oder 
mit irgendeiner Anrede - und Hillel war der Vorsitzende der obersten 
geistlichen Behorde, der gewohnt war, hoflich angeredet zu wer- 
den -, sondern der Mann rief bloB: Hillel, komm heraus, komm 
schnell heraus I - Hillel warf sich seinen Mantel um und kam heraus. 
Der Mann sagte in scharfem Tone, wiederum ohne die geringste 
Hoflichkeit: Hillel, ich habe dich etwas zu fragen. - Und giitig ant- 
wortete Hillel: Mein Lieber, was hast du denn zu fragen? - Ich habe 
dich zu fragen, warum die Babylonier so diinne Kopfe haben? - Da 
sagte Hillel mit dem sanftesten Tone : Nun, mein Lieber, die Babylo- 
nier haben so diinne Kopfe, weil sie so ungeschickte Hebammen 
haben. - Da ging der Mann fort und dachte, diesmal war Hillel sanft- 
miitig geblieben. Hillel setzte sich wiederum an seine Arbeit. Nach 
ein paar Minuten kam der Mann zuriick und rief wiederum barsch 
Hillel mitten aus seiner Arbeit heraus: Hillel, komm heraus, ich 
habe dich etwas Wichtiges zu fragen ! - Hillel warf sich wieder seinen 
Mantel um, kam heraus und sprach: Nun, mein Lieber, was hast du 
wieder zu fragen? - Ich habe dich zu fragen, warum die Araber so 
kleine Augen haben? - Sanftmiitig sagte Hillel: Weil die Wiiste so 



groB ist, das macht die Augen klein, die Augen werden klein beim 
Betrachten der groBen Wiiste, deshalb haben die Araber so kleine 
Augen. - Wieder war Hillel sanftmutig geblieben. Da war der Mann 
recht angstlich um seine Wette, und er kam wiederum und rief zum 
dritten Male in barschem Tone: Hillel, komm heraus, ich habe dich 
etwas Wichtiges zu fragen! - Hillel legte seinen Mantel um, kam 
heraus und fragte mit immer gleicher Sanftmut: Nun, mein Lieber, 
was hast du mich nun zu fragen? - Ich habe dich zu fragen, warum 
haben die Agypter so platte FuBe? - Weil die Gegenden da so sump- 
fig sind, deshalb haben die Agypter so platte FuBe. - Und ruhig und 
gelassen ging Hillel wieder an seine Arbeit. Nach ein paar Minuten 
kam der Mann wieder und erzahlte Hillel, er wolle ihn jetzt nichts fra- 
gen; er habe eine Wette gemacht, daB er ihn in Zorn bringen wolle, 
aber er wiiBte nicht, wie er ihn in Zorn bringen konnte. Da sagte 
Hillel sanftmutig: Mein Lieber, es ist besser, daB du deine Wette 
verlierst, als daB Hillel in Zorn gerate ! 

Diese Legende wird erzahlt zum Beweis dafiir, wie sanftmutig und 
lieb Hillel selbst mit jedem war, der ihn qualte. Solch ein Mann ist - 
so meinte Jesus von Nazareth zu seiner Mutter -, in vieler Beziehung 
etwas wie ein alter Prophet. Und kennen wir nicht viele Ausspruche 
Hillels, die wie eine Erneuerung des alten Prophetentums klingen? 
Manche schone Ausspruche Hillels fiihrte er an und dann sagte er: 
Siehe, liebe Mutter, von Hillel wird gesagt, daB er wie ein wieder- 
erstandener alter Prophet ist. Ich habe noch ein besonderes Interesse 
an ihm, denn merkwiirdig dammert etwas auf in mir, als wenn noch 
ein besonderer Zusammenhang da sei zwischen Hillel und mir; mir 
dammert etwas auf, wie wenn dasjenige, was ich weiB und was in mir 
lebt als groBe Offenbarung des Geistigen, nicht allein vom Judentum 
kommen wiirde. - Und ebenso war es ja auch bei Hillel; denn dieser 
war ja der auBeren Geburt nach ein Babylonier und war erst sparer 
in das Judentum hineingekommen. Aber auch er stammte aus dem 
Geschlechte Davids, war aus uralten Zeiten verwandt mit dem Davids- 
geschlechte, von dem sich Jesus von Nazareth und die Seinigen selber 
auch herzuleiten hatten. Und Jesus sagte : Wenn ich auch so wie Hil- 
lel als Sohn aus dem Geschlechte Davids aussprechen wollte die hohen 



Offenbarungen, die wie eine Erleuchtung in meine Seele hineingegos- 
sen sind und die dieselben hohen Offenbarungen sind, die in alten 
Zeiten dem jiidischen Volke gegeben waren, heute sind die Ohren 
nicht da, sie zu horen! 

Tief hatten sich in seiner Seele abgeladen Schmerz und Leid dar- 
iiber, daB ja einstmals dem hebraischen Volke die groBten Wahrheiten 
der Welt gegeben waren, daB einstmals auch die Leiber dieses Volkes 
so waren, daB sie verstehen konnten diese Offenbarungen, daB aber 
jetzt die Zeiten anders geworden waren, daB auch die Leiber des 
hebraischen Volkes anders geworden waren, so daB sie nicht mehr 
verstehen konnten die alten Offenbarungen der Urvater. 

Ein ungeheuer einschneidendes, schmerzlichstes Erlebnis war das 
fur Jesus, daB er sich sagen muBte: Einstmals ist verstanden wor- 
den, was die Propheten lehrten, verstanden worden ist votn hebra- 
ischen Volke die Sprache des Gottes, heute aber ist niemand da, der 
sie versteht; tauben Ohren wxirde man predigen. Solche Worte sind 
heute nicht mehr am Platze; es sind nicht mehr die Ohren da, sie zu 
verstehen! Wertlos und nutzlos ist alles, was man in solcher Weise 
sagen konnte. - Und wie zusammenfassend das, was er in dieser Rich- 
tung zu sagen hatte, sprach Jesus von Nazareth zu seiner Mutter: Es ist 
nicht mehr fur diese Erde moglich die Offenbarung des alten Juden- 
tums, denn die alten Juden sind nicht mehr da, um sie aufzuneh- 
men. Das muB als etwas Wertloses auf unserer Erde angesehen wer- 
den. 

Und merkwiirdigerweise horte ihm die Mutter ruhig zu, wie er 
sprach von der Wertlosigkeit dessen, was ihr das Heiligste war. Aber 
sie hatte ihn innig lieb und fiihlte nur ihre unendliche Liebe. Daher 
ging etwas uber in sie von tiefem Gefiihlsverstandnis dessen, was er 
ihr zu sagen hatte. Und dann setzte er das Gesprach fort und kam 
darauf, von dem zu berichten, wie er gewandert war in die heid- 
nischen Kultstatten und was er dort erlebt hatte. Es dammerte herauf 
in seinem Geiste, wie er niedergefallen war am heidnischen Altar, wie 
er die veranderte Bath-Kol gehort hatte. Und da leuchtete ihm auf 
etwas wie eine Erinnerung der alten Zarathustra-Lehre. Er wuBte 
noch nicht genau, daB er die Zarathustra- Seele in sich trug, aber die 



alte Zarathustra-Lehre, die Zarathustra-Weisheit, der alte Zarathustra- 
Impuls stiegen wahrend des Gespraches in ihm auf. In Gemeinschaft 
mit seiner Mutter erlebte er diesen groBen Zarathustra-Impuls. All 
das Schone und GroBe der alten Sonnenlehre kam in seiner Seele her- 
auf. Und er erinnerte sich: Als ich am heidnischen Altar lag, da horte 
ich etwas wie eine Offenbarung! - Und jetzt kamen in seine Erinne- 
rung die Worte der umgewandelten Bath-Kol, die ich ja gestern ge- 
sprochen habe, und er sprach sie zur Mutter: 

Amen 

Es walten die tlbel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wille 

Da der Mensch sich schied von Eurem Reich 

Und vergaB Euren Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Und all die GroBe auch des Mithras dienstes lebte mit ihnen in seiner 
Seele auf und stellte sich wie durch innere Genialitat ihm dar. Viel 
sprach er mit seiner Mutter uber die GroBe und Glorie des alten Hei- 
dentums. Viel sprach er von dem, was in den alten Mysterien der 
Volker lebte, wie zusammengeflossen waren die einzelnen Mysterien- 
dienste Vorderasiens und Sudeuropas in diesem Mithrasdienst. Aber 
zugleich trug er in seiner Seele die furchtbare Empfindung : wie sich 
nach und nach dieser Dienst gewandelt hatte und gekommen war 
unter damonische Gewalten, die er selber erlebt hatte ungefahr in 
seinem vierundzwanzigsten Lebensjahre. Es kam ihm alles in den Sinn, 
was er damals erlebt hatte. Und da erschien ihm auch die alte Zara- 
thustra-Lehre wie etwas, wofur die Menschen der heutigen Zeit nicht 
mehr empfanglich sind. Und unter diesem Eindruck sprach er zu 
seiner Mutter das zweite bedeutsame Wort: Wenn auch erneuert wiir- 
den alle die alten Mysterien und Kulte, und alles das hineinflosse, was 
einstmals groB war in den Mysterien des Heidentums, es sind, dies zu 
vernehmen, die Menschen nicht mehr da! All das ist nutzlos. Und 



wiirde ich herausgehen und den Menschen dasjenige verkiinden, was 
ich als die veranderte Stimme der alten Bath-Kol gehort habe, wiirde 
ich das Geheimnis kund tun, warum die Menschen in ihrem physischen 
Leben nicht mehr in Gemeinschaft mit den Mysterien leben konnen, 
oder wiirde ich verkiindigen die alte Sonnenweisheit des Zarathustra, 
heute sind die Menschen nicht da, die dies verstehen wiirden. Heute 
wiirde sich alles das in den Menschen verkehren in damonisches We- 
sen, denn es wiirde so hineinklingen in die Menschenseelen, daB die 
Ohren nicht da sind, solches zu verstehen ! Die Menschen haben auf- 
gehort, horen zu konnen auf dasjenige, was einstmals verkiindet und 
gehort worden ist. 

Denn es wuBte jetzt Jesus von Nazareth, daB dasjenige, was er 
damals gehort hatte als die veranderte Stimme der Bath-Kol, die ihm 
zugerufen hatte die Worte: «Amen, es walten die Obel» - eine uralt 
heilige Lehre war, ein allwaltendes Gebet war iiberall in den Myste- 
rien, welches man in den Mysterienstatten gebetet hatte, daB es aber 
heute vergessen war. Er wuBte jetzt, daB das, was ihm gegeben wor- 
den war, ein Hinweis war auf alte Mysterienweisheit, die iiber ihn 
gekommen war, als er am heidnischen Altar entriickt war. Aber er sah 
zugleich und driickte es auch in jenem Gesprach aus, daB es keine 
Moglichkeit gibt, das heute wiederum zum Verstandnis zu bringen. 

Und dann fiihrte er dies Gesprach mit der Mutter weiter und 
sprach von dem, was er im Kreise der Essaer in sich aufgenommen 
hatte. Er sprach von der Schonheit, GroBe und Glorie der Essaer- 
lehre, gedachte der groBen Milde und des Sanftmutes der Essaer. Dann 
sagte er das dritte bedeutsame Wort, das ihm aufgegangen war in 
seinem visionaren Gesprach mit dem Buddha : Es konnen doch nicht 
alle Menschen Essaer werden! Wie recht hatte doch Hillel,* als er die 
Worte sprach: Sondere dich nicht von der Gesamtheit ab, sondern 
schaffe und wirke in der Gesamtheit, trage deine Liebe hin zu deinen 
Nebenmenschen, denn wenn du allein bist, was bist du dann? So ma- 
chen es aber die Essaer; sie sondern sich ab, sie ziehen sich mit ihrem 
heiligen Lebenswandel zuriick und bringen dadurch Ungliick iiber die 
anderen Menschen. Denn die Menschen mussen dadurch ungliicklich 
sein, daB sie sich von ihnen absondern. - Und dann sagte er zu der 



82 



♦Siehe Hinweis. 



Mutter das bedeutsame Wort, indem er ihr das Erlebnis erzahlte, das 
ich gestern besprochen habe: Als ich einstmals nach einem intimen, 
wichtigsten Gesprach mit den Essaern wegging, da sah ich am Haupt- 
tore, wie Luzifer und Ahriman davonliefen. Seit jener Zeit, liebe 
Mutter, weiB ich, daB die Essaer durch ihre Lebensweise, durch ihre 
Geheimlehre sich selber vor ihnen schutzen, so daB Luzifer und Ahri- 
man vor ihren Toren fliehen miissen. Aber sie schicken dadurch Luzi- 
fer und Ahriman weg von sich zu den anderen Menschen hin. Die 
Essaer werden gliicklich in ihren Seelen auf Kosten der anderen Men- 
schen; sie werden gliicklich, weil sie sich selber vor Luzifer und 
Ahriman retten! - Er wuBte jetzt durch das Leben bei den Essaern: 
Ja, eine MogHchkeit gibt es noch, hinaufzusteigen dahin, wo man 
sich vereint mit dem Gottlich-Geistigen, aber nur Einzelne konnen 
es auf Kosten der groBen Menge erreichen. Er wuBte jetzt: Weder 
auf Juden- noch auf Heidenweise noch auf Essaerweise war der all- 
gemeinen Menschheit der Zusammenhang mit der gottlich-geistigen 
Welt zu bringen. 

Dies Wort schlug furchtbar ein in die Seele der liebenden Mutter. 
Er war wahrend dieses ganzen Gespraches vereint mit ihr, wie eins 
mit ihr. Die ganze Seele, das ganze Ich des Jesus von Nazareth lag in 
diesen Worten. Und hier mochte ich ankniipfen an ein Geheimnis, 
welches stattfand vor der Johannestaufe in diesem Gesprach mit der 
Mutter: Es ging etwas weg von Jesus zu dieser Mutter hiniiber. Nicht 
nur in Worten rang sich das alles los von seiner Seele, sondern weil 
er so innig mit ihr vereint war seit seinem zwolften Jahre, ging mit 
seinen Worten sein ganzes Wesen zu ihr uber, und er wurde jetzt so, 
daB er wie auBer sich gekommen war, wie wenn ihm sein Ich weg- 
gekommen war. Die Mutter aber hatte ein neues Ich, das sich in sie 
hineinversenkt hatte, erlangt: sie war eine neue Personlichkeit gewor- 
den. Und forscht man nach, versucht man herauszubekommen, was 
da geschah, so stellt sich folgendes Merkwiirdige heraus. 

Der ganze furchtbare Schmerz, das furchtbare Leid des Jesus, das 
aus seiner Seele sich losrang, ergoB sich hinein in die Seele der Mut- 
ter und sie fuhlte sich wie eins mit ihm. Jesus aber fuhlte, als ob 
alles, was seit seinem zwolften Jahre in ihm lebte, fortgegangen 



ware wahrend dieses Gespraches. Je mehr er davon sprach, desto 
mehr wurde die Mutter voll von all der Weisheit, die in ihm lebte. 
Und alle die Erlebnisse, die seit seinem zwolften Jahre in ihm gelebt 
hatten, sie lebten jetzt auf in der Seele der liebenden Mutter! Aber 
von ihm waren sie wie hingeschwunden; er hatte gleichsam in die 
Seele, in das Herz der Mutter dasjenige hineingelegt, was er selber 
erlebt hatte seit seinem zwolften Jahre. Dadurch wandelte sich die 
Seele der Mutter um. 

Wie verwandelt war auch er seit jenem Gesprache, so verwandelt, 
daB die Briider oder Stief briider und die anderen Verwandten, die in 
seiner Umgebung waren, die Meinung bekamen, er hatte den Verstand 
verloren. Wie schade, sagten sie, er wuBte so viel; er war ja immer 
sehr schweigsam, jetzt aber ist er vollig von Sinnen gekommen, jetzt 
hat er den Verstand verloren! - Man sah ihn als einen Verlorenen an. 
Er ging in der Tat auch tagelang wie traumhaft im Hause umher. Das 
Zarathustra-Ich war eben dabei, diesen Leib des Jesus von Nazareth 
zu verlassen und in die geistige Welt uberzugehen. Und ein letzter 
EntschluB entwand sich ihm: Wie durch einen inneren Drang, wie 
durch eine innere Notwendigkeit getrieben, bewegte er sich nach 
einigen Tagen wie mechanisch aus dem Hause fort, zu dem ihm schon 
bekannten Johannes dem Taufer hin, um von ihm die Taufe zu er- 
langen. 

Und dann fand jenes Ereignis statt, das ich ofter beschrieben habe 
als die Johannes taufe im Jordan: das Christus-Wesen senkte sich hinab 
in seinen Leib. 

So waren die Vorgange. Jesus war jetzt durchdrungen von dem 
Christus-Wesen. Seit jenem Gesprache mit seiner Mutter war gewichen 
das Ich des Zarathustra und dasjenige, was vorher gewesen war, was 
er bis zum zwolften Jahre war, das war wiederum da, nur gewach- 
sen, noch groBer geworden. Und hinein in diesen Leib, der jetzt nur 
in sich trug die unendliche Tiefe des Gemiites, das Gefuhl des Offen- 
seins fur unendliche Weiten, senkte sich der Christus. Der Jesus war 
jetzt durchdrungen vom Christus ; die Mutter aber hatte auch ein neues 
Ich, das sich in sie hineinversenkt hatte, erlangt; sie war eine neue 
Personlichkeit geworden. 



Es stellt sich dem Geistesforscher folgendes dar: In demselben 
Augenblicke, als diese Taufe im Jordan geschah, fiihlte auch die Mut- 
ter etwas wie das Ende ihrer Verwandlung. Sie fuhlte - sie war da- 
mals im fiinfundvierzigsten, sechsundvierzigsten Lebensjahre -, sie 
fuhlte sich mit einem Male wie durchdrungen von der Seele jener 
Mutter, welche die Mutter des Jesusknaben war, der in seinem zwolf- 
ten Jahre das Zarathustra-Ich empfangen hatte, und die gestorben 
war. So wie der Christus-Geist auf Jesus von Nazareth herabgekom- 
men war, so war der Geist der anderen Mutter, die mittlerweile in der 
geistigen Welt weilte, herniedergekommen auf die Ziehmutter, mit 
der Jesus jenes Gesprach hatte. Sie fuhlte sich seitdem wie jene junge 
Mutter, die einstmals den Lukas- Jesusknaben geboren hatte. 

Stellen wir uns in der richtigen Weise vor, was das fur ein unend- 
lich bedeutsames Ereignis ist! Versuchen wir das zu fuhlen, aber auch 
zu fuhlen, daG jetzt ein ganz besonderes Wesen auf der Erde lebte: 
die Christus-Wesenheit in einem Menschenleibe, eine Wesenheit, die 
noch nicht in einem Menschenleibe gelebt hatte, die bisher nur war in 
geistigen Reichen, die vorher kein Erdenleben hatte, die die geistigen 
Welten kannte, nicht die Erdenwelt! Von der Erdenwelt erfuhr diese 
Wesenheit nur dasjenige, was gleichsam aufgespeichert war in den 
drei Leibern, im physischen Leib, Atherleib und Astralleib des Jesus 
von Nazareth. Sie senkte sich nieder in diese drei Leiber, wie sie 
geworden waren unter dem EinfluB des dreiBigjahrigen Lebens, das 
ich ja geschildert habe. So erlebte diese Christus-Wesenheit ganz un- 
befangen dasjenige, was sie zunachst auf Erden erlebte. 

Diese Christus-Wesenheit wurde zunachst gefiihrt - das zeigt uns 
auch die Akasha-Chronik des Funften Evangeliums - in die Einsam- 
keit. Der Jesus von Nazareth, in dessen Leib die Christus-Wesenheit 
war, hatte ja dahingegeben alles, was ihn friiher mit der iibrigen Welt 
verbunden hatte. Die Christus-Wesenheit war eben angekommen auf 
der Erde. Zunachst zog es diese Christus-Wesenheit zu dem hin, was 
durch die Eindrucke des Leibes, die wie im Gedachtnis geblieben 
waren, im Astralleibe am heftigsten sich eingegraben hatte. Gleich- 
sam sagte sich die Christus-Wesenheit: Ja, das ist der Leib, der den 
niehenden Ahriman und Luzifer erlebt hat, der gespurt hat, dafi die 



strebenden Essaer Ahriman und Luzifer zu den anderen Menschen 
hinstoBen. - Zu ihnen fiihlte der Christus sich hingezogen, zu Ahri- 
man und Luzifer, denn er sagte sich: Das sind die geistigen Wesen, 
mit denen die Menschen auf Erden zu kampfen haben. - So zog es die 
Christus- Wesenheit, die zum ersten Male in einem Menschenleibe, in 
einem Erdenleibe wohnte, zunachst hin zum Kampf mit Luzifer und 
Ahriman in der Einsamkeit der Wiiste. 

Ich glaube, da8 die Szene von der Versuchung, so wie ich sie nun 
erzahlen werde, durchaus richtig ist. Aber es ist sehr schwierig, solche 
Dinge in der Akasha-Chronik zu lesen. Deshalb bemerke ich aus- 
drucklich, daB das eine oder andere unbetrachtlich modifiziert wer- 
den konnte bei einer weiteren okkulten Untersuchung. Aber das 
Wesentliche ist da, und dieses Wesentliche habe ich Ihnen zu erzah- 
len. Die Versuchungsszene stent ja in verschiedenen Evangelien. Aber 
diese erzahlen von verschiedenen Seiten her. Das habe ich ja ofters 
hervorgehoben. Ich habe mich bemuht, diese Versuchungsszene so 
zu gewinnen, wie sie wirklich war und ich mochte unbefangen erzah- 
len, wie sie wirklich war. 

Zuerst begegnete die Christus- Wesenheit im Leibe des Jesus von 
Nazareth in der Einsamkeit Luzifer, Luzifer, wie er waltet und wirkt 
und an die Menschen versuchend herankommt, wenn sie sich selbst 
uberschatzen, wenn sie zu wenig Selbsterkenntnis und Demut haben. 
Herantreten an den falschen Stolz, den Hochmut, an die Selbstver- 
groBerung der Menschen: das will Luzifer ja immer versuchen. Jetzt 
trat Luzifer dem Christus Jesus entgegen und sagte zu ihm ungefahr 
die Worte, die ja auch in den anderen Evangelien stehen: Sieh mich 
an! Die anderen Reiche, in welche der Mensch versetzt ist, die von 
den anderen Gottern und Geistern gegriindet worden sind, die sind 
alt. Ich aber will ein neues Reich griinden; ich habe mich losgelost von 
der Weltordnung ; ich will dir alles geben, was an Schonheit und Herr- 
lichkeit in den alten Reichen ist, wenn du in mein Reich eintrittst. 
Aber abtrennen sollst du dich von den anderen Gottern und mich 
anerkennen! - Und alle Schonheit und HerrHchkeit der luziferischen 
Welt schilderte Luzifer, alles, was zur Menschenseele sprechen muBte, 
wenn sie auch nur ein wenig Hochmut in sich hatte. Aber die Chri- 



stus-Wesenheit kam eben aus den geistigen Welten; sie wuBte, wer 
Luzifer ist und wie das Verhalten der Seele zu den Gottern ist, die 
nicht auf Erden von Luzifer verfiihrt werden will. Die Christus- 
Wesenheit kannte zwar nichts von der luziferischen Verfuhrung in 
der Welt, aus der sie kam; sie wuBte aber, wie man den Gottern 
dient, und sie war so stark, um Luzifer zuriickzuweisen. 

Da machte Luzifer eine zweite Attacke, aber jetzt holte er sich 
Ahriman zu seiner Unterstiitzung heran, und sie sprachen jetzt beide 
zum Christus. Der eine wollte seinen Hochmut aufstacheln: Luzifer; 
der andere wollte zu seiner Furcht sprechen: Ahriman. Dadurch kam 
zustande, daB ihm der eine sagte : Durch meine Geistigkeit, durch das, 
was ich dir zu geben vermag, wenn du mich anerkennst, wirst du 
nicht bediirfen dessen, wessen du jetzt bedarfst, weil du als Christus in 
einen menschlichen Leib getreten bist. Dieser physische Leib unter- 
wirft dich, du muBt in ihm das Gesetz der Schwere anerkennen. Er 
hindert dich, das Gesetz der Schwere zu ubertreten, ich aber werde 
dich erheben \iber die Gesetze der Schwere. Wenn du mich anerkennst, 
werde ich die Folgen des Sturzes aufheben und es wird dir nichts 
geschehen. Stiirze dich hinunter von der Zinne! Es steht ja geschrie- 
ben: Ich will den Engeln befehlen, daB sie dich behuten, daB du 
deinen FuB nicht an einen Stein stoBest. - Ahriman, der wirken 
wollte auf seine Furcht, sprach: Ich werde dich behuten vor der 
Furcht! Stiirze dich hinunter! 

Und beide drangen auf ihn ein. Aber da sie beide auf ihn einstiirm- 
ten und sich gleichsam in ihrem Drangen die Waage hielten, konnte er 
sich vor ihnen retten. Und er fand die Kraft, die der Mensch finden 
muB auf Erden, um sich liber Luzifer und Ahriman zu erheben. 

Da sagte Ahriman: Luzifer, ich kann dich nicht brauchen, du 
hemmst mich nur, du hast meine Krafte nicht vermehrt, sondern ver- 
mindert, ich werde ihn allein versuchen. Du hast verhindert, daB diese 
Seele uns verfallt. - Da schickte Ahriman den Luzifer weg und machte 
die letzte Attacke, als er allein war, und er sagte dasjenige, was ja nach- 
klingt im Matthaus-Evangelium : Wenn du dich gottlicher Krafte riih- 
men willst, dann mache das Mineralische zu Brot, oder wie es im 
Evangelium steht: Mache die Steine zu Brot! - Da sagte die Christus- 



Wesenheit zu Ahriman: Die Menschen leben nicht von Brot allein, 
sondern von dem, was als Geistiges aus den geistigen Welten kommt. - 
Das wuBte die Christus-Wesenheit am besten, denn sie war ja eben erst 
herabgestiegen aus den geistigen Welten. Da antwortete Ahriman: 
Wohl magst du recht haben. Aber daB du recht hast und inwiefern du 
recht hast, das kann mich eigentlich nicht hindern, dich doch in einer 
gewissen Weise zu halten. Du weiBt nur, was der Geist tut, der aus 
den Hohen heruntersteigt. Du warst aber noch nicht in der mensch- 
lichen Welt. Da unten in der menschlichen Welt gibt es noch ganz 
andere Menschen, die haben wahrhaftig notig, Steine zu Brot zu ma- 
chen, die konnen unmoglich sich bloB vom Geiste nahren. 

Das war der Moment, wo Ahriman zu Christus etwas sprach, was 
man zwar auf der Erde wissen konnte, was aber der Gott, der eben 
erst die Erde betreten hatte, noch nicht wissen konnte. Er wuBte 
nicht, daB es unten auf der Erde notwendig ist, das Mineralische, das 
Metall zu Geld zu machen, damit die Menschen Brot haben. Da sagte 
Ahriman, daB die armen Menschen da unten auf der Erde gezwungen 
sind, mit dem Gelde sich zu ernahren. Das war der Punkt, an dem 
Ahriman noch eine Gewalt hatte. Und ich werde - sagte Ahriman - 
diese Gewalt gebrauchen! 

Dies ist die wirkliche Darstellung der Versuchungsgeschichte. Es 
war also ein Rest geblieben bei der Versuchung. Nicht endgultig waren 
die Fragen gelost; wohl die Fragen Luzifers, aber nicht die Fragen 
Ahrimans. Um diese zu losen, war noch etwas anderes notwendig. 

Als der Christus Jesus die Einsamkeit verlieB, da fiihlte er sich hin- 
ausgeriickt iiber all das, was er durchlebt und gelernt hatte von seinem 
zwolften Jahre ab ; er fiihlte den Christus-Geist verbunden mit dem, 
was in ihm gelebt hatte vor seinem zwolften Jahre. Er fiihlte sich 
eigentlich mit all dem, was alt und diirr geworden war im Mensch- 
heitswerden, nicht mehr verbunden. Selbst die Sprache, die in seiner 
Umgebung gesprochen wurde, war ihm gleichgiiltig geworden, und 
zunachst schwieg er auch. Er wanderte um Nazareth herum und noch 
weiter hinaus, immer weiter und weiter. Er besuchte viele derjenigen 
Orte, die er schon als Jesus von Nazareth beriihrt hatte, und da zeigte 
sich etwas hochst Eigentumliches. Ich bitte wohl zu beachten, ich 



erzahle die Geschichte des Funften Evangeliums, und es wiirde nichts 
taugen, wenn irgend jemand sogleich Widerspruche aufsuchen wollte 
zwischen diesem und den vier anderen Evangelien. Ich erzahle so, wie 
die Dinge im Funften Evangelium stehen. 

In rechter Schweigsamkeit, wie nichts gemein habend mit der Um- 
gebung, wanderte zunachst der Christus Jesus von Herberge zu Her- 
berge, \iberall bei den Leuten und mit den Leuten arbeitend. Und tie- 
fen Eindruck hatte zuruckgelassen auf ihn, was er durchlebt hatte mit 
dem Spruche des Ahriman vom Brote. tjberall fand er die Menschen, 
die ihn schon kannten, bei denen er fniher schon gearbeitet hatte. Die 
Menschen erkannten ihn wieder, und er fand unter diesen Menschen 
wirklich das Volk, diejenigen, bei denen Ahriman Zutritt haben muB, 
weil sie notig haben, Steine, Mineralisches zu Brot zu machen, oder 
was dasselbe ist, Geld, Metall zu Brot zu machen. Bei denjenigen, die 
Hillels oder anderer Sittenspruche beachteten, brauchte er ja nicht ein- 
zukehren. Aber bei denen, welche die anderen Evangelien die Zollner 
und Sunder nennen, kehrte er ein, denn das waren diejenigen, die 
darauf angewiesen waren, Steine zu Brot zu machen. Besonders bei 
diesen ging er viel herum. 

Aber jetzt war das Eigentumliche eingetreten: Viele von diesen 
Menschen kannten ihn schon aus der Zeit vor seinem dreiBigsten 
Jahre, da er schon ein-, zwei- oder dreimal als Jesus von Nazareth bei 
ihnen gewesen war. Dazumal lernten sie kennen sein mildes, liebes, 
weises Wesen. Denn solch groBe Schmerzen, solch tiefes Leid, die er 
durchlebte seit seinem zwolften Jahre, wandelt sich zuletzt um in die 
Zauberkraft der Liebe, die in jedem Worte so ausstromt, wie wenn in 
seinen Worten noch eine geheimnisvolle Kraft waltete, die sich aus- 
goB iiber die Umstehenden. Wohin er kam, uberall, in jedem Hause, in 
jeder Herberge, war er tief geliebt. Und diese Liebe blieb zuriick, wenn 
er wiederum die Hauser verlassen hatte und weitergezogen war. 

Viel sprach man in diesen Hausern von dem lieben Menschen, dem 
Jesus von Nazareth, der durchwandert hatte diese Hauser, diese Orte. 
Und wie durch das Hineinwirken kosmischer GesetzmaBigkeit 
geschah das Folgende. Ich erzahle hier Szenen, die sich zahlreich wie- 
derholten und die uns die hellsichtige Forschung oft und oft zeigen 



kann. Da war er in den Familien, bei denen Jesus von Nazareth gear- 
beitet hatte, die nach der Arbeit zusammensaBen und gerne redeten, 
wenn die Sonne untergegangen war, noch wie gegenwartig ! Da rede- 
ten sie von dem lieben Menschen, der als Jesus von Nazareth bei 
ihnen gewesen war. Vieles erzahlten sie von seiner Liebe und Milde, 
vieles von ihren schonen, warmen Empfindungen, die durch ihre See- 
len gezogen waren, wenn dieser Mensch unter ihrem Dache gelebt 
hatte. Und da geschah es - es war eine Nachwirkung jener Liebe, die 
da ausstromte -, in manchen dieser Hauser, wenn sie so stundenlang 
von diesem Gast gesprochen hatten, daft in die Stube hereintrat wie 
in einer gemeinsamen Vision fur alle Familienmitglieder, das Bild die- 
ses Jesus von Nazareth. Ja, er besuchte sie im Geiste, oder auch, sie 
schufen sich sein geistiges Bild. 

Nun konnen Sie sich denken, wie es in solchen Familien emp- 
funden wurde, wenn er ihnen in der gemeinsamen Vision erschie- 
nen war, und was es fur sie bedeutete, wenn er jetzt wiederkam, 
nach der Johannestaufe im Jordan, und sie sein AuBeres wieder- 
erkannten, nur war sein Auge leuchtender geworden. Sie sahen das 
verklarte Antlitz, das einstmals sie so lieb angeschaut hatte, diesen 
ganzen Menschen, den sie im Geiste bei sich sitzend gesehen hatten. 
Was da AuBerordentliches geschah in solchen Familien, was da ge- 
schah bei den Siindern und Zollnern, die wegen ihres Karma von all 
den damonischen Wesen jener Zeit umgeben, geplagt waren, die da 
krank und beladen und besessen waren, wie diese Leute diese Wieder- 
kehr empfunden haben, das konnen wir uns wohl denken ! 

Jetzt zeigte sich die umgewandelte Natur des Jesus; es zeigte sich 
besonders an solchen Menschen, was durch die Einwohnung des 
Christus aus Jesus von Nazareth geworden war. Friiher hatten sie nur 
seine Liebe, Giite und Milde empfunden, so daB sie nachher die 
Vision von ihm hatten; jetzt aber ging etwas von ihm aus wie eine 
Zauberkraft ! Hatten sie sich friiher nur getrostet gefiihlt durch seine 
Gegenwart, so fiihlten sie sich jetzt geheilt durch ihn. Und sie gingen 
zu ihren Nachbarn, holten sie herbei, wenn sie ebenso bedriickt und 
von damonischen Gewalten geplagt waren, und brachten sie dem 
Jesus Christus. Und so geschah es, daB der Christus Jesus, nachdem 



er Luzifer besiegt und nur einen Stachel zuriickbehalten hatte von 
Ahriman, bei den Menschen, die unter Ahrimans Herrschaft waren, 
dasjenige bewirken konnte, was immer geschildert wird in der Bibel 
als die Austreibung der Damonen und Heilung der Kranken. Viele 
von jenen Damonen, die er gesehen hatte, als er wie tot auf dem 
heidnischen Opferaltar gelegen hatte, wichen jetzt von den Leuten, 
wenn er als Christus Jesus den Menschen gegeniibertrat. Denn so 
wie Luzifer und Ahriman in ihm ihren Gegner sahen, so sahen auch 
die Damonen in ihm ihren Gegner. Und als er so durch das Land 
zog, da muBte er durch das Verhalten der Damonen in den Men- 
schenseelen oft und oft an dazumal denken, wie er dort am alten 
Opferaltar gelegen hatte, wo statt der Gotter die Damonen waren, 
und wo er nicht den Dienst verrichten konnte. Er muBte gedenken 
der Bath-Kol, die ihm das alte Mysteriengebet verkiindet hatte, von 
dem ich Ihnen gesprochen habe. Und insbesondere kam ihm immer 
wieder und wieder in den Sinn die mittlere Zeile dieses Gebetes: 
«Erlebet im taglichen Brote.» - Jetzt sah er es: Diese Menschen, bei 
denen er eingekehrt war, muBten Steine zu Brot machen. Er sah: 
Unter diesen Menschen, bei denen er so gelebt hatte, sind viele, die 
nur vom Brot allein leben miissen. Und das Wort aus jenem urheid- 
nischen Gebete: «Erlebet im taglichen Brote», senkte sich tief in 
seine Seele. Er fuhlte die ganze Einkorperung des Menschen in die 
physische Welt. Er fuhlte, daB es in der Menschheitsevolution wegen 
dieser Notwendigkeit so weit gekommen war, daB durch diese phy- 
sische Einkorperung die Menschen vergessen konnten die Namen der 
Vater in den Himmeln, die Namen der Geister der hoheren Hierar- 
chies Und er fuhlte, wie jetzt keine Menschen mehr da waren, die 
horen konnten die Stimmen der alten Propheten und die Botschaft 
der Zarathustra-Weisheit. Jetzt wuBte er, daB das Leben im taglichen 
Brote es ist, das die Menschen von den Himmeln getrennt hat, das 
die Menschen in den Egoismus treiben und Ahriman zufuhren muB. 

Als er mit solchen Gedanken durch die Lande ging, da stellte sich 
heraus, daB diejenigen, die am tiefsten gefuhlt hatten, wie Jesus von 
Nazareth verwandelt war, seine Junger wurden und ihm folgten. Aus 
mancherlei Herbergen nahm er diesen oder jenen mit, der ihm jetzt 



folgte, folgte, weil er im hochsten MaBe jene Empfindung hatte, die 
ich eben schilderte. So geschah es, daB bald eine Schar von solchen 
Jiingern schon zusammen kam. Da hatte er in diesen Jiingern Leute 
um sich herum, die nun in einer Grundseelenstimmung waren, die 
gewissermaBen ganz neu war, die durch ihn anders geworden waren 
als diejenigen Menschen, von denen er einstmals seiner Mutter hatte 
erzahlen miissen, daB sie nicht mehr das Alte horen konnten. Und da 
leuchtete in ihm die Erdenerfahrung des Gottes auf: Ich habe den 
Menschen zu sagen, nicht wie die Gotter den Weg herunterbahnten 
vom Geist zur Erde, sondern wie die Menschen hinauffinden kon- 
nen den Weg von der Erde zum Geist. 

Und jetzt kam ihm die Stimme der Bath-Kol wieder in den Sinn, 
und er wuBte, daB erneuert werden miiBten die uraltesten Formeln 
und Gebete; er wuBte, daB nun der Mensch von unten hinauf suchen 
muBte den Weg in die geistigen Welten, daB er durch dieses Gebet 
den gottlichen Geist suchen konnte. Da nahm er die letzte Zeile des 
alten Gebetes : 

«Ihr Vater in den Himmeln» 

und kehrte sie um, weil sie so jetzt angemessen ist fur den Menschen 
der neuen Zeit und weil er sie nicht auf die vielen geistigen Wesen- 
heiten der Hierarchien, sondern auf das eine Geistwesen zu beziehen 
hatte : 

«Unser Vater im Himmel. » 

Und die zweite Zeile, die er gehort hatte als die vorletzte Mysterien- 
zeile : 

«Und vergaB Euren Namen», 

er kehrte sie um, wie sie jetzt lauten muBte fur die Menschen der 
neuen Zeit: 

«Geheiliget werde Dein Name.» 

Und so wie die Menschen, die von unten hinaufsteigen miissen, 
sich fiihlen miissen, wenn sie sich der Gottheit nahen wollen, so 
wandelte er um die drittletzte Zeile, die da hieB : 



«Da der Mensch sich schied von Eurem Reich» 

in: 

«Zu uns komme Dein Reich !» 

Und die folgende Zeile: 

«In dem nicht waltet der Himmel Wille», 

er kehrte sie urn, wie sie die Menschen jetzt allein horen konnten, 
denn die alte Wortstellung konnte kein Mensch mehr horen. Er kehrte 
sie um, denn eine vollige Umkehrung des Weges in die geistigen 
Welten sollte geschehen; er kehrte sie um in: 

«Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden.» 

Und das Geheimnis vom Brote, von der Einkorperung im physi- 
schen Leibe, das Geheimnis von alledem, was ihm jetzt durch den 
Stachel Ahrimans voll erschienen war, das wandelte er so um, daB 
der Mensch empfinden sollte, wie auch diese physische Welt aus der 
geistigen Welt kommt, wenn es der Mensch auch nicht unmittelbar 
erkennt. So wandelte er diese Zeile vom taglichen Brote um in eine 
Bitte: 

«Gib uns heute unser taglich Brot.» 

Und die Worte: 

«Von andern erschuldete Selbstheitschuld» 

kehrte er um in die Worte: 
«Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.» 

Und diejenige Zeile, welche die zweite war in dem alten Gebet der 
Mysterien : 

«Zeugen sich losender Ichheit», 

er kehrte sie um, indem er sagte : 

«Sondern erlose uns», 



und die erste Zeile: 



«Es walten die Ubel», 

machte er 211 : 

«Von dem t)bel. Amen.» 

Und so wurde denn dasjenige, was das Christentum als das Vater- 
unser kennenlernte durch die Umkehrung dessen, was Jesus einstmals 
als die umgewandelte Stimme der Bath-Kol vernommen hatte bei 
seinem Fall am heidnischen Altar, zu dem, was Christus Jesus als das 
neue Mysteriengebet, das neue Vaterunser lehrte. In einer ahnlichen 
Weise - und es wird ja noch manches zu sagen sein - entstand auch 
die Verkiindigung der Bergpredigt und andere Dinge, die der Chri- 
stus Jesus seine Jiinger lehrte. 

In einer merkwiirdigen Weise wirkte der Christus Jesus gerade auf 
seine Jiinger. Ich bitte, wenn ich Ihnen, meine lieben Freunde, hier- 
von erzahle, immer im Auge zu behalten, daB ich einfach erzahle, was 
zu lesen ist in diesem Fiinften Evangelium. Als er so durch die Lande 
zog, da war seine Wirkung auf die Umgebung eine ganz eigentiimliche. 
Er war zwar mit den Aposteln, mit den Jiingern in Gemeinschaft, 
aber es war, weil er die Christus-Wesenheit war, so, als wenn er gar 
nicht bloB in seinem Leibe ware. Wenn er so mit den Jiingern im 
Lande umherging, dann fuhlte dieser oder jener manchmal, als ob er 
in ihm, in der eigenen Seele ware, wenn er auch neben ihm ging. 
Mancher fuhlte, wie wenn jene Wesenheit, die zu dem Christus Jesus 
gehorte, in der eigenen Seele ware, und er fing dann an zu sprechen 
die Worte, die eigentlich der Christus Jesus selber nur sprechen 
konnte. Und da ging diese Schar herum und traf Leute, es wurde zu 
ihnen gesprochen und derjenige, der da sprach, war durchaus nicht 
immer Christus Jesus selber, sondern es sprach auch mancher der 
Jiinger; denn er hatte alles gemeinsam mit den Jiingern, auch seine 
Weisheit. 

Ich muB gestehen, ich war in hohem MaBe erstaunt, als ich gewahr 
wurde, daB zum Beispiel das Gesprach mit dem Sadduzaer, von 
dem das Markus-Evangelium erzahlt, gar nicht von dem Christus Je- 
sus aus dem Jesusleibe gesprochen wurde, sondern aus einem der 
Jiinger; aber natiirlich sprach es der Christus. Und auch diese Erschei- 



nung war haufig, daB wenn Christus Jesus einmal seine Schar ver- 
lieB - er trennte sich zuweilen von ihnen -, er doch unter ihnen war. 
Entweder wandelte er geistig mit ihnen, wahrend er weit weg war, 
oder er war auch nur in seinem atherischen Leibe bei ihnen. Sein 
Atherleib war unter ihnen, sein Atherleib wandelte auch mit ihnen im 
Lande umher, und man konnte oftmals nicht unterscheiden, ob er so- 
zusagen den physischen Leib mithatte, oder ob es nur die Erscheinung 
des Atherleibes war. 

So war der Verkehr mit den Jiingern und mit mancherlei Men- 
schen aus dem Volke, als der Jesus von Nazareth zum Christus Jesus 
geworden war. Er selber erlebte allerdings das, was ich schon ange- 
deutet habe: Wahrend die Christus- Wesenheit in den ersten Zeiten ver- 
haltnismaBig unabhangig war von dem Leibe des Jesus von Naza- 
reth, muBte sie sich ihm spater immer mehr und mehr anahneln. Und 
je mehr das Leben vorriickte, desto mehr war er gebunden an den 
Leib des Jesus von Nazareth, und ein tiefster Schmerz kam in dem 
letzten Jahre uber ihn von dem Gebundensein an den dazu noch siech 
gewordenen Leib des Jesus von Nazareth. Aber doch kam es immer 
noch vor, daB Christus, der jetzt schon mit einer groBen Schar um- 
herzog, wiederum hinausging aus seinem Leibe. Da und dort wurde 
gesprochen, hier sprach dieser, dort jener aus der Apostelschar, und 
man konnte glauben, daB der, der da sprach, der Christus Jesus sei, 
oder daB es nicht der Christus Jesus sei: der Christus sprach durch 
sie alle, so lange sie in inniger Gemeinschaft mit ihm herumzogen. 

Man kann belauschen einmal ein Gesprach, wie die Pharisaer und 
judischen Schriftgelehrten miteinander sprachen und zueinander sag- 
ten: Zum Abschrecken fur das Volk konnte man allerdings einen 
beliebigen aus dieser Schar herausgreifen und ihn toten; aber es konnte 
ebensogut ein falscher sein, denn alle sprechen sie gleich. Damit ist 
uns also nicht gedient, denn dann ist der wirkliche Christus Jesus viel- 
leicht noch da. Wir miissen aber den wirklichen haben! - Nur die 
Jiinger selber, diejenigen, die ihm schon nahergetreten waren, konn- 
ten ihn unterscheiden. Sie sagten aber ganz gewiB nicht dem Feinde, 
welcher der richtige sei. 

Da war aber Ahriman stark genug geworden in bezug auf die Frage, 



die ubriggeblieben war, die der Christus nicht in den geistigen Welten 
abmachen konnte, sondern nur auf Erden. Er muBte durch die schwer- 
ste Tat erfahren, was die Frage bedeutet, Steine zu Brot zu machen, 
oder was dasselbe ist, Geld zu Brot zu machen, denn Ahriman be- 
diente sich des Judas aus Karioth. 

So wie der Christus wirkte - kein geistiges Mittel hatte es gegeben, 
um ausfindig zu machen, welcher unter der Schar seiner Jiinger, die 
ihn verehrten, der Christus war. Denn da, wo der Geist wirkte, wo 
auch noch das letzte von iiberzeugender Kraft wirkte, konnte man 
dem Christus nicht beikommen. Nur da, wo der war, der das Mittel 
anwendete, das der Christus nicht kannte, das er erst durch die 
schwerste Tat auf Erden kennenlernte, wo der Judas wirkte, konnte 
man ihm beikommen. Man hatte ihn nicht erkennen konnen durch 
etwas anderes als dadurch, daB sich einer fand, der sich in den Dienst 
des Ahriman stellte, der tatsachlich durch das Geld allein zu dem Ver- 
rat gekommen ist! Dadurch war Christus Jesus mit dem Judas ver- 
bunden, daB sich zugetragen hatte bei der Versuchungsgeschichte, 
was bei dem Gott begreiflich ist: daB der Christus, der eben herab- 
gekommen war auf die Erde, nicht wuBte, wie es nur fur den Himmel 
richtig ist, daB man keine Steine zum Brot braucht. Weil Ahriman 
das als seinen Stachel behalten hatte, geschah der Verrat. Und dann 
muBte der Christus noch in die Herrschaft des Herrn des Todes kom- 
men, insofern Ahriman der Herr des Todes ist. So ist der Zusam- 
menhang von der Versuchungsgeschichte und dem Mysterium von 
Golgatha mit dem Verrat des Judas. 

Viel mehr ware zu sagen aus diesem Fiinften Evangelium als das, 
was gesagt worden ist. Aber im Laufe der Menschheitsentwickelung 
werden ganz gewiB auch noch die anderen Teile dieses Fiinften Evan- 
geliums zutage treten. Mehr von der Art, wie es ist, versuchte ich 
durch die herausgerissenen Erzahlungen Ihnen eine Vorstellung zu 
geben von diesem Fiinften Evangelium. Es tritt mir auch am Ende 
dieser Vortrage dasjenige vor das Seelenauge, was ich am Schlusse 
der ersten Stunde gesagt habe, daB es ja nur herausgefordert ist durch 
die Notwendigkeiten unserer Zeit, in der Gegenwart schon von die- 
sem Fiinften Evangelium zu sprechen. Und ich mochte es Ihnen, 



meine lieben Freunde, ganz besonders ans Herz legen, dasjenige was 
vom Fiinften Evangelium gesagt werden durfte, in der entsprechen- 
den pietatvollen Weise zu behandeln. 

Sehen Sie, wir haben heute schon grundlich genug Feinde, und 
die Art, wie sie vorgehen, ist ja eine ganz eigentumliche. Ich will 
uber diesen Punkt nicht sprechen, Sie kennen ihn vielleicht aus den 
«Mitteilungen». Sie kennen ja auch die merkwiirdige Tatsache, daB 
es seit langerer Zeit Menschen gibt, die davon sprechen, wie infiziert 
von allem moglichen engherzigen Christentum, ja sogar von Jesuitis- 
mus die Lehre ist, die von mir verkiindet wird. Insbesondere sind es 
gewisse Anhanger der sogenannten Adyar-Theosophie, welche in der 
schlimnisten Weise eben diesen Jesuitismus verkiinden und lauter ge- 
hassiges, gewissenloses Zeug reden. Aber dabei tritt auch noch das 
zutage, daB von einer Stelle aus, wo man recht sehr gewiitet hat gegen 
das Engherzige, Verkehrte, Verwerfliche, unsere Lehre bodenlos 
gefalscht worden ist. Es hat unsere Lehre ein Mann, der aus Amerika 
kam, durch viele Wochen und Monate kennengelernt, aufgeschrie- 
ben und dann in verwasserter Gestalt nach Amerika getragen und dort 
eine Rosenkreuzer-Theosophie herausgegeben, die er von uns iiber- 
nommen hat. Er sagt zwar, daB er von uns hier manches gelernt 
habe, daB er aber dann erst zu den Meistern gerufen wurde und von 
ihnen mehr gelernt habe. Das Tiefere aber, was er aus den damals un- 
veroffentlichten Zyklen gelernt hatte, verschwieg er als von uns ge- 
lernt. DaB so etwas in Amerika geschah - man konnte ja, wie der alte 
Hillel, in Sanftmut bleiben; man brauchte sich diese auch nicht neh- 
men lassen, wenn das auch nach Europa heriiberspielt. Es wurde an 
der Stelle, wo man am meisten gegen uns gewiitet hat, eine Uberset- 
zung gemacht dessen, was iiber uns nach Amerika geliefert worden 
ist, und diese Ubersetzung wurde eingeleitet damit, daB man sagte: 
Zwar trate eine rosenkreuzerische Weltanschauung auch in Europa 
zutage, aber in engherziger, jesuitischer Weise. Und erst in der reinen 
Luft Kaliforniens konnte sie weiter gedeihen. - Nun, ich mache 
Punkte . . . ! Das ist die Methode unserer Gegner. Wir konnen nicht 
nur mit Milde, sondern sogar mit Mitleid diese Dinge ansehen, aber 
wir diirfen den Blick nicht davor verschlieBen. Wenn solche Dinge 



geschehen, dann sollten auch diejenigen vorsichtig sein, die ja die 
Jahre her immer eine merkwiirdige Nachsicht hatten mit denen, die in 
so gewissenloser Weise handelten. Vielleicht werden alien einmal die 
Augen aufgehen. Ich mochte wahrhaftig nicht iiber diese Dinge spre- 
chen, wenn es nicht eben notwendig ware im Dienste der Wahrheit. 
Man muB doch das alles ganz klar sehen. 

Wenn auch einerseits diese Dinge von anderen verbreitet werden, 
dann schutzt uns das nicht davor, daB andrerseits diejenigen, denen in 
etwas ehrlicherer Weise diese Dinge unangenehm sind - denn es gibt 
ja auch solche Menschen -, den Kampf ausfuhren. Mit all dem torich- 
ten Zeug, was zwischen diesen beiden Parteien geschrieben wird, will 
ich Sie nicht behelligen. Denn all diese sonderbare Literatur, die in 
Deutschland jetzt erscheint von Freimark, Schalk, Maack und so wei- 
ter, ware gar nicht notwendig zu beachten, weil die Inferioritat denn 
doch zu groB ist. Aber es gibt Leute, die gerade dasjenige nicht ver- 
tragen konnen, was von der Art ist wie dieses Funfte Evangelium. 
Und vielleicht war kein HaB so ehrlich als derjenige, der hervorgetre- 
ten ist in den Kritiken, die gleich aufgetreten sind, als etwas von dem 
Geheimnis der beiden Jesusknaben, das ja auch schon zum Funften 
Evangelium gehort, in die Offentlichkeit gedrungen ist. Wirkliche 
Anthroposophen werden dieses Funfte Evangelium, das in gutem 
Glauben gegeben ist, richtig behandeln. Nehmen Sie es mit, erzahlen 
Sie davon in den Zweigen, aber sagen Sie den Leuten, wie es behan- 
delt werden muB! Machen Sie, daB es nicht pietatlos hingeworfen 
wird unter diejenigen, die es vielleicht verhohnen. 

Man steht mit solchen Dingen, die auf der fur unsere Zeit schon 
notwendigen hellsichtigen Forschung beruhen, unserer ganzen Zeit 
gegeniiber, und vor allem der tonangebenden Bildung unserer Zeit. 
Wir versuchten, uns das ja auch zu Herzen zu fiihren. Diejenigen, die 
wir beisammen waren bei der Grundsteinlegung unseres Baues, wis- 
sen, wie wir versuchten, uns vor die Seele zu rufen, wie notwendig 
die Verkundigung spiritueller Lehren ist mit treuem Einhalten der 
Wahrheit. Wir versuchten es uns vor die Seele zu fiihren, wie weit- 
ab unsere Zeitkultur von diesem Suchen nach der Wahrheit liegt. Man 
kann sagen, daB der Schrei nach dem Geiste durch unsere Zeit geht, 



daB aber die Menschen zu hochmutig oder beschrankt sind, urn wirk- 
lich von wahrem Geiste etwas wissen zu wollen. Jener Grad von 
Wahrhaftigkeit, der notwendig ist, um die Verkiindigung des Geistes 
zu vernehmen, der muB erst heranerzogen werden. Denn in dem, was 
heute Geistesbildung ist, ist dieser Grad von Wahrhaftigkeit nicht 
vorhanden und, was schlimmer ist, man merkt es nicht, daG er nicht 
vorhanden ist. Behandeln Sie das, was hier mit dem Fiinften Evange- 
lium gegeben worden ist, so, daB es in den Zweigen pietatvoll behan- 
delt wird. Nicht aus Egoismus beanspruchen wir das, sondern aus 
einem ganz anderen Grunde, denn der Geist der Wahrheit muB in 
uns leben und der Geist muB in Wahrheit vor uns stehen. 

Die Menschen reden heute vom Geiste, aber sie ahnen, selbst wenn 
sie das tun, nichts vom Geiste. Da gibt es einen Mann - und warum 
soil man nicht Namen nennen der zu einem groBen Ansehen gekom- 
men ist, gerade weil er immer und immer vom Geiste spricht, Rudolf 
Eucken. Er redet immer vom Geiste, aber wenn man alle seine Biicher 
durchliest - versuchen Sie es nur einmal -, wird immer gesagt : Den 
Geist gibt es, man muB ihn erleben, man muB mit ihm zusammen- 
sein, man muB ihn empfinden - und so weiter. In unendlichen Phrasen 
geht es durch alle diese Biicher, wo man immer wieder schreibt: 
Geist, Geist, Geist! So redet man heute vom Geiste, weil man zu 
bequem oder zu hochmutig ist, zu den Quellen des Geistes selbst 
zu gehen. Und diese Menschen haben heute groBes Ansehen. Den- 
noch wird es schwierig sein in der heutigen Zeit, mit dem, was so 
konkret aus dem Geiste geholt ist, wie es bei der Schilderung des 
Fiinften Evangeliums geschehen muBte, durchzudringen. Dazu geho- 
ren Ernst und innere Wahrhaftigkeit. Eine der neuesten Schriften 
Euckens ist diese: «K6nnen wir noch Christen sein?» Da lesen wir 
auf einer der Seiten, die nichts anderes sind als einzelne Glieder, die 
sich bandwurmartig aneinanderstiicken aus Seele und Geist, und Geist 
und Seele, und durch viele Bande hindurch geschieht das, denn damit 
erwirbt man ungeheures Ansehen, Ruhm und Ruf, wenn man den 
Leuten erklart, vom Geiste etwas zu wissen, denn die Leute merken 
heute nicht beim Lesen, was alles an innerer Unwahrhaftigkeit gelei- 
stet wird, und man mochte glauben, die Menschen muBten doch end- 



lich lesen lernen - da lesen wir auf einer Seite den Satz : Die Mensch- 
hek ist heute dariiber hinaus, an Damonen zu glauben; an Damonen 
zu glauben kann man den Menschen nicht mehr zumuten! - Aber an 
einer anderen Stelle liest man in demselben Buche den merkwiirdigen 
Satz: «Die Beruhrung von Gottlichem und Menschlichem erzeugt 
damonische Machte.» Da spricht doch der Mann ernsthaft jetzt von 
Damonen, der so, wie ich vorher gesagt habe, auf einer anderen Seite 
desselben Buches spricht. Ist das nicht tiefste innere Unwahrheit? Es 
miiBte die Zeit endlich kommen, wo zuriickgewiesen werden solche 
Lehren vom Geiste, die voll innerster Unwahrheit sind. Aber ich 
merke nichts davon, daB viele unserer Zeitgenossen diese innere 
Unwahrheit bemerken. 

So stehen wir heute noch, wenn wir der Wahrheit vom Geiste 
dienen, im Gegensatz zu unserer Zeit. Und es ist notwendig, sich an 
so etwas zu erinnern, um klar zu sehen, was wir in unseren Herzen zu 
tun haben, wenn wir sein wollen Mittrager der Verkiindigung vom 
Geiste, Mittrager des der Menschheit notwendigen neuen Lebens vom 
Geiste. Wie kann man hoffen, wenn man versucht, durch die Geist- 
lehre die menschliche Seele zu der Christus-Wesenheit zu fiihren, viel 
Anklang zu finden gegeniiber der Zeitbildung, die sich heute begniigt 
mit solchen Wahrheiten, die alle gescheiten Philosophen und Theo- 
logen erzahlen: daB es ein Christentum vor dem Christus gegeben 
habe! Denn sie weisen nach, daB der Kult, ja einzelne typische Erzah- 
lungen, in derselben Weise schon friiher im Morgenlande gefunden 
wurden. Da erklaren denn die gescheiten Theologen und erzahlen es 
alien, die es horen wollen, daB das Christentum nichts anderes sei als 
die Fortsetzung dessen, was schon friiher da war. Und ein groBes An- 
sehen hat diese Literatur bei unseren Zeitgenossen. Ungeheures Anse- 
hen hat sie gefunden, und die Zeitgenossenschaft merkt gar nicht, wie 
sich das alles zueinander verhalt. 

Wenn man von der Christus-Wesenheit spricht, wie sie in ihrer 
Geistigkeit heruntersteigt, und wenn man die Christus-Wesenheit 
spater in denselben Kultformen verehrt findet wie friiher die heid- 
nischen Gotter verehrt wurden, und wenn das verwendet werden 
soli, um die Christus-Wesenheit iiberhaupt wegzuleugnen, wie das ja 



heute auch schon da ist, so ist das eine Logik, die jemand gebraucht, 
dem folgendes passiert: Irgendein beliebiger Mensch geht in eine 
Herberge und hatte dann dort seine Kleider gelassen. Von den Klei- 
dern weiB man, daB sie diesem Menschen gehoren. Nachher ware ein 
Mensch wie Schiller oder Goethe gekommen und hatte, durch irgend- 
einen Umstand genotigt, die zunickgelassenen Kleider angezogen und 
ware herausgekommen mit den Kleidern, die dem anderen gehorten. 
Und nun wiirde jemand umhergehen, Goethe in den anderen Kleidern 
sehen und sagen: Ja, was redet man denn da? Was soli das fiir ein 
besonderer Mensch sein? Die Kleider habe ich ja ganz genau gepnift, 
die gehoren dem und dem, der gar kein besonderer Mensch ist. - Weil 
die Christus-Wesenheit die Kleider der alten Kulte gewissermaBen 
benutzt hat, kommen die gescheiten Leute und erkennen nicht, daB 
die Christus-Wesenheit dies nur wie ein Kleid angezogen hat, und daB, 
was jetzt in den alten Kulten steckt, die Christus-Wesenheit ist. 

Und nun nehmen Sie ganze Bibliotheken, nehmen Sie ganze Sum- 
men von heutigen wissenschaftlichen monistischen Betrachtungen: 
das sind Beweise vom Kleide der Christus-Wesenheit, die ja sogar wahr 
sind! Hoch im Werte steht heute der Beschnuffler der Kulturevolu- 
tion und als tiefe Weisheit wird die Wissenschaft dieser Beschnuff- 
ler hingenommen. Dies Bild miissen wir uns vor die Seele malen, 
wenn wir nicht nur versta.ndesma.Big, sondern auch mit dem Gefiihl 
aufnehmen wollen das, was mit diesem Funften Evangelium gemeint 
ist. Denn gemeint ist, daB wir mit unserer Wahrheit in der richtigen 
Weise in unsere Zeit hineingestellt uns fuhlen sollen, um zu begreifen, 
wie unmoglich es ist, der alten Zeit dasjenige begreif lich zu machen, 
was wieder als neue Verkundigung kommen muB. Deshalb darf ein 
Evangelienwort gesprochen werden, jetzt, wo wir wiederum Abschied 
nehmen voneinander: Mit dem Sinn, der heute in der Menschheit 
waltet, ist in der nachsten geistigen Entwickelung nicht weiterzukom- 
men. - Darum muB dieser Sinn geandert werden, auf ein anderes 
gerichtet werden! Und die KompromiBnaturen, die sich kein klares 
Bild machen wollen von dem, was da ist und was da kommen 
muB, werden nicht gut dem dienen, was als geistige Lehre und 
geistiges Dienen der Menschheit notwendig ist. 



Ich war das Funfte Evangelium, das mir heilig ist, schuldig. Und 
ich verabschiede mich von Ihren Herzen und Ihren Seelen mit dem 
Wunsche, daf5 das Band, das uns verbunden hat durch mancherlei 
anderes, gefestigt worden sei durch diese geistige Forschung iiber das 
Funfte Evangelium, die mir besonders teuer ist. Und dies kann viel- 
leicht in Ihren Herzen und Seelen eine warme Empfindung auslosen : 
Wenn wir auch physisch, raumlich und zeitlich getrennt sind, so wol- 
len wir doch beisammen bleiben, zusammen fiihlen, was wir in unseren 
Seelen zu erarbeiten haben und was gefordert ist durch die Pflicht, die 
der Geist in unserer Zeit den Menschenseelen auferlegt ! 

Hoffentlich geht das, was wir erstreben, durch die Arbeit einer 
jeden Seele in der rechten Weise weiter. Ich glaube, daB mit diesem 
Wunsche der beste AbschiedsgruG gegeben sein darf, den ich am 
Ende gerade dieses Vortragszyklus hiermit bringen mochte. 



DAS FUNFTE EVANGELIUM 



Berlin, 21. Oktober 1913 
Ersier Vortrag 

Nach einer langeren Pause haben wir uns wieder in dieser unserer 
Berliner Arbeitsgruppe zusammengefunden und wollen dasjenige be- 
ginnen, was wir in diesem Winter wie eine Art Fortsetzung unserer 
geisteswissenschaftlichen Arbeit, wie wir sie die Jahre her gepflogen 
haben, betrachten konnen. Fur Berlin war ja eine langere Pause ein- 
getreten; aber diese Pause war diesmal ja nicht nur mit den iiblichen 
Vorstellungen und dem Vortragszyklus in Munchen ausgefiillt, son- 
dern auch mit der Grundsteinlegung unseres Baues in Dornach und 
mit mannigfaltigen Arbeiten, die mit dem Beginne dieses unseres 
Baues zusammenhangen. Und so darf ich an diesem Abend, an dem 
wir uns zum erstenmal seit langerer Zeit wieder hier in diesem Raume 
zusammenfinden, zuallererst Ihren Blick auf dasjenige hinlenken, was 
sich fur uns ausdriickt in diesem Dornacher Bau. Es ist ja zu hoffen, 
daB mit diesem Bau dasjenige, was unsere anthroposophische An- 
schauung der Welt sein will, auch ein auBeres Symbolum der Zusam- 
mengehorigkeit fur alle jene Herzen und Seelen bilden kann, die sich 
innerlich verbunden fuhlen mit dem geisteswissenschaftlichen Streben, 
wie wir es mit dieser anthroposophischen Weltanschauungsstromung 
pflegen. 

Im Grunde genommen - das werden Ihnen mancherlei Bemerkun- 
gen der verflossenen Jahre ergeben haben, die auch hier gemacht wor- 
den sind - weist alles im geistigen Leben der Gegenwart darauf hin, 
wie die Menschheit unserer Tage unbewuBt diirstet nach dem, was 
mit einer wahren spirituellen Weltanschauung gegeben werden soil. 
Und nicht nur jene Seelen, die heute etwa in positiver Weise das 
Bedurfnis nach einer solchen Weltanschauung zum Ausdruck bringen, 
streben nach einer solchen Weltanschauung, sondern auch zahlreiche 
Menschen, welche nichts von einer solchen Weltanschauung wissen. 
Ja sogar auch solche, die nichts von ihr wissen wollen, vielleicht ihr 
sogar heute noch feindlich gegeniiberstehen, sie streben doch unbe- 



wuBt - man mochte sagen aus den Bediirfnissen ihres Herzens heraus, 
die sich in bewuBten Begriffen und Ideen noch gat nicht ankiindigen, 
die sich vielleicht sogar in gegnerischen Begriffen und Ideen an- 
kiindigen sie streben, ohne es selbst zu wissen, nach dem, was gerade 
mit unserer Weltanschauung gegeben werden soli. 

So war es wirklich eine ganz besondere Empfindung, als wir mit 
den wenigen unserer anthroposophischen Freunde, die gerade - weil 
alles, durch die Verhaltnisse geboten, schnell gemacht werden muBte - 
nahe am Orte waren und anwesend sein konnten, den Grundstein 
dieses Dornacher Baues legten. Es war eine erhebende Empfindung, 
zu fuhlen, daB man damit gewissermaBen stehe am Beginne des 
Baues, der sozusagen unser vorlaufiges auBeres Symbolum fur unser 
gemeinsames Streben bilden soli. 

Wenn man da oben auf dem Hugel stand, auf dem unser Bau er- 
richtet werden soil - und das war ja bei unserer Eroffhungszere- 
monie geschehen von dem man weit hinaussieht auf die umliegen- 
den Berge und Flachen des Landes und den Blick hinauslenken kann 
auf viel weitere Weiten, da muBte man gleichsam gedenken der 
Schreie der Menschheit in einer weiteren Weltenumgebung nach 
geistigen Wahrheiten, nach den Verkiindigungen einer spirituellen 
Weltanschauung, die innerhalb unserer geistigen Stromung gegeben 
werden konnen. Und man muBte daran denken, wie noch mehr als 
das Ausgesprochene oder das Empfundene, manches andere Sympto- 
matische in unserer Gegenwart ankiindigt, daB es eine spirituelle Not- 
wendigkeit ist, daB sich eine solche spirituelle Weltanschauung dem 
Seelenleben der Menschheit wirklich fruchtbar einpflanze. Das war 
also die hauptsachlichste Empfindung, die uns beseelte, als wir den 
Stein, iiber dem sich unser Bau erheben soil, in die Erde legten. Und 
dieser Bau, er soil ja auch in seinen Formen ausdriicken, was wir 
wollen; so daB diejenigen, die den Bau von auBen oder von innen 
einstmals betrachten werden, wenn er fertig sein wird, seine Formen 
als eine Art Schriftzeichen empfinden konnen, in denen sich ausdriickt, 
ausspricht dasjenige, was wir in der Welt verwirklicht sehen wollen. 

Wenn man iiber eine solche Begriindung nachdenken und sie nach- 
empfinden muB, ist es ja dann so naheliegend, daran zu denken, wie 



nicht nur im einzelnen menschlichen Leben, sondern in der ganzen 
menschlichen Erdenentwickelung Karma wirkt. Im einzelnen Men- 
schenleben wirkt sozusagen das kleine Karma; im Ganzen der Erden- 
und Menschheitsentwickelung wirkt das groBe Karma. Und das ist der 
groBe erhebende Gedanke, den man fuhlen darf: Indem gerade auf 
spirituellem Boden so etwas geschieht, ist man in einer gewissen Weise 
- und sind es alle anthroposophisch Strebenden, die an der Sache 
beteiligt sind - das Werkzeug, wenn auch nur das geringe, so doch 
das Werkzeug des Geistes, der durch das Weltenkarma wirkt und 
seine Taten schafft. Dieses Sich-Verbundenfiihlen mit dem Geiste des 
Weltenkarmas, das ist ja die bedeutsame groBe Empfindung, das 
Gefiihl, in das sich immer wieder und wieder alles zusammenschlie- 
Ben soli, was wir an anthroposophischen Betrachtungen pflegen kon- 
nen. Dieses Gefiihl ist das, was der Seele Ruhe geben kann dann, 
wenn sie Ruhe braucht, was der Seele Harmonie geben kann, wenn 
sie der Harmonie bedarf, was ihr aber auch Kraft, Wirkensfahigkeit, 
Ausdauer und Energie geben kann, wenn sie Kraft, Wirkensfahig- 
keit, Ausdauer und Energie braucht. 

Wenn die spirituellen Weltbegriffe in ihrer Wahrheit in unsere Seele 
einflieBen, dann werden sie in uns auch zu so etwas wie einem inner- 
lich pulsierenden Leben, das sich in Kraft umsetzt, das wir fuhlen 
und empflnden konnen, das in uns rege ist sowohl bei dem Hochsten, 
zu dem wir unsere Gedanken aufschwingen konnen, als auch bei dem 
Kleinsten im alltaglichen Leben, zu dem uns unsere Arbeit zwingt; 
sie werden etwas, zu dem wir immer greifen konnen, wenn wir einen 
Kraftanreger brauchen, zu dem wir immer wieder hinblicken konnen, 
wenn wir Trost im Leben brauchen. Auch echte Moralitat, echte 
sittliche Kraft wird der Menschheit hervorsprieBen nur aus diesem 
Hinlenken des Seelenblickes nach der wahren Spiritualitat, nach dem 
echten spirituellen Leben. 

Denn in anderer Art stehen wir gegenwartig im Weltenkarma darin- 
nen, als die Menschheit im Weltenkarma stand in der Zeit, in wel- 
cher sich abgespielt hat, was wir oftmals als den Mittelpunkt, den 
Schwerpunkt der menschlichen Erdenentwickelung bezeichnet haben : 
das Mysterium von Golgatha. Und wie ich an anderen Orten in den 



letzten Zeiten - gerade im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt unserer 
eigenen geisteswissenschaftlichen Entwickelung, in dem wir jetzt 
stehen - auf ganz merkwiirdige Verhaltnisse aufmerksam machte in 
bezug auf das Mysterium von Golgatha, so mochte ich es gerade 
heute, wo wir uns nach langer Zeit in diesem Raume wieder tref- 
fen, auch vor Ihre Herzen, Ihre Seelen bringen. 

Das Mysterium von Golgatha, das Einleben des Christus-Impulses 
kam in die Welt. Zu welcher Zeit kam es in die Welt? Wir wissen 
heute durch unsere spirituelle Vertiefung, was dazumal in einen 
Menschenleib eingeflossen ist, um Eigentum der Erdenentwickelung, 
der Erden-Menschheitsentwickelung zu werden. Dasjenige, was wir 
gleichsam an vorbereitenden Studien unternommen haben, hat uns in 
die Lage versetzt, einigermaBen die Bedeutung des Mysteriums von 
Golgatha zu begreifen. Kunftige Zeitraume, das haben wir oft betont, 
werden es noch deutlicher begreifen. Wie steht es denn aber, so kann 
man fragen, mit dem Begreifen des Mysteriums von Golgatha gerade 
in jener Zeit, in welcher es sich abgespielt hat? Es handelt sich ja 
darum, daB wir dieses Mysterium von Golgatha seiner Tatsachlich- 
keit nach auffassen, daB wir begreifen, um was es sich dabei wirklich 
handelt. Handelt es sich denn darum, was damals der Menschheit 
gelehrt worden ist? Kame es darauf an, dann konnten diejenigen viel- 
leicht einen Schein des Rechtes beanspruchen, die da sagen, daB die 
meisten Lehren des Christus Jesus schon in friiheren Zeitraumen vor- 
handen gewesen seien; obwohl es, wie wir wissen, auch nicht voll- 
standig wahr ist. Aber darauf kommt es gar nicht in erster Linie an, 
sondern es handelt sich um etwas ganz anderes, namlich darum: was 
auf Golgatha und damit zusammenhangend geschehen ist, was gesche- 
hen ware, auch wenn keine menschliche Seele im weiten Erdenum- 
kreis es verstanden hatte. Denn es handelt sich nicht darum, daB eine 
Tatsache gleich verstanden werde, sondern darum, daB sie geschieht. 
Die Bedeutung der Golgatha-Tatsache beruht zunachst nicht auf dem, 
was die Menschen davon verstanden haben, sondern darauf, was fur 
die Menschheit so geschehen ist, daB der Strom dieses Geschehens 
in den spirituellen Weltentatsachen zum Ausdruck gekommen ist. 

In welche Zeit fiel denn das Mysterium von Golgatha? Es fiel wirk- 



lich in eine merkwiirdige Zeit. Betrachten wir nur, um das Merk- 
wiirdige dieses Zeitraumes ins Auge zu fassen, die nachatlantische 
Entwickelung. Wir haben oft darauf hingewiesen, daB sich die 
Menschheit in dieser nachatlantischen Zeit zuerst in der sogenannten 
urindischen Kulturepoche entwickelt hat. Wif haben auf das Hohe, 
auf das Bedeutsame der urindischen Kultur hingewiesen, haben darauf 
hingewiesen, wie ganz andersgeartet die Seelen in dieser Epoche 
waren, wie sie viel intimer zuganglich waren fur das spirituelle Leben, 
und wie diese Zuganglichkeit dann von Epoche zu Epoche abgenom- 
men hat. Wir haben ferner darauf hingewiesen, wie in der urpersi- 
schen Zeit, in der agyptisch-chaldaischen Zeit die unmittelbare An- 
teilnahme des Menschen an den spirituellen Welten geringer wurde. 
Denn in der urindischen Epoche hatte der Mensch hereingenommen 
in seinen Atherleib alles, was ihm die Welt mitteilen konnte, und er 
hatte es erlebt in seinem Atherleib; wenigstens diejenigen haben es 
erlebt, die diese indische Kulturepoche in jenen alten Zeiten im wah- 
ren Sinne mitmachten. Was man da im Atherleib erlebt, tragt in 
hohem Grade den Charakter der Hellsichtigkeit. In der urpersischen 
Zeit hat man das Seelische erlebt im Empfindungsleibe; das war 
schon erlebt mit einem geringeren Grade von Hellsichtigkeit. In der 
agyptisch-chaldaischen Epoche erlebte man das Seelische in der Emp- 
findungsseele; da war schon wieder ein geringerer Grad von Hell- 
sichtigkeit vorhanden. Dann kam die vierte, die griechisch-lateinische 
Kulturepoche: in diese fiel hinein das Mysterium von Golgatha. Es 
ist die Kulturepoche, in welcher die Menschenseele bereits heraus- 
gegangen war zu dem Wahrnehmen nur auf dem auBeren physischen 
Plan. Die Kultur des Verstandes, die sich auf die auBeren Dinge 
bezieht, beginnt. Die Seele entwickelt die Krafte, die sich auf die 
auBere Welt beziehen. 

In unserer Zeitepoche, im funften nachadantischen Kulturzeitraum, 
hat sich bisher das Erleben der Menschheit auf die Beobachtung der 
AuBenwelt, auf das Erleben der Sinneseindriicke beschrankt. Aber die- 
ser fiinfte nachadantische Kulturzeitraum wird wieder hinfiihren miis- 
sen zu einerneuen, erneuertenEmpfanglichkeitfiir das spirituelle Leben, 
denn er muB voll ausleben das Leben in der BewuBtseinsseele. 



Wenn man sich nun fragt, hinblickend nur auf die vier ersten Zeit- 
raume der nachatlantischen Entwickelung, welcher von diesen Zeit- 
raumen denn am wenigsten geeignet war, das Mysterium von Gol- 
gatha, das Herabsteigen des Christus zu verstehen, wirklich mit spiri- 
tuellem Verstandnis zu verfolgen, so konnte man sich sagen : Hatte - 
wie es ja nach dem Weltenkarma nicht hat geschehen konnen, aber wie 
man hypothetisch einmal annehmen kann - das Mysterium von Gol- 
gatha stattgefunden, ware der Christus herabgekommen in einen 
menschlichen Leib in der Zeit der urindischen Kultur, so waren un- 
zahlige Seelen dagewesen, urn dieses Ereignis zu verstehen; denn sie 
hatten noch dieses spirituelle Verstandnis. Auch noch in der ur- 
persischen, selbst noch in der agyptisch-chaldaischen Epoche ware in 
gewissem Sinne ein Verstandnis fur das Mysterium von Golgatha den 
Seelen noch leicht gewesen, wenn es sich hatte nach dem Weltenkarma 
damals abspielen konnen. Im vierten nachatlantischen Zeitraume war 
die Menschenseele in einer Entwickelung, in welcher ihr dieses 
Verstandnis fur das Mysterium von Golgatha, dieses unmittelbare 
spirituelle Verstandnis, gerade durch ihren Entwickelungszustand ver- 
schlossen war. 

Wir werden noch oft sprechen mussen von der eigenartigen Tat- 
sache, daB das Mysterium von Golgatha in der nachatlantischen Zeit 
auf denjenigen Kulturzeitraum wartete, in welchem das spirituelle 
Verstandnis fur die zu geschehende Tatsache schon geschwunden, 
schon nicht mehr da war. Die Verstandes- oder Gemiitsseele war im 
griechisch-lateinischen Zeitraum daran, sich besonders zu entwickeln. 
Sie richtete vor allem den Blick liebevoll hin auf die auBere Welt, 
wie an der ganzen griechischen Kultur zu sehen ist. Dem Mysterium 
von Golgatha, das nur mit dem inneren Blick zu verfolgen war, 
stand im Grunde genommen die ganze zeitgenossische Kultur so 
gegeniiber wie jene Frauen, die an das Grab des Christus Jesus kamen 
und den Leichnam suchten, aber das Grab geofmet fanden und den 
Leichnam nicht mehr darinnen, und die auf ihre Frage, wo der Leib 
des Herrn geblieben ware, die Antwort vernehmen muBten : Der, den 
ihr suchet, der ist nicht mehr hier t 

So wie sie in der auBeren Welt den Christus suchten, aber ihnen 



die Antwort kam: Der, den ihr suchet, der ist nicht mehr hier! -, so 
ging es im Grande genommen dem ganzen Zeitalter in bezug auf das 
Verstandnis des Mysteriums von Goigatha. Die Menschen des vierten 
nachatlantischen Kulturzeitraumes suchten etwas, was dort nicht war, 
wo sie suchten. Und sie suchten auch noch, als dieser vierte nach- 
atlantische Zeitraum zu Ende ging - er endete mit dem 15.Jahr- 
hundert -, sie suchten auch da noch in derselben Weise. Denn wie 
die Umsetzung ins GroBe, das heiBt nur ins raumlich GroBe, dessen, 
was den Frauen am Grabe des Christus Jesus geschehen war, erschei- 
nen uns die Kreuzzuge. Durch zahlreiche europaische Gemiiter geht 
zur Zeit der Kreuzzuge die Sehnsucht: Wir miissen suchen, was uns 
teuer ist, am Grabe des Christus Jesus! - Und ganze Scharen von 
Menschen bewegten sich nach dem Orient hiniiber, um auf diesem 
Wege zu finden, was sie finden wollten, weil es so ihren Empfindun- 
gen entsprach. Und wie kann man charakterisieren, was gerade die- 
jenigen empfunden haben, welche nach dem Oriente in den Kreuz- 
ziigen gezogen waren? Es war, wie wenn ihnen der ganze Orient 
geantwortet hatte: Der, den ihr suchet, der ist nicht mehr hier! - 
Driickt sich darin nicht symbolisch tief aus, daB wahrend des ganzen 
vierten nachatlantischen Zeitraumes die Menschheit suchen muBte auf 
dem auBeren physisch-sinnlichen Plane, daB aber der Christus gesucht 
werden muB auf dem geistigen Plan, auch insofern er in der Erdenwelt 
ist. 

Wo war denn der Christus, als die Frauen ihn am Grabe suchten? 
Er war im Geistigen, dort, wo er den Aposteln erscheinen konnte, 
als sie ihre Herzen, ihre Seelen aufschlossen, um durch die nicht bloB 
sinnlichen Krafte den im atherischen Leibe eine Zeitlang nach dem 
Mysterium von Goigatha herumwandelnden Christus zu schauen. 

Wo war denn der Christus, als die Kreuzfahrer ihn auBerlich auf 
dem physischen Plane im Osten suchten? Auf die Art, wie er als 
Tatsache in die Menschenseelen einziehen kann, sehen wir ihn zu glei- 
cher Zeit, als ihn die Kreuzfahrer im Osten suchten, einziehen in die 
Mystiker des Abendlandes. Da ist diese Christus-Kraft, da ist der 
Christus-Impuls ! Wahrend die Kreuzfahrer nach dem Osten ziehen, 
um den Christus auf ihre Art zu suchen, lebt der lebendige Impuls des 



Christus - so, wie er in Europa nach den Zeitverhaltnissen auf leben 
konnte - auf in den Seelen eines Johannes Tauter, eines Meister Eckhart 
und anderer, die ihn nach den Verhaltnissen der damaligen Zeit auf- 
nehmen konnten, lebte auf im Geistigen. Er war mittlerweile heriiber- 
gezogen in die abendlandische Kultur und hinweggezogen von dem 
Orte, wo er gewesen war und wo denjenigen, die ihn suchten, die 
Antwort gegeben werden muBte: Der, den ihr suchet, der ist nicht 
mehr hier! 

Der funfte nachatlantische Kulturzeitraum ist die Zeit der Ausbil- 
dung des Ich, das heiBt, eigentlich der BewuBtseinsseele gewidmet, 
Aber der Mensch geht ja durch die BewuBtseinsseele hindurch, damit 
er sich seines Ichs vollstandig bewuBt werden kann. Von diesen 
geisteswissenschaftlichen Wahrheiten haben wir ja oftmals gespro- 
chen. Ich spreche gerade in dieser Stunde iiber diese Wahrheiten noch 
mit einer ganz besonderen Empfindung. 

Es ist begreif lich, daB die Verkiindigung dieser Anschauungen in 
der Gegehwart noch Gegnerschaft iiber Gegnerschaft hervorruft. 
Aber bedeutsam fur dieses Gefiihl, das ich meine, bleibt es doch, 
wenn man zum Beispiel sagen muB: Sehen Sie, es ist jetzt notwendig 
geworden, daB ich die zweite Auflage meines Buches «Welt- und 
Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert» fertigstelle. Nun war dieses 
Buch, als es seinerzeit erschien, ein «Jahrhundertbuch», ein Riick- 
blick auf das verflossene Jahrhundert. Eine zweite Auflage kann 
natiirlich nicht dasselbe sein, denn es hat keinen Sinn, im Jahre 1913 
einen Riickblick auf das vorherige Jahrhundert zu schreiben. So muBte 
denn dieses Buch vielfach in seiner auBeren Fassung umgestaltet wer- 
den. Unter anderem sah ich mich auch veranlaBt, eine lange Aus- 
fiihrung als Einleitung zu geben, die einen tJberblick von den altesten 
griechischen Zeiten bis eben zum 19. Jahrhundert vermitteln soil. So 
war ich gerade in dieser letzten Zeit genotigt, auch in dieser mehr 
philosophischen Weise, an meinem Blick voriiberziehen zu lassen die 
Weltanschauungen von Thales, von Pherekydes aus Syros und so wei- 
ter - eben mehr vom philosophischen Standpunkte aus - bis herein in 
unsere Zeit. Da hat man nicht nur das Spirituelle vor sich, sondern 
das, was geschichtliche Uberlieferung ist; und ich habe mir geradezu 



die Aufgabe gestellt, nur das zu schildern, was sich auf deti philo- 
sophischen Fortschritt bezieht und alle religiosen Impulse auszuschlie- 
Ben. Gerade dabei stellte sich mit einer tiefgehenden Klarheit die 
Wahrheit jenes merkwiirdigen Umschwunges heraus, der sich beim 
Aufgange des griechisch-lateinischen Zeitraumes vollzogen hat, wo 
aus dem alten bildhaften Auffassen der Welt, das noch im agyptisch- 
chaldaischen Zeitraume da war, sich das gedankliche Auffassen der 
Welt entwickelte, und wie sich dann vom 14., 15. Jahrhundert an 
das BewuBtsein vom Ich-Impuls - nicht der Ich-Impuls selbst, der 
zieht ja schon fruher in die Menschheit ein - herausentwickelt hat. 

Da wird es gleichsam, wenn man die einzelnen Philosophen auf 
ihren Wahrheitsgehalt hin durchnimmt, greifbar, geschichtlich greif- 
bar, wie wahr diese Dinge sind. Deshalb rede ich heute iiber diese 
Dinge von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus als es in jenem 
Buche geschehen kann und mit einer ganz besonderen Empfindung. 
Aber auch an der auBeren Geschichte kann man betrachten, wie das 
Ich-BewuBtsein, das Ich-Gefiihl sich hereindrangt in die menschliche 
Seele ungefahr um das 15. Jahrhundert herum. 

Diese neuere Epoche seit jener Zeit ist also vorziiglich dafiir be- 
stimmt, daB der Mensch gezwungen werde, die Energien, die Krafte 
seines Ichs an die Oberflache zu bringen, sich seines Ichs immer mehr 
und mehr bewuBt zu werden. Dazu ist besonders geeignet die Be- 
schrankung des Blickes auf die nur auBeren Sinneserscheinungen, 
eine solche Beschrankung, wie sie die moderne naturwissenschaftliche 
Entwickelung zeigt. Wenn der Mensch in seiner Umwelt nicht mehr 
dasjenige findet, was ihm in machtigen Imaginationen, in Bildern 
erschien im agyptisch-chaldaischen Zeitraume, oder was sich im grie- 
chisch-lateinischen in groBen Gedankentableaus auslebt wie bei Plato 
und Aristoteles und den zu jhnen gehorigen Denkern noch, sondern 
wenn der Mensch - ohne das Tableau der Imaginationen, ohne das 
Tableau des Gedankens, wie er noch bei Aristoteles im griechisch- 
lateinischen Zeitalter wahrgenommen worden ist - darauf angewiesen 
ist, nur das im Umkreise seiner Anschauung zu erblicken, was die 
Sinne bieten, dann muB das Ich, weil es das einzige Geistige nur in 
sich selber erahnen kann, sich selber ergreifen in seiner Wesenheit 



und suchen nach der Kraft seines SelbstbewuBtseins. Und alle ernst- 
zunehmenden Philosophen seit dem 15. Jahrhundert, wenn man sie in 
ihrem Nerv betrachtet, sieht man darnach ringen, eine Weltanschau- 
ung aufzubauen, die ein solches Weltbild ergibt, daB darin das Ich des 
Menschen, die selbstbewuBte Seele moglich ist und bestehen kann. 

Der vierte nachatlantische Kulturzeitraum, der die Verstandes- oder 
Gemiitsseele entwickelte, hatte aber, wenn audi seinem Verstandnis 
die Auffassung des Mysteriums von Golgatha feme, ganze feme lag, 
noch etwas, was ihm dieses Mysterium von Golgatha nahebringen 
konnte. Wir nennen die Verstandesseele ja auch Gemiitsseele, weil 
diese Seele wirklich eine Zweiheit ist, weil in der menschlichen Natur 
in dem Zeitraume, den wir den vierten nachatlantischen nennen, 
ebenso wie der Verstand auch das Gemiit, das Gefiihl, die Empfin- 
dung wirkte. Weil auch das Gemiit wirkte, so konnte, was dem Ver- 
stande verschlossen war, das Herz fiihlen, und es entstand jenes Ge- 
fiihlsverstandnis, das man auch nennen kann den Glauben, fur das 
Mysterium von Golgatha, das heifit, die Menschenseele hatte innerlich 
ein Gefiihl fur den Christus-Impuls. Die Menschen fiihlten den 
Christus-Impuls sich einwohnend; sie fiihlten sich innerlich, seelisch 
mit dem Christus-Impuls verbunden, auch wenn sie seine Bedeutung, 
sein Wesen nicht verstehen konnten. Es war der Christus fur sie da. 
Dieses Da- Sein muBte aber im Zei taker der Ich-Kultur, in der wir 
jetzt stehen, noch weiter dahinschwinden; denn das Ich muB gerade, 
damit es sich in seiner Vereinzelung voll erfassen kann, sich ab- 
schlieBen von allem, was an spirituellen Impulsen unmittelbar zur 
Seele dringt. So sehen wir denn ein sehr merkwiirdiges Schauspiel. 
Wir sehen mit dem Herauf kommen des neuen Zeitraumes, schon als 
er sich ankiindigt, so recht klar, wie zu dem alten Nichtverstehen 
ein neues Nichtverstehen kommt, ja, ein Nichtverstehen, das noch wei- 
ter geht als das alte. Wer die Tatsachen des spirituellen Lebens priift, 
muB es begreif lich finden, daB der vierte nachatlantische Kulturzeit- 
raum nur mit dem Gemiit den Christus-Impuls aufnehmen konnte, 
ihn aber nicht geistig wirklich erfassen konnte. Aber man wuBte 
durch das, was man aufnehmen konnte, daB der Christus da ist, daB 
er wirksam ist in der Menschheitsentwickelung. Man fuhlte es. 



Mit dem neuen, dem funften Zeitraum, kiindigte sich noch etwas 
ganz anderes an. Nicht nur, daB man jetzt Unverstandnis gegeniiber 
dem Christus-Wesen entwickelte, sondern auch Unverstandnis iiber- 
haupt gegeniiber allem Gottlich-Geistigen. Und was ist der Beweis 
dafiir - man konnte viele Beweise finden, aber einer spricht besonders 
klar und^deutlich dafiir -, wie man vorriickte in dem Unverstandnis, 
das heiBt, daB die Menschen nicht mehr unmittelbar aufnehmen 
konnten nicht nur das Christus-Prinzip, sondern auch das gottlich- 
geistige Prinzip iiberhaupt? Im 12. Jahrhundert, wie vorausver- 
kiindend die Ich-Kultur, erfindet Anselmus, der Erzbischof von 
Canterbury, den sogenannten Gottesbeweis ; das heiBt, dieser Mann 
findet sich genotigt, die Gottheit zu «beweisen». Was beweist man 
denn in solcher Art? Das, was man weiB oder das, was man nicht 
weiB? Wenn beispielsweise in meinem Garten gestohlen worden ist, 
und ich kann vom Fenster aus den Dieb beobachten, wie er die Tat- 
sache des Diebstahls vollzieht, dann habe ich nicht notig zu be- 
weisen, daB dieser Mensch es war, der gestohlen hat. Ich suche es 
nur dann zu beweisen, wenn ich ihn nicht kenne. Die Tatsache, daB 
man Gott zu beweisen sucht, ist ein Beweis dafiir, daB man ihn nicht 
mehr kennt, nicht mehr erlebt. Denn was man erlebt, beweist man 
nicht, sondern was man nicht erlebt, das bew T eist man. Und dann 
ging es mit dem Nichtverstehen eigentlich immer welter und weiter, 
und heute stehen wir in dieser Beziehung an einem merkwiirdigen 
Punkt. Ofter ist auch von dieser Stelle aus beriihrt worden, welche 
unendlichen MiBverstandnisse sich in den letzten Jahrhunderten, ins- 
besondere im letzten, aufgetiirmt haben gegeniiber dem Verstand- 
nisse dessen, was das Mysterium von Golgatha, was der Christus 
Jesus ist, bis zum jetzigen Zeitpunkt, wo selbst von theologischer 
Seite der Christus Jesus nicht nur herabgewurdigt, herabgewertet 
worden ist zu einem wenn auch hervorragenden menschlichen Lehrer, 
sondern, sogar auch von theologischer Seite, in seiner Existenz voll- 
standig geleugnet wird. 

Aber alles dieses hangt ja zusammen mit viel, viel tieferen, charak- 
teristischen Eigenschaften unseres Zeitalters. Nur ist die schnellebige 
Art unserer Zeit eigentlich nicht dazu bereit, auf das besonders 



Charakteristische unser er Zeit zu achten ; aber die Tatsachen sprechen 
fur den, der beobachten will, eine deutliche, eine nur allzudeutliche 
Sprache. 

Nehmen wir eine Tatsache; ich fiihre Kleinigkeiten an, aber solche 
Kleinigkeiten sind eben Symptome. In einer sehr bekannten Wochen- 
schrift fand sich vor kurzer Zeit ein hochst merkwiirdiger Aufsatz, 
der gegenwartig ofter genannt wird, mit Respekt genannt wird. Er 
lief auf etwas Sonderbares hinaus, namlich darauf : Wenn man so die 
Weltanschauungen, die in den letzten Jahrhunderten aufgetreten sind, 
betrachte, so habe man eigentlich zu sehr «Begriffe» vor sich; diese 
Begriffe seien zu unanschaulich. In unsere Sprache iibersetzt, heiBt es : 
Sie sind nicht in der Sinneswelt, auf die man sich beschranken will, 
begreifbar. So findet dieser betreffende Schriftsteller sonderbarer- 
weise, daB der Philosoph Spinoza schwer verstandlich sei, wie er aus 
einem einzigen Begriff heraus, dem Begriff der gottlichen Substanz, 
die Welt zu begreifen sucht. Da macht denn dieser Schriftsteller zur 
Reform des philosophischen Verstandnisses unserer Zeit einen gewis- 
sen Vorschlag, der darauf hinauslauft, anschaulich darzustellen, wie ein 
Begriff oben die Spitze bildet, und wie dann die Begriffe auseinander- 
gehen, sich spalten; kurz, er macht den Vorschlag, Spinozas Ge- 
dankengebaude so zu «veranschaulichen», wie man oft ein Schema 
hinstellt, damit man nicht mehr zu verfolgen brauche, wie sich die 
Gedanken in der Seele des Spinoza darstellen, sondern es sinnlich im 
Film vor sich haben konne. - So wird man vielleicht, wenn sich 
solche «Ideale» erfullen, nachstens in die Kinematographentheater 
gehen, um so die kinematographischen - nicht Aufnahmen, sondern 
«t)bersetzungen», die Gedanken- und Ideengebaude bedeutender 
Manner zu sehen, zu verfolgen! 

Es ist das ein bedeutsames Symptom dafiir, wozu es die Menschen- 
seele in unserer Zeit gebracht hat, ein Symptom, das man wohl er- 
wahnen muB aus einem ganz bestimmten Grunde: Weil man nicht 
wahrgenommen hat, was man hatte wahrnehmen mussen, wenn in 
gesunder Weise ein solches Symptom betrachtet worden ware: daB 
ein Hohngelachter sich hatte entwickeln mussen iiber diese Narretei, 
iiber den Wahnsinn, der in einer solchen Philosophiereform liegt! 



Denn der Eifer, der sich in einem solchen Hohngelachter ausdnicken 
wiirde, der ist wohl schon eine heilige Notwendigkeit zu nennen. 

Das ist ein Symptom - denn es ist eben als ein Symptom zu be- 
trachten - dafiir, wie notwendig unserem Zeitalter die spirituelle Ver- 
tiefung ist, aber die wahre spirituelle Vertiefung. Denn nicht nur 
spirituelle Vertiefung uberhaupt ist notwendig, sondern jene spiri- 
tuelle Vertiefung, die, wenn sie die echte ist, in die Wahrheit fiihren 
muB; die ist es, die den Seelen der Gegenwart not tut. Unsere Zeit 
ist gerade dort, wo Bildung und gar Weltanschauungsbildung zu 
Hause sein will, nur zu sehr geneigt, sich mit dem zu begniigen, 
was von wirklicher Spiritualitat weit, weit wegfuhrt. Denn unsere Zeit 
begmigt sich leicht mit dem Schein; aber der Schein fuhrt auf irgend- 
einem Wege doch, wenn er fur die Stromung auftritt, fur die er hier 
gemeint ist, zur inneren Unwahrheit und Unwahrhaftigkeit. Dafiir ein 
anderes Symptom. 

Man kann heute vielfach eine Weltanschauung rvihmen horen, die 
viel Aufsehen gemacht hat: die des Philosophen Eucken. Nicht nur, 
daB Eucken einen weltberiihmten Preis, den Nobel-Preis erhalten hat 
fiir seine Weltanschauung, sondern er wird auch geriihmt als der- 
jenige, der den Menschen wieder vom Geist zu reden wagt. Dieses 
Riihmen geschieht aber nicht, weil dieser Eucken so schon vom Geist 
spricht, sondern weil sich die Menschen, wenn es sich um den Geist 
handelt, sich heute so leicht begniigen mit dem Allergeringsten, wenn 
ihnen nur etwas von dem Geiste vorgepredigt wird und weil Eucken 
immerzu, in unzahligen Umwandelungen, von dem Satze redet, den 
man in seinen Biichern immer wieder lesen kann, nur merken die 
Menschen nicht, daB es ewige Wiederholungen sind: Es genuge nicht, 
zu begreifen, daB die Welt sinnlich ist, sondern der Mensch miisse 
sich innerlich erfassen und sich so - innerlich - mit dem Geiste zu- 
sammenschlieBen. - Nun haben wir es : Der Mensch muB sich inner- 
lich erfassen und muB sich innerlich mit dem Geiste zusammen- 
schlieBen! Immer wieder tritt einem dieser Satz in den Biichern 
Euckens entgegen, und nicht bloB drei- oder viermal, sondern gleich 
fiinf- oder sechsmal: also ist das eine «geistige» Weltanschauung! - 
Gerade solche Symptome sind bedeutsam, weil wir an ihnen sehen, was 



heiite fur «groB» gehalten werden kann bei denen, die sich zu den 
besten Verstehern rechnen miissen. Aber konnte man doch nur lesen! 
Denn wenn man das letzte Buch von Eucken, «K6nnen wir noch 
Christen sein?», aufschlagt, dann findet man dort einen merk- 
wiirdigen Satz, der ungefahr so heiBt: Heute sei der Mensch dariiber 
hinaus, noch an Damonen zu glauben, wie man unmittelbar in dem 
Zei talter des Christus an Damonen geglaubt habe; man brauche heute 
eine andere Christus-Darstellung, die nicht mehr die Damonen dar- 
stelle und als Wahrheit hinnehme. - Sehr schmeichelhaft ist es fur 
jeden Menschen der heutigen aufgeklarten Zeit, daB ihm der groBe 
Lehrer Eucken vorhalt, daB er dariiber hinaus sei, heute noch an 
Damonen zu glauben. Liest man aber das Buch weiter, so findet man 
einen merkwurdigen Satz: «Die Beruhrung von Gottlichem und 
Menschlichem erzeugt damonische Machte.» 

Ich mochte einmal fragen, ob wirklich alle Leute, die das Eucken- 
sche Buch gelesen haben, gelacht haben iiber diese Euckensche Naivi- 
tat, will sagen «Weisheit», die es zustande bringt, auf der einen Seite 
zu sagen, man sei iiber den Glauben an Damonen hinaus und auf der 
anderen Seite iiber ein «Damonisches» redet. Selbstverstandlich wer- 
den die Eucken-Leute sagen: Da ist das Damonische in iibertragenem 
Sinne gemeint, da ist es nicht so ernst gemeint. - Aber darum han- 
delt es sich gerade, daB die Leute Worte und Ideen gebrauchen und 
sie nicht ernst nehmen. Ja, darin liegt die tiefe innere Unwahrhaftig- 
keit! Zu der wirklichen geisteswissenschaftlichen Weltanschauung 
aber gehort es, sich bewuBt zu werden, daB man die Worte ernst zu 
nehmen hat und nicht von einem Damonischen spricht, wenn man 
nicht die Absicht hat, das Wort ernst zu nehmen. 

Es konnte sonst den Leuten immer wieder so gehen, wie es dem 
Vorsitzenden eines Weltanschauungsvereins gegangen ist, in dem ich 
einen Vortrag zu halten hatte. Ich machte in dem Vortrag darauf 
aufmerksam, daB in dem Buche von Adolf von Harnack «Das Wesen 
des Christentums» steht, daB es nicht das Wesentliche sei, zu erfahren, 
was auf Golgatha geschehen sei, das konne man dahingestellt sein 
lassen; aber nicht diirfe man dahingestellt sein lassen, daB von jener 
Zeit ausgegangen sei der Glaube an das Mysterium von Golgatha - 



gleichgiiltig, ob der Glaube sich auf etwas Wirkliches bezieht oder 
nicht. Der BetrefFende - er war Vorsitzender eines Berliner Welt- 
anschauungsvereins und selbstverstandlich Protestant ~ sagte zu mir: 
Ich habe das Buch gelesen, aber das nicht darin gefunden; das kann 
Harnack nicht gesagt haben, denn das ware ja eine katholische Idee. 
Die Katholiken sagen zum Beispiel: Was auch hinter dem Heiligen 
Rock zu Trier steht, das ist nicht das Wichtige, der Glaube daran ist 
das Wichtige. - Ich muBte ihm dann die Seite aufschreiben, wo der 
Satz steht. Vielleicht geht es vielen Leuten so, daB sie ein Buch lesen, 
aber gerade das Wichtige, das symptomatisch 1st, nicht gelesen haben. 

So haben wir ein Streiflicht auf unsere Zeit geworfen. Hier ent- 
decken wir eine Notwendigkeit, die besonders fur unsere Zeit vorliegt, 
aus den Symptomen der Gegenwart heraus : die Notwendigkeit, daB 
sich wirklich geistige Gewissenhaftigkeit in unserem Zeitalter ent- 
wickeln moge, daB wir lernen mogen, so etwas nicht mit Gleich- 
giiltigkeit hinzunehmen, wenn der Vertreter einer geistigen Welt- 
anschauung einmal sagt, man sei iiber die Damonen hinaus und nach- 
her das Wort «damonisch» in einem sonderbaren Sinne gebraucht. 
Wenn man aber bedenkt, daB wir im Zeitalter der «Zeitungskultur» 
leben, dann darf man nicht etwa sagen, man habe wenig Hoffhung, daB 
eine solche Kultur der Gewissenhaftigkeit sich schon entwickeln 
konne ; sondern man muB sagen, daB es um so notwendiger ist, alles 
zu tun, was zu einer solchen Kultur der Gewissenhaftigkeit fiihren 
konne. Es wird das ja intensiv durch die Geisteswissenschaft vor- 
bereitet; aber man muB die Augen aufmachen, um die Symptome 
unserer Zeit zu sehen. 

Auf noch eine Tatsache will ich hinweisen. Von den sechziger 
Jahren des 19. Jahrhunderts an hat das Buch von Ernest Renan «Das 
Leben Jesu» einen ungeheuren Eindruck gemacht. Ich erwahne be- 
sonders diese Tatsache, um zu zeigen, wie es in unserer Zeit um das 
Verstandnis des Mysteriums von Golgatha steht. Wenn man das 
Buch von Ernest Renan liest, so sagt man sich: Nun, da schreibt 
erstens ein Mensch in einem wunderschonen Stile, ein Mensch, der 
alle die Statten des Heiligen Landes durchwandert hat und daher 
schonstes Lokalkolorit zu geben vermag; und dann schreibt darin ein 



Mensch, der nicht an die Gottheit Christi glaubt, der aber mit unend- 
licher Verehrung von der erhabenen Gestalt des Jesus spricht. Aber 
nun gehe man auf die Darstellung genauer ein. Da schildert sonder- 
barerweise Ernest Renan den Fortgang in dem Leben Jesu so, daB er 
eigentlich zeigt, daB es dem Jesus geht, wie es so jedem geht - man- 
chem in groBerem, manchem in kleinerem MaBstabe der irgendeine 
Weltanschauung vor irgendeiner groBeren oder geringeren Anzahl von 
Menschen zu vertreten hat. Und so ungefahr geht es einem solchen 
Menschen: Zuerst tritt er mit dem auf, was er nur allein glaubt und 
tritt damit vor die Menge hin; dann kommen die Menschen heran; 
der eine hat dies Bediirfnis, der andere jenes, der eine versteht die 
Sache so, der andere so, der eine hat diese Schwache, der andere 
jene, und dann kommt der, welcher zuerst aus einer inneren Wahr- 
hek heraus gesprochen hat, dazu, sozusagen klein beizugeben. Kurz, 
Renan meint, mancher, der Bedeutendes zu sagen habe, zeige, daB 
ihm dies im Grunde genommen die Anhanger verdorben haben. Und 
er hat die Ansicht, auch der Christus Jesus sei von seinen Anhangern 
verdorben worden. Man nehme zum Beispiel das Lazarus-Wunder. 
So wie es dargestellt ist, sei ja doch das darin enthalten, daB man 
sagen miisse: Das Ganze ware doch so etwas wie ein Schwindel, 
HeB sich aber gut gebrauchen, damit die Sache sich ausbreite; darum 
habe Jesus es geschehen lassen. Und so sind andere Dinge dar- 
gestellt. Dann aber, nachdem dargestellt worden ist, wie nach und 
nach das Leben des Christus Jesus ein Niedergang ist, folgt wieder 
am Schlusse ein Hymnus, der nur wie an das Allerhochste gerichtet 
werden kann. - Nun nehmen wir einmal diese innere Unwahrheit! 
In dem Buch von Renan ist Tatsache eine Mischung von zwei Din- 
gen: etwas auBerordentlich Schones, eine glanzende, in manchen 
Partien erhabene Darstellung durchmischt sich mit einem Hinter- 
treppenroman - aber zum Schlusse ein ungeheurer Hymnus auf das 
erhabene Bild des Jesus. Auf was richtet sich dieser Hymnus? Auf 
den Jesus ? Auf den, den Renan selbst schildert, kann er sich eigent- 
lich nicht recht richten, wenn man eine gesunde Seele hat; denn 
diese Lobeserhebungen wiirde man nicht sprechen auf den Christus 
Jesus, den Renan darstellt. Also ist das Ganze doch innerlich unwahr ! 



Was habe ich Ihnen denn eigentlich mit diesen Betrachtungen 
andeuten wollen? Ich mochte es zum SchluB in wenige Worte zusam- 
menfassen. Ich habe andeuten wollen, daB das Mysterium von Gol- 
gatha gefallen ist in ein Zeitalter der Menschheitsentwickelung, in 
welchem die Menschheit nicht vorbereitet war, es zu verstehen, daB 
aber auch in unserem Zeitalter die Menschheit noch immer nicht 
dazu vorbereitet ist. 

Aber seine Wirkung besteht seit zweitausend Jahren! Diese Wk- 
kung ist da. Wie ist sie da? So, daB sie unabhangig ist von dem 
Verstandnis, das ihr die Menschheit bis heute entgegengebracht hat. 
Hatte der Christus in der Menschheit nur in dem MaBe wirken kon- 
nen, als er «verstanden» worden ist, so hatte er nur wenig wirken 
konnen. Aber auch das werden wir in zukiinttigen Betrachtungen 
sehen, daB wir im gegenwartigen Zeitraum in einem Entwickelungs- 
punkte leben, wo es eben notwendig ist, jenes Verstandnis zu ent- 
wickeln, das bisher nicht da war. Denn wir leben in dem Zeitraum, 
in welchem eine gewisse Notwendigkeit entstehen wird, den Christus 
nicht mehr dort zu suchen, wo er nicht ist, sondern da, wo er wirk- 
lich ist. Denn er wird im Geistigen erscheinen und nicht im Leibe, 
und die ihn im Leibe suchen werden, werden immer wieder die Ant- 
wort bekommen: Der, den ihr im Leibe suchet, der ist nicht im 
Leibe! - Ein neues Verstandnis, das vielleicht in vieler Beziehung 
sogar ein erstes Verstandnis des Mysteriums von Golgatha sein wird, 
brauchen wir. Die Zeit des Nichtverstehens muB der Zeit des ersten 
Verstehens weichen. Das ist es, was ich mit den heutigen Betrach- 
tungen andeuten wollte und was wir bei den nachsten Betrachtungen 
fortsetzen werden. 



Berlin, 4. November 1913 
Zweiter Vortrag 



Durch ein okkultes Studmm, welches in entsprechender Weise an- 
gestellt wird, ist es in unserer Zeit moglich, dasjenige gewisser- 
maBen zu erfahren, was man nennen konnte das Fiinfte Evangelium. 
Wenn Sie Ihre Seelen auf mancherlei von dem richten, was im Laufe 
der Jahre in bezug auf das Mysterium von Golgatha gesagt worden 
ist, so wird Ihnen unter mancherlei, was gesagt worden ist, urn die 
vier Evangelien zu erklaren, auch solches begegnet sein, was als Mit- 
teilung iiber das Leben des Christus Jesus nicht in den Evangelien 
steht. Ich erwahne aus der Reihe der in dieser Beziehung angefiihrten 
Tatsachen nur die Erzahlung von den beiden Jesusknaben. Aber es 
ist mancherlei anderes auch, was heute aus den rein geistigen Urkun- 
den gefunden werden kann und was wichtig ist fur unsere Zeit, so 
wichtig ist fur unsere Zeit, daB es eben wiinschenswert erscheint, 
daB die dazu vorbereiteten Seelen es nach und nach kennenlernen. 
Vorlaufig muB allerdings in unserem Kreise bleiben, was aus diesen 
Quellen heraus erzahlt wird. Aber es darf trotzdem so aufgefaBt 
werden, als wenn es eben etwas ware, was bestimmt ist, sich so in 
die Seelen unserer Gegenwart hineinzuergieBen, daB man ein noch viel 
anschaulicheres Bild des Christus Jesus-Wirkens empfangt, als dies 
bisher moglich gewesen ist. 

Wenn Sie das nehmen, was ich im ersten Vortrag als Einleitung 
vorgebracht habe, so werden Sie daraus den Eindruck empfangen 
haben, daB in unserer Zeit ein viel bewuBteres Erfassen der Gestalt 
des Christus Jesus notwendig ist, als es fur friihere Zeiten der Fall 
war. Wenn etwa eingewendet werden sollte, daB es gegen die christ- 
liche Entwickelung verstoBen wiirde, etwas Neues iiber das Leben des 
Christus Jesus vorzubringen, so braucht nur an den SchluB des 
Johannes-Evangeliums erinnert zu werden, wo ausdriicklich steht, daB 
in den Evangelien die Dinge nur teilweise aufgezeichnet sind, die 
geschehen sind, und daB die Welt die Biicher nicht hervorbringen 



konnte, die notwendig waren, wenn alles, was geschehen ist, auf- 
gezeichnet werden sollte. Aus solchen Dingen kann man den Mut 
und die Kraft empfangen, um dann, wenn es in einem Zeitalter 
notwendig ist, Neues uber das Leben des Christus Jesus vorzubrin- 
gen, dieses auch wirklich zu tun. Und wissen kann man aus solchen 
Dingen, daB es doch nur Engherzigkeit ist, wenn gegen solches Vor- 
bringen etwas gesagt wird. 

Nun mochte ich an das erinnern, was ich auch hier an diesem Orte 
ofter vorgebracht habe: daB im Beginne unserer Zeitrechnung zwei 
Jesusknaben geboren worden sind. Wir wissen das ja schon, und wir 
wissen auch, daB der eine der beiden Jesusknaben so geboren wor- 
den ist, daB in ihm das Ich, die Geistwesenheit des Zarathustra ver- 
korpert war, daB dieser Jesusknabe dann ungefahr bis zu seinem 
zwolften Jahre mit dieser Geistwesenheit des Zarathustra gelebt hat, 
bis zu jenem Zeitpunkte, den das Lukas-Evangelium so schildert, daB 
die Eltern den Jesus nach Jerusalem gefuhrt haben, ihn dann verloren 
haben, und daB er gefunden wurde unter den Schriftgelehrten, denen 
er in einer Weise, die sie und die Eltern in Verwunderung setzte, die 
Lehren ausgelegt habe, zu deren Auslegung sie selber berufen waren. 
Aufmerksam darauf habe ich gemacht, daB diese Szene, wie sie im 
Lukas-Evangelium geschildert wird, in Wahrheit darauf hinweist, daB 
das Ich des Zarathustra, das also durch ungefahr zwolf Jahre in dem 
einen Jesusknaben gelebt hat, hiniiberzog in den anderen, jetzt eben- 
falls zwolf jahrigen Jesusknaben, der bis dahin von einer ganz anderen 
Geistesart gewesen war; so daB wir jetzt jenen Jesusknaben haben, 
der aus der nathanischen Linie des Hauses David stammt, und der 
das Zarathustra-Ich bis zum zwolften Jahre nicht in sich hatte, es aber 
von jetzt ab in sich hat. 

Es ist nun moglich, mit den Mitteln, von denen ich ofter ge- 
sprochen habe, die man bezeichnen kann als das Lesen in der Akasha- 
Chronik, weitere Einblicke zu bekommen in das Leben jenes nun mit 
dem Zarathustra-Ich ausgestatteten Jesusknaben. Man kann dabei drei 
Zeitraume in dem Leben dieses Jesus unterscheiden. Der eine Zeit- 
raum erstreckt sich ungefahr vom zwolften bis zum achtzehnten 
Lebensjahre, der zweite vom achtzehnten bis zum vierundzwanzigsten 



und der dritte etwa vom vierundzwanzigsten Lebensjahre bis zu dem 
Zeitpunkt, der durch die Johannestaufe im Jordan gekennzeichnet 
wird, also bis gegen das dreiBigste Lebensjahr. 

Fassen wir ins Auge, daB jener Jesus knabe, der nun mit seinem 
zwolften Jahre das Zarathustra-Ich in sich hatte, vor den Schrift- 
gelehrten des israelitischen Volkes sich darstellt als eine Individuali- 
st, die ein elementarisches Wissen hatte iiber das, was das Wesen 
der judischen Lehre war, was das Wesen der alten hebraischen Ge- 
setzeskunde war, und daB er imstande war, dariiber in sachgemaBer 
Weise zu sprechen. Es lebte also in der Seele jenes Jesusknaben diese 
althebraische Welt. Alles das namentlich lebte in ihm, was herunter- 
gekommen war an Nachrichten iiber das Verhaltnis des hebraischen 
Volkes zu seinem Gotte, was gewohnlich als die Verkiindigung des 
Gottes des hebraischen Volkes an Moses aufgefaBt wird. Wenn wir 
skizzenhaft sprechen, konnen wir also sagen: Ein reicher Schatz aus 
der heiligen Lehre dessen, was im hebraischen Volke war, lebte in 
Jesus ; und mit diesem Schatze, mit diesem Wissen lebte er, das Ge- 
werbe seines Vaters treibend, in Nazareth, hingegeben dem, was er so 
wuBte, es in seiner Seele verarbeitend. 

Nun zeigt uns die Akasha-Chronik-Forschung, wie fur ihn das, was 
er so wuBte, ein Quell wurde von mancherlei seelischen Zweifeln 
und seelischen Schmerzen, wie er namentlich im tiefsten Sinne emp- 
fand, immer gnindlicher und unter schweren inneren Seelenkampfen 
empfand, wie zwar einstmals in ganz anderen Zeiten der Mensch- 
heitsentwickelung eine grandiose Verkiindigung, eine grandiose 
Offenbarung heruntergeflossen ist aus den geistigen Welten in die 
Seelen derjenigen, die damals, ausgestattet mit ganz anderen Seelen- 
kraften, eine solche Lehre empfangen konnten. Das trat besonders 
vor die Seele jenes Jesus, daB einst Menschen da waren mit ganz an- 
deren Seelenkraften, die hinaufschauen konnten zu den sich offen- 
barenden Geistesmachten und in einer ganz anderen Weise verstan- 
den, was da geofFenbart wurde, als das spatere Geschlecht, dem er 
selbst nun angehorte, das abgeleitete, das weniger hinaufgeleitete 
Seelenkrafte hatte, um das zu verarbeiten, was einst heruntergeleitet 
worden war. Oft kam fur ihn der Augenblick, wo er sich sagte : Das 



alles ist einst verkiindet worden, man kann es heute noch wissen; 
aber nicht mehr kann man es so voll erfassen, wie es diejenigen 
erfaBt haben, welche es damals bekommen hatten. - Und je mehr sich 
von diesem ihm innerlich offenbarte, je mehr er von diesem in seine 
Seele hereinbekam, wie er es jetzt bekam, als er vor den judischen 
Schriftgelehrten stand und ihnen ihre eigene Gesetzeskunde auslegte, 
desto mehr empfand er das Unvermogen der Seelen seiner Zeit, sich 
hineinzufinden in das, was alte hebraische Offenbarung war. Daher 
kamen ihm die Menschen, die Seelen seiner Zeit, die Charakter- 
eigentiimlichkeiten dieser Seelen seiner Zeit so vor wie die Nach- 
kommen von Menschen, die einst groBe OfFenbarungen bekommen 
hatten, die aber jetzt nicht mehr hinaufreichen konnten zu dieser 
Offenbarung. Was einst hell flammend und mit groBter Warme in 
diese Seelen gezogen sein mochte - so konnte er sich oft sagen -, 
das verblaBte jetzt, das kam einem in vieler Beziehung ode vor, 
wahrend die Seelen es friiher in tiefstem Sinne empfunden hatten. 
So empfand er gegemiber vielem, was jetzt durch Inspiration mehr 
und mehr in seiner Seele auftauchte. 

Das war das Leben seiner Seele vom zwolften bis achtzehnten 
Jahre, daB sie immer tiefer und tiefer in die judische Lehre ein- 
drang, und immer weniger von ihr befriedigt sein konnte, ja, daB sie 
ihm immer mehr Schmerzen und Leiden machte. Es erfullt die Seele 
mit tiefster tragischer Empfindung, wenn man darauf hinblickt, wie 
der Jesus von Nazareth zu leiden hatte unter dem, was aus einer ur- 
alt heiligen Lehre in einem spateren Menschengeschlecht geworden 
war. Und oftmals sagte er sich, wenn er still traumend, sinnend 
dasaB: Die Lehre ist einstmals heruntergeflossen, die Offenbarung 
ward einstmals den Menschen gegeben; aber jetzt sind die Menschen 
nicht mehr da, die sie zu fassen vermogen! - Das charakterisiert 
in skizzenhafter Weise die Seelenstimmung des Jesus von Nazareth. 
Das wirkte in dem Nachsinnen seiner Seele in jenen Augenblicken, 
die ihm ubrigblieben innerhalb der Zeit, die er verbrachte als Hand- 
werker, als Tischler oder als Schreiner in Nazareth. 

Dann kam vom achtzehnten bis zum vierundzwanzigsten Jahre die 
Zeit, in welcher er in nahen und auch in etwas ferneren Gegenden 



herumzog. Er beriihrte bei diesem Herumziehen, wo er in seinem Ge- 
werbe an den verschiedensten Orten arbeitete, nicht nur Orte Pala- 
stinas, sondern auch auBerhalb Palastinas. Er lernte in diesen Jahren, 
in denen die Menschenseele so frisch hingegeben an die Umgebung 
vieles aufnimmt, viele Menschen und viele Menschengesinnungen 
kennen, lernte kennen, wie die Menschenseelen mit dem lebten, was 
ihnen als uralt heilige Lehre geblieben war, das heiBt mit dem, was 
sie davon verstehen konnten. Und es ist von vornherein verstandlich, 
daB auf ein Gemiit, das durch sechs Jahre dieses durchgemacht hatte, 
was ich eben erzahlte, alles, was an inneren Freuden, Leiden, Ent- 
tauschungen auf der Seele lastete, einen ganz anderen Eindruck ma- 
chen muBte als auf das Gemiit anderer Menschen. Jede Seele war fur 
ihn ein Ratsel, das er zu losen hatte; jede Seele war aber auch etwas, 
das ihm sagte, daB sie wartet auf etwas, was da kommen miisse. 

Unter den mancherlei Gegenden, die er beriihrte, waren auch sol- 
che, die dem damaligen Heidentume angehorten. Eine Szene, die uns 
aus dem Geistgemalde dieser seiner Wanderungen inner- und auBer- 
halb Palastinas in der Zeit von seinem achtzehnten bis vierundzwan- 
zigsten Jahre heriiberleuchtet, machte einen ganz besonders tiefen Ein- 
druck. Da erblickt man ihn einmal ankommend an einer heidnischen 
Kultstatte, an einer solchen heidnischen Kultstatte, wie sie den heid- 
nischen Gottern unter diesem oder jenem Namen in Asien, Afrika und 
Europa errichtet waren. Es war eine jener Kultstatten, wie sie in ihren 
Zeremonien erinnerten an die Art, wie diese in den Mysterien auch 
geubt wurde, dort aber mit Verstandnis geiibt wurde, wahrend sie in 
diesen heidnischen Kultstatten oft in eine Art auBerlichen Zere- 
moniells iibergegangen waren. Aber es war dies eine solche Kultstatte, 
an die der Jesus von Nazareth kam, die von ihren Priestern verlassen 
war, wo also der Kult nicht mehr verrichtet wurde. Das war in einer 
Gegend, wo die Leute in Not und Elend, in Krankheit und Miihselig- 
keit lebten; ihre Kultstatte war von den Priestern verlassen. Als der 
Jesus von Nazareth aber an diese Kultstatte kam, da versammelten 
sich die Leute um ihn herum, die Leute, die vielfach geplagt waren von 
Krankheit, Elend und Not, aber namentlich geplagt waren von dem 
Gedanken : Das ist die Statte, wo wir uns einst versammelt haben, wo 



die Priester mit uns geopfert haben und uns die Wir kung der Gotter 
gezeigt haben; jetzt stehen wir vor der verlassenen Kultstatte. 

Ein eigentiimlicher Zug in der Seele des Jesus tritt dabei dem 
spirituell Betrachtenden entgegen. Schon bei anderen Wanderungen 
konnte man bemerken, daB der Jesus uberall aufgenommen wurde in 
einer ganz besonderen Art. Die Grundstimmung seiner Seele verbrei- 
tete etwas, was milde und wohltatig auf die Menschen wirkte, in deren 
Kreisen er sich aufhalten konnte. Er reiste von Ort zu Ort, arbeitete 
da und dort in dieser oder jener Schreinerwerkstatte und saB dann mit 
den Leuten zusammen, mit denen er sich unterhielt. Jedes Wort, das 
er sprach, wurde in einer besonderen Weise aufgefaBt, denn es war in 
einer ganz besonderen Weise gesprochen; es war durchzogen von der 
Milde und dem Wohlwollen des Herzens. Nicht so sehr das Was, son- 
dern das Wie goB etwas wie einen Zauberhauch in die Seelen der Men- 
schen. Es bildeten sich uberall herzliche Verhaltnisse zu dem Herum- 
wandernden. Man nahm ihn nicht wie einen anderen Menschen; man 
sah aus seinen Augen etwas Besonderes strahlen, fuhlte aus seinem 
Herzen etwas Besonderes sprechen. 

Und so war es auch, als ob in den Leuten, die in Miihsal und in 
Elend und Not um ihren Altar herumstanden und sahen, wie da ein 
Fremder gekommen war, als ob in jeder Seele gelebt hatte der Gedanke : 
Ein Priester ist uns gekommen, der nun wieder das Opfer an dem 
Altar verrichten will! - Das war die Stimmung, die um ihn herum war, 
durch den Eindruck hervorgerufen, den sein Ankommen machte. Es 
war, wie wenn er den Heiden als Priester erschienen ware, der wieder 
ihr Opfer verrichten wiirde. 

Und siehe da, als er so stand vor den Versammelten, da fuhlte er 
sich in einem bestimmten Augenblicke wie entrvickt, wie in einen be- 
sonderen Seelenzustand gebracht - und er schaute Grausiges! Er 
schaute am Altare und unter der Volksmenge, die um ihn herum sich 
immer zahlreicher versammelte, das, was man Damonen nennen kann, 
und er erkannte, was diese Damonen zu bedeuten hatten. Er er- 
kannte, wie allmahlich die heidnischen Opfer ubergegangen waren in 
etwas, was solche Damonen magisch herbeizog. Und so waren, als 
Jesus an den Altar gekommen war, nicht nur die Menschen herbei- 



gekommen, sondern auch die Damonen, die sich bei den friiheren 
Opferhandlungen an dem Altar versammelt hatten. Denn dieses er- 
kannte er: daB zwar solche heidnische Opferhandlungen abstammten 
von dem, was in den alten Heiden2eiten und an guten Kultstatten den 
wahren Gottern, soweit sie fur die Heidenzeit erkennbar waren, an 
Opfertaten verrichtet werden konnte, daB aber diese Opfer nach und 
nach in Verfall gekommen waren. Es waren die Geheimnisse ausge- 
artet, und statt daB die Opfer zu den Gottern stromten, zogen diese 
Opfer und das, was an Gedanken in den Priestern lebte, Damonen 
herbei, luziferische und ahrimanische Gewalten, die er jetzt wiederum 
urn sich sah, nachdem er in einen anderen BewuBtseinszustand versetzt 
war. Und als die um ihn herum Versammelten gesehen hatten, wie er 
in diesen anderen BewuBtseinszustand versetzt war und deshalb hin- 
fiel, da ergriffen sie die Flucht. Die Damonen aber blieben. 

Auf eine noch eindringlichere Art als der Verfall der alten hebra- 
ischen Lehre war so vor die Seele des Jesus von Nazareth der Ver- 
fall der heidnischen Mysterien getreten. Von seinem zwolften bis acht- 
zehnten Jahre hatte er in sich erlebt, wie das, was einst der Mensch- 
heit gegeben war, so daB es die Seelen warmte und erleuchtete, nicht 
mehr wirken konnte und so zu einer gewissen Seelenverodung fuhrte. 
Jetzt sah er, wie an die Stelle der alten wohltatigen Gotterwirkungen 
Damonenwirkungen luziferischer und ahrimanischer Art getreten wa- 
ren. Er sah den Verfall des Heidentums an dem, was er da um sich 
herum spirituell wahrgenommen hatte. Stellen Sie sich diese Seelen- 
erlebnisse vor, diese Art zu erfahren, was aus der Wirkung der alten 
Gotter und dem Verkehr der Menschen mit den alten Gottern gewor- 
den war; stellen Sie sich die Empfindung vor, die auf diese Weise er- 
zeugt wird: Die Menschheit muB diirsten nach Neuem, denn sie wird 
elend in ihren Seelen, wenn nicht Neues kommt! 

Und der Jesus von Nazareth hatte damals, nachdem die Damonen 
ihn sozusagen betrachtet hatten und dann den niehenden Menschen 1 
nachgezogen waren, eine Art Vision, eine Vision, von der wir noch 
sprechen werden, in der ihm wie aus den geistigen Hohen der Ent- 
wickelungsgang der Menschheit auf eine besondere Art entgegen- 
tonte. Er hatte die Vision dessen, was ich in einem kunftigen Vor- 



trage mitteilen werde, was wie eine Art von makrokosmischem Vater- 
unser ist. Er empfand, was einstmals im reinen Wort, als reiner Logos 
der Menschheit verkiindet worden war. 

Als der Jesus von Nazareth von dieser Wanderung nach Hause 
kam, war es ungefahr urn die Zek - so stellt es uns die spiritueUe For- 
schung vor in welcher der Vater des Jesus von Nazareth gestorben 
war. In den folgenden Jahren dann, so vom vierundzwanzigsten Jahre 
bis zu der Zeit, die gekennzeichnet wird als die der Johannestaufe im 
Jordan, machte der Jesus von Nazareth Bekanntschaft mit dem, was 
man die Essaerlehre und die Essaergemeinschaft nennen kann. Die 
Essaer waren eine Gemeinschaft, die ihren Sitz in einem Tale Palastinas 
aufgeschlagen hatte. Der Zentralsitz war einsam gelegen. Aber die 
Essaer hatten iiberall Niederlassungen; auch in Nazareth war etwas 
wie eine Art Niederlassung. Die Essaer hatten sich die Aufgabe ge- 
stellt, ein besonderes Leben auszubilden, ein besonderes Seelenleben, 
das aber im Einklange stehen sollte mit dem auBeren Leben, wodurch 
die Seele sich hinaufentwickeln konnte zu einem hoheren Standpunkte 
des Erlebens, wodurch sie in eine Art Gemeinsamkeit mit der geisti- 
gen Welt kommen konnte. In gewissen Graden stieg man auf zu dem, 
was die Essaergemeinschaft ihren Mitgliedern, ihren Mitbekennern als 
das Hochste geben wollte : eine Art Vereinigung mit der hoheren Welt. 

Die Essaer hatten damit etwas ausgebildet, was gewissermaBen eine 
solche Pflege der Menschenseele bewirken sollte, welche diese Men- 
schenseele wieder geeignet machte, zu fassen, was durch den natur- 
gemaBen Gang der Menschheitsentwickelung nicht mehr gefaBt wer- 
den konnte : den alten Zusammenhang mit der gottlich-geistigen Welt. 
In strengen Regeln, die sich auch auf die auBere Lebensweise bezo- 
gen, suchten die Essaer das zu erreichen. Sie suchten es dadurch zu 
erreichen, daB sie sich sozusagen streng zuriickzogen vor der Beruh- 
rung mit alledem, was auBere Welt war. Ein solcher Essaer hatte kein 
personliches Eigentum. Die Essaer waren aus alien moglichen Teilen 
der damaligen Welt zusammengekommen. Jeder aber, der Essaer wer- 
den wollte, muBte das, was er an Besitz hatte, abgeben an die Essaer- 
gemeinschaft; nur die Essaergemeinschaft hatte Besitz, Eigentum. 
Wenn also irgendwie jemand an einem Orte etwas besaB, und er wollte 



Essaer werden, so iibergab er das Haus und was an Grundstiicken 
dazugehorte, der Essaergemeinschaft. Dadurch hatte diese an den ver- 
schiedensten Orten Besitzungen. Es ist ein eigentumlicher Grundsatz 
in der Essaergemeinschaft gewesen, der heute ganz gewiB nach unse- 
ren Anschauungen AnstoB erregen kann, der aber eben notwendig 
war fiir alles, was die Essaer gerade wollten. Sie pflegten das Leben 
der Seele dadurch, daB sie sich widmeten einem reinen Leben, einem 
Leben in Hingabe an die Weisheit, aber auch einem wohltatigen 
Leben in Liebe. So waren sie auch die, welche uberall, wo sie hin- 
kamen - und sie zogen ja in der Welt herum, um eben ihre Aufgabe 
zu erfiillen -, Wohltaten wirkten. Ein Teil ihrer Lehre war die Hei- 
lung der Kranken. Heilend wirkten sie iiberall nach der Art der dama- 
ligen Zeit. Aber auch an materieller Wohltatigkeit taten sie viel. Und 
da war jener Grundsatz geltend, der in unserer heutigen sozialen Ord- 
nung nicht nachgeahmt werden kann, wohl auch nicht nachgeahmt 
werden darf : ein Essaer konnte jeden unterstiitzen, den er fiir bediirf- 
tig hielt, nur keinen Familienangehorigen. 

Es gait diesen Essaern als Ideal, daB sie das Ziel hatten, die Seele zu 
vervollkommnen, um sie wieder zu einem Zusammenhang mit der 
geistigen Welt zu fuhren. Dieses Ziel der Essaer war darauf angelegt, 
an die Seele des Essaers nicht herankommen zu lassen die Versuchun- 
gen von Ahriman und Luzifer. Wir konnten also auch das Essaer- 
ideal so charakterisieren, daB wir sagen: Der Essaer versuchte alles, 
was man nennen kann luziferische und ahrimanische Verlockungen, 
von sich fernzuhalten. Er versuchte so zu leben, daB das, was ahri- 
manisches Herabziehen in die Sinnlichkeit, in die auBere Welt, in das 
materialistische Leben ist, gar nicht an ihn herankommen konnte. Er 
versuchte aber auch ein Leben in der Reinheit des Korpers zu fuhren, 
damit die aus der Seele aufsteigenden luziferischen Verlockungen und 
Versuchungen diese Seele nicht befallen konnten. Er versuchte also 
ein solches Leben zu fuhren, daB Luzifer und Ahriman nicht an die 
Essaerseele herankommen konnten. 

Durch die ganze Art und Weise, wie sich der Jesus von Nazareth 
entwickelt hatte, kam er in ein Verhaltnis zu den Essaern, wie es bei 
einem anderen Menschen nicht moglich gewesen ware, und in den 



Jahren, von denen ich hier spreche, iiberhaupt nicht moglich gewor- 
den ware, wenn er nicht selbst Essaer geworden ware. Der Jesus von 
Nazareth durfte sogar an der Zentralstatte der Essaer, soweit das 
iiberhaupt nur irgend moglich war innerhalb der strengen Regeln des 
Essaerordens, die Raumlichkeiten, die heiligsten, einsamsten Raum- 
lichkeiten betreten, durfte Gesprache mit den Essaern pflegen, die sie 
sonst nur untereinander pjflegten. Er konnte sich dabei einweihen in 
das, was tiefste Ordensregeln der Essaer waren. So lernte er kennen, 
wie der einzelne Essaer fiihlte und strebte und lebte, und er lernte vor 
allem empfinden - und das ist etwas von dem, worauf es ankommt 
was als auBerste Moglichkeit fur eine Seele seiner Zeit bestand, um 
durch Vervollkommnung wieder heranzudringen zu der uralt heiligen 
OrTenbarung. Das alles lernte er kennen. 

Eines Tages, als er die Versammlung der Essaer verlieB, hatte er ein 
bedeutsames Erlebnis. Als er zum Tore der einsamen Wohnstatte der 
Essaer hinausging, sah er zwei Gestalten von beiden Seiten des Tores 
wie wegfliehend, und er konnte empfinden, daB Luzifer und Ahriman 
das seien. Und ofter wiederholte sich ihm dies wie eine ahnliche 
Vision. Die Essaer waren ja ein an Menschen sehr zahlreicher Orden. 
Sie hatten iiberall ihre Niederlassungen auf die Art, wie ich es geschil- 
dert habe. Daher wurden sie als solche auch in einer gewissen Weise 
respektiert, obwohl sie ihr soziales Leben in einer ganz anderen Art 
fuhrten als die anderen Menschen der damaligen Zeit. Die Stadte, die 
sie besuchten, machten ihnen besondere Tore; denn der Essaer durfte 
- das gehorte zu seinen Regeln - durch kein Tor gehen, an dem ein 
Bildnis angebracht war. Er muBte, wenn er in eine Stadt wollte und 
*an ein Tor kam, wo ein Bildnis angebracht war, wieder umkehren 
und an einem anderen Orte zur Stadt hineingehen, wo kein Bildnis 
angebracht war. In dem ganzen System der Essaer- Vervollkomm- 
nungslehre spielte das eine gewisse Rolle, denn es war so, daB nichts 
von Legendenhaftem, Mythischem oder Religiosem im Bilde darge- 
stellt werden durfte. Das Luziferische der Bildimpulse wollte der 
Essaer dadurch fliehen. So lernte denn auf seinen Wanderungen der 
Jesus von Nazareth die bildlosen Essaertore kennen. Und immer wie- 
der und wieder zeigte sich ihm an diesen bildlosen Essaertoren, wie 



Luzifer und Ahriman wie unsichtbare Bildnisse sich dort hingestellt 
hatten, wo die sichtbaren Bildnisse verpont waren. Es waren das be- 
deutsame Erfahrungen in dem Leben des Jesus von Nazareth. 

Was ergab sich ihm aus diesen bedeutsamen Erfahrungen im Zu- 
sammenhange mit den zahlreichen Gesprachen, die er haben konnte 
mit den Essaern, die eine hohe Vollkommenheitsstufe erlangt hatten? 
Es ergab sich ihm etwas, was wieder ungeheuer bedruckend, tief, tief 
bedruckend auf seine Seele wirkte, was ihm unendliche Qualen und 
Schmerzen machte. Es ergab sich ihm namlich, daB er sich sagen 
muBte: Ja, da 1st eine streng in sich abgeschlossene Gemeinschaft; da 
sind Leute, die streben darnach, in der Gegenwart einen Zusammen- 
hang zu bekommen mit den spirituellen Machten, mit der gottlich- 
geistigen Welt. Es ist also auch in der Gegenwart noch etwas da unter 
den Menschen, was diesen Zusammenhang wieder zu bekommen 
sucht. Aber auf welche Kosten hin? Auf das hin, daB diese Gemein- 
schaft der Essaer ein Leben fuhrt, welches die anderen Menschen nicht 
fiihren konnten. Denn hatten alle Menschen das Leben der Essaer 
gefuhrt, so ware eben das Leben der Essaer nicht moglich gewesen. 
Und jetzt ging ihm auf ein auf seine Seele ungeheuer bedruckend 
wirkender Zusammenhang: Wohin fliehen denn Luzifer und Ahri- 
man, sagte er sich, wenn sie von den Toren der Essaer wegfliehen? Sie 
fliehen dahin, wo die Seelen der anderen Menschen sind! Dazu also 
hatte es die Menschheit gebracht, daB eine Gemeinschaft sich aus- 
sondern muB, wenn sie den Zusammenhang mit der gottlich-geistigen 
Welt finden will. Und weil sie sich aussondert, sich so aussondert, 
daB sie sich in ihrem ganzen sozialen Zusammenhalt nur entwickeln 
kann, indem sie die anderen Menschen von sich ausschlieBt, verurteilt 
sie die anderen Menschen, gerade um so tiefer in das hineinzusinken, 
was sie, diese Essaergemeinschaft, floh. Dadurch, daB die Gemein- 
schaft der Essaer stieg, muBten die anderen um so mehr fallen! Da- 
durch, daB der Essaer ein Leben fiihrte, welches Luzifer und Ahriman 
nicht mit ihm in Beriihrung kommen lieB, konnten Ahriman und Luzi- 
fer gerade versuchend und verlockend zu den anderen Menschen hin 
kommen. 

Das war des Jesus von Nazareth Erfahrung mit einem esoterischen 



Orden. Was in seiner Zeit mit der jiidischen Gesetzeskunde zu erfah- 
ren war, das hatte er schon in fruheren Jahren in seiner Seele erfahren. 
Wozu die heidnischen Kulte in seiner Zeit gekommen waren, das 
hatte er ebenfalls in fruheren Jahren in seiner Seele erfahren, als ihm 
die Damonenwelt in bedeutungsvollem Augenblicke vor die Seele 
getreten war. Jetzt hatte er hinzuerfahren, auf welche Kosten hin die 
Menschheit seiner Zeit ihre Annaherung suchen muBte zu den gott- 
lich-geistigen Weltengeheimnissen. So leben wir in einer Zeit - das trat 
bitter vor seine Seele in welcher jene, die den Zusammenhang mit 
dem Gdttlich-Geistigen suchen, in enger Gemeinschaft und auf Kosten 
der anderen Menschen dieses tun miissen. So leben wir in einer Zeit, 
in welcher der Schrei der Sehnsucht ist nach einem solchen Zusam- 
menhange mit der gottlich-geistigen Welt, der alien Menschen wer- 
den kann. Das hatte sich auf seine Seele driickend gelegt. 

Und wie sich das so auf seine Seele legte, da hatte er einmal gerade 
innerhalb der Essaergemeinschaft auch ein geistiges Gesprach mit der 
Seele des Buddha. Viel Ahnlichkeit mit dem, was der Buddha auf die 
Welt gebracht hatte, hatte ja die ganze Art und Weise der Essaerge- 
meinschaft. Und der Jesus sah sich dem Buddha gegenuberstehen und 
vernahm, von dem Buddha sich selber gesagt: Auf dem Wege, den ich 
der Menschheit gegeben habe, kann doch nicht der Zusammenhang 
mit der gottlich-geistigen Welt an alle Menschen herankommen; denn 
ich habe eine Lehre begriindet, die, wenn sie in ihren hoheren Glie- 
dern begriffen und erlebt werden soil, eine solche Absonderung not- 
wendig macht, wie sie in dieser Lehre enthalten ist. - Mit ganzer 
Scharfe, mit ganzer Gewalt stand es vor der Seele des Jesus von Naza- 
reth, wie der Buddha eine Lehre begriindet hat, die voraussetzt, daB 
auBer denen, die sich zum Intimsten dieser Lehre bekennen, eben 
wieder andere Menschen da sein miissen, die sich nicht zu diesem In- 
timsten bekennen konnen. Denn wie hatten Buddha und seine Schiller 
hingehen konnen mit der Opferschale in der Hand und Almosen sam- 
meln, wenn es nicht solche Menschen gegeben hatte, die ihnen Almo- 
sen hatten geben konnen? Das horte er nun von Buddha, daB seine 
Lehre nicht eine solche war, die jeder Mensch in jeder Lage des Lebens 
zur Ausbildung bringen konnte. 



Welche Entwickelungsmoglichkeiten in seiner Zeit vorhanden wa- 
ren, das hatte der Jesus von Nazareth in den drei Perioden seines 
Lebens vor der Johannestaufe im Jordan erfahren, hatte es nicht so 
erfahren, wie man etwas lernt, sondern so, wie man etwas erlebt, wenn 
man in unrnittelbare, allernachste Beriihrung mit diesen Dingen 
kommt. Er war in allernachste Beriihrung gekommen mit der alten 
jiidischen Gesetzeskunde, indem diese in ihm aufgeleuchtet hatte auf 
inspiratorische Art, und er in sich etwas hatte erleben konnen wie 
einen Nachklang der Offenbarungen, die an Moses und die Propheten 
ergangen waren. Er hatte aber auch dabei erleben konnen, wie es einer 
Seele seiner Zeit mit der damaligen Leibes organisation nicht mehr 
moglich war, diese Dinge voll zu erfassen. Andere Zeiten waren 
gekommen als die, in welchen man die alte judische Gesetzeskunde 
hatte voll aufnehmen konnen. Und wie der Verfall der heidnischen 
Mysterien die Damonenwelt herbeigerufen hatte, das hatte er eben- 
falls durch allernachste Beriihrung erfahren, durch eine Erfahrung in 
der iibersinnHchen Welt, indem er nicht nur die Menschen herbei- 
gerufen hatte, die durch die verfallene Kultstatte in Not und Elend 
versetzt worden waren, sondern auch die Damonen, die statt der guten 
alten heidnischen Krafte sich um die Opferstatte versammelt hatten. 
Und wie es trotz den Anforderungen der kommenden Zeit den Men- 
schen unmoglich war, etwas von dem tiefsten geheimen Wissen des 
Essaerordens zu erfahren, das hatte er wahrend der sechs Jahre vor der 
Johannestaufe erlebt. 

Was man aus der Betrachtung der Akasha-Chronik auf diesem 
Gebiete gewinnt, das ist die Erkenntnis, daB hier durch innere see- 
lische Erfahrung etwas erlitten worden ist, was von keiner anderen 
Seele auf der Erde jemals hat gelitten werden konnen. Gerade fur die- 
ses Wort, das ich jetzt eben ausgesprochen habe, ist vielleicht nicht 
das voile Verstandnis in unserer Zeit vorhanden. Daher mochte ich 
hier etwas einschalten. Ich werde namlich im weiteren Verlaufe der 
Mitteilungen aus dem Funften Evangelium auszufiihren haben, wie 
sich diese Leiden noch ins Ungeheure steigerten in der Zeit zwischen 
der Johannestaufe im Jordan und dem Mysterium von Golgatha. Un- 
sere Zeit konnte leicht einwenden: Aber warum soli eine so hohe Seele 



iiberhaupt leiden? Denn unsere Zeit hat ja sonderbare Begriffe iiber 
diese Dinge. Und wenn ich die ganze Tiefe des Jesus- und spater des 
Christus-Leidens zu erortern haben werde, so muB ich Sie schon auf- 
merksam machen auf manche MiBverstandnisse, welche da entstehen. 

Ich habe schon ofter erwahnt, auch hier, daB in der letzten Zeit von 
Maurice Maeterlinck ein Buch erschienen ist, «Vom Tode», das man aus 
dem Grunde lesen sollte, damit man sehen kann, wie Absurdes ein sol- 
cher Mensch schreiben kann, der sonst auch Gutes auf dem Gebiete 
des geistigen Lebens geschrieben hat. Unter manchem Absurden fin- 
det sich in diesem Buche Maeterlincks auch die Behauptung, daB ein 
Geist, der keinen Leib hat, nicht leiden konne, weil nur ein physischer 
Leib leiden konne. Daraus zieht dann Maeterlinck die Folgerung, daB 
ein Mensch, der seinen Leib verlassen habe, in der geistigen Welt nicht 
leiden konne. Wer so denkt, konnte auch leicht zu der Folgerung 
kommen, daB die Christus-Wesenheit, nachdem sie in den Leib des 
Jesus von Nazareth eingezogen war, nicht hat leiden konnen. Trotz- 
dem werde ich das nachste Mai zu schildern haben von tiefstem Lei- 
den gerade des Christus in dem Leibe des Jesus von Nazareth. 

Sonderbar ist es allerdings, wie ein Mensch mit gesunder Vernunft 
glauben kann, daB ein physischer Leib leiden kann. Leiden kann ja 
doch nur die Seele im physischen Leibe, denn der physische Leib kann 
keine Schmerzen und Leiden haben. Was Schmerz und Leid ist, das 
sitzt in dem seelisch-geistigen Teile eines Leibes, und die korperlichen 
Schmerzen sind eben solche, die verursacht werden durch Unregel- 
maBigkeiten des physischen Organismus. Insofern der physische Or- 
ganismus ein Organismus ist, sind es UnregelmaBigkeken. Man kann 
in ihm eine Muskelzerrung haben und so weiter; aber der physische 
Leib, die physische Organisation leidet nicht, wenn auch die Materie 
von einem Orte zum anderen gezerrt wird. Ebensowenig wie ein 
Strohsack leiden kann, wenn man das Stroh herumwirft, ebensowenig 
kann ein physischer Leib leiden. Aber weil ein geistig-seelisches 
Wesen in dem Leibe steckt, so leidet dadurch, daB etwas nicht so 
ist, wie es sein muB, das Geistig-Seelische. So ist das, was leidet, 
das Geistig-Seelische; und immer ist es das Geistig-Seelische. Und je 
hoher das Geistig-Seelische steht, desto mehr kann es leiden, und je 



hoher es stent, desto mehr kann es leiden unter geistig-seelischen 
Eindriicken. 

Das sage ich, damit Sie sich eine Empfindung, ein Gefiihl zu bilden 
versuchen, wie die Zarathustra-Wesenheit in diesen Jahren litt unter 
dem Erleben dessen, daB die alten Offenbarungen unmoglich gewor- 
den sind fur dasjenige, was die Menschenseele in der neueren Zeit 
braucht. Das war zunachst das unendliche Leiden, das niit keinem 
Leiden der Erde zu vergleichen ist, das uns entgegentritt, wenn wir 
Akasha-Chronik-maBig den heute ins Auge gefaBten Teil des Lebens 
des Jesus von Nazareth betrachten. 

Am Ende des Zeitraumes, den ich zuletzt charakterisiert habe, 
hatte dann der Jesus von Nazareth ein Gesprach mit der Mutter. 
Dieses Gesprach mit der Mutter war fur dasjenige entscheidend, 
was er nun unternahm: den Weg zu demjenigen, zu dem er schon 
durch sein Verhaltnis zu dem Essaerorden in eine Art von Beziehung 
getreten war, was er unternahm als den Gang zu Johannes dem Tau- 
fer. Ober dieses Gesprach mit der Mutter, das dann entscheidend ist 
fur das Folgende in dem Leben des Jesus von Nazareth, werde ich 
das nachste Mai sprechen. 

Betrachten Sie - das mochte ich heute zum Schlusse sagen - die 
Mitteilungen uber dieses Fiinfte Evangelium als etwas, was gegeben 
wird, so gut es gegeben werden kann, weil die geistigen Machte 
unserer Zeit es erfordern, daB eine Anzahl von Seelen von jetzt ab 
von diesen Dingen wisse. Betrachten Sie aber auch das, was gegeben 
wird, mit einer gewissen Pietat. Denn ich habe hier schon einmal 
erwahnt, wie wild das auBere Geistesleben Deutschlands, selbst bei 
den redlicher Denkenden, in dem Momente geworden ist, als zuerst 
eine Veroffentlichung gemacht worden ist nur uber die zwei Jesus- 
knaben. Solche Dinge, die aus der geistigen Welt herausgeholt wer- 
den, die unmittelbar geistigen Forschungen entstammen, solche Dinge 
kann das auBerhalb unserer Bewegung stehende Publikum eben durch- 
aus noch nicht vertragen, kann sie nicht vertragen. Und in der man- 
nigfaltigsten Art treten einem die Dinge dann entgegen, die wie eine 
wilde Leidenschaft vernehmbar sind, und die abwehren wollen so 
etwas, was wie eine neue V erkiindigung aus der geistigen Welt heraus 



kommt. Es ist nicht notwendig, daB durch unvorsichtiges Schwatzen 
diese Dinge ebenso herabgewiirdigt und lacherlich gemacht werden, 
wie das mit der Geschichte der beiden Jesusknaben geschehen ist, 
denn uns sollen diese Dinge heilig sein. 

Es ist eigentlich durchaus nicht leicht, iiber diese Dinge in der 
Gegenwart zu sprechen, eben in Anbetracht des Umstandes, daB 
gegen diese Dinge die Widerstande am allergrdBten sind. Und es ist 
im Grunde genommen doch das, was ich oftmals schon charakterisiert 
habe: die unendliche Bequemlichkeit der Menschenseelen in unserer 
Zeit, die auf Genaueres der Geistesforschung doch nicht eingehen 
will und daher sich auch keine Einsicht verschaffen will in die Mog- 
lichkeit, zu solchen Dingen zu kommen. Es ist schon so in der Ge- 
genwart, daB auf der einen Seite der lechzende Ruf nach Offen- 
barungen der geistigen Welt in den verborgenen Tiefen der Menschen- 
seele sitzt, und daB auf der anderen Seite der bewuBte Teil der Men- 
schenseele in unserer Zeit gerade dann am leidenschaftlichsten ab- 
lehnend wird, wenn von solchen Kundgebungen aus der geistigen 
Welt gesprochen wird. 

Bedenken Sie die Worte, die ich als AbschluB der heutigen Be- 
trachtung gesagt habe, und nehmen Sie sie als Richtschnur dafiir, 
wie die Dinge, welche wir iiber das Fiinfte Evangelium sprechen, 
von uns genommen sein wollen. 



Berlin, 18. November 1913 
Drifter Vortrag 



Als ich das letzte Mai hier sprach, versuchte ich einiges zu erzahlen 
aus dem Fiinften Evangelium iiber das Leben des Jesus von Nazareth 
von dessen zwolftem Jahre bis in die Zeit der Johannestaufe im Jor- 
dan hinein. Als ich damals jene bedeutungs voile Erfahrung erzahlte, 
welche der Jesus von Nazareth an einer heidnischen Kultstatte gehabt 
hat, da zeigte ich, wie uns das Lesen in der Akasha-Chronik heute 
diesen Jesus von Nazareth an dieser heidnischen Kultstatte schauen 
laBt, wie er den Eindruck hat von den Altar umgebenden Damonen. 
Ich will an dieses nur kurz erinnern, wie er dann wie tot hinfallt, wie 
er entnickt ist in eine andere Welt, in der er wahrnehmen kann, wel- 
ches die gottlich-geistigen Geheimnisse der uralt heiligeti Mysterien- 
lehre der Heiden waren. Denn so konnte er ja in sich eine lebendige 
Idee von dem aufnehmen, was einstmals das Heidentum war, und von 
dem, was es zu seiner Zeit geworden ist. 

Ich erwahnte schon, daB er wahrend dieser Zeit - also in diesem 
anderen BewuBtseinszustande an einem heidnischen Altare, von dem 
wir das letzte Mai gesprochen haben - etwas horte wie aus der gei- 
stigen Welt heraus die Verkundigung von Worten, die zum Ausdruck 
brachten, so wie es in der uralt heiligen Lehre der Heidenvolker zum 
Ausdruck gebracht worden ist, was zu betrachten ist als das Geheim- 
nis von des Menschen Verquickung mit der materiellen, mit der sinn- 
lich-physischen Welt. Er horte also sozusagen aus den geistigen Wel- 
ten jene Stimme, die den alten heidnischen Propheten zuganglich war. 
Und was er da horte, ist zu bezeichnen als eine Art kosmisches Vater- 
unser. Es driickt aus, wie des Menschen Seelenschicksal sich gestalten 
muB dadurch, daB der Mensch mit der Erdenmaterie von der Geburt 
bis zum Tode verquickt ist. Dieses kosmische Vaterunser, dessen 
spatere Umkehrung das irdische Vaterunser wurde, war mir moglich 
zuerst zu Gehor zu bringen bei unserer Grundsteinlegung in Dor- 
nach. Ich werde es hier wieder zur Verlesung bringen, denn es liegt 



tatsachlich die Urlehre der heidnischen Menschheit in diesen Worten. 
So gut es gent, versuche ich sie eben in deutscher Sprache wieder- 
zugeben: 

Amen 

Es walten die Obel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wille 

Indem der Mensch sich schied von Eurem Reich 

Und vergaB Euren Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Das war es ungefahr, was der Jesus von Nazareth als das Geheimnis 
des Erdenmenschen im Sinne der uralt heiligen Lehre damals bei 
seiner Wanderung in heidnischen Gegenden gehort hat. Es bringen 
diese Worte wirklich tiefe Geheimnisse der Menschheitsevolution zum 
Ausdruck. Dieses bedeutsame Horen drang also damals in des Jesus 
Seele herein, als es gegen sein vierundzwanzigstes Jahr zu ging, und 
er wuBte von da ab etwas, was einstmals in uralten Zeiten der 
Menschheitsentwickelung aus der geistigen Welt heruntergetont hat, 
was ihm so groB und gewaltig erschien, daB er sich sagte, insbesondere 
nachdem er an der verfallenen alten heidnischen Kultstatte den das 
letzte Mai geschilderten Eindruck hatte: Jetzt sind fur alles das auf 
der Erde nicht mehr die Menschen da, um es zu verstehen. 

So hatte er das Heidentum kennengelernt. Wir haben gesehen, wie 
er in den drei aufeinanderfolgenden Epochen seines Jugendlebens 
kennengelernt hat die tiefsten Tiefen des Judentums, die tiefsten 
Tiefen des Heidentums und auch die tiefsten Tiefen des Essaertums. 
Wir haben gesehen, wie diese Erkenntnisse fur ihn Stuck fur Stuck 
Quellen tiefsten Leides waren. Denn von alien drei Erkenntnissen 
muBte er sich sagen: Sie konnten da sein, wenn in der Menschheit 
jetzt die Bedingungen dazu vorhanden waren, um sie aufzunehmen; 
aber diese Bedingungen sind eben jetzt nicht zu schaffen. 

Das war das Ergebnis dieses Jesus-Lebens. So zeigt es uns das 



Fiinfte Evangelium, daB der Jesus sich sagen konnte, bevor er den 
Christus in sich aufgenommen hatte: Es hat eine Menschheitsevolu- 
tion stattgefunden, aber so, daB die Menschen Fahigkeiten sich an- 
geeignet haben, welche die anderen Fahigkeiten der Urzeit verdunkelt 
haben, so daB die Menschen jetzt nicht mehr imstande sind, die Ver- 
kiindigungen der geistigen Welt entgegenzunehmen, wie sie in der 
Urzeit fur Juden und Heiden stattgefunden hatten. - Aber auch das 
hatte er sich durch seine Verbindung mit den Essaern sagen miissen, 
daB so, wie die Essaer zu einer Wiedervereinigung mit der geistigen 
Welt kommen, nur ein kleines Hauflein, nicht die ganze Mensch- 
heit, zu einer solchen Wiedervereinigung kommen konnte. So war 
ihm auch dieser Weg als ein unmoglicher erschienen. Arme, arme 
Menschheit - so ging es durch seine Seele wenn dir ertonen wiirden 
die Stimmen der alten heidnischen Propheten, du wiirdest sie nicht 
mehr verstehen. Wenn dir ertonen wiirden die Stimmen der alten ju- 
dischen Propheten, du wiirdest sie nicht mehr verstehen. Das aber 
kannst du nicht als gesamte Menschheit jemals erstreben wollen, was 
die Essaer erstreben; das ist nur zu erstreben von einem kleinen 
Hauflein, das auf Kosten der iibrigen Menschheit seine Vollkommen- 
heit sucht. 

Was ich Ihnen so in einigen trockenen Worten erzahle, das war in 
ihm Leben, schmerzvolle seelische Wirklichkeit. Das war in ihm eine 
Empfindung unendlichen Mitleides mit der gesamten Menschheit, 
jenes Mitleides, das er empfinden muBte, um reif zu werden, damit er 
die Christus- Wesenheit in sich aufhehmen konnte. 

Bevor aber dieses geschah, hatte der Jesus von Nazareth noch ein 
wichtiges Gesprach mit derjenigen Personlichkeit, die wir als seine 
Zieh- oder Stiefmutter kennen. Wir wissen ja, daB die Mutter jenes 
nathanischen Jesus, der in seinem zwolften Jahre die Individualitat 
des Zarathustra in sich aufgenommen hatte, das heiBt also die wirk- 
liche leibliche Mutter dieses nathanischen Jesus, gestorben war bald, 
nachdem dieser Jesusknabe den Zarathustra, der in dem anderen 
Jesusknaben verkorpert war, in sich aufgenommen hatte, so daB also 
deren Seele langst in der geistigen Welt war. Wir wissen auch aus 
friiheren Vortragen verflossener Jahre, daB der Vater des anderen, 



des salomonischen Jesusknaben, gestorben war, und daB aus den 
beiden Familien der beiden Jesusknaben eine einzige Familie in Naza- 
reth geworden war, innerhalb welcher der Jesus mit seinen Geschwi- 
stern und mit der Zarathustra-Mutter zusammen war. Wir wis sen, daB 
der Vater des Jesus von Nazareth, als dieser etwa im vierundzwan- 
zigsten Jahre von einer groBeren Wanderung zuriickkam, gestorben 
war, und daB nun der Jesus von Nazareth allein mit seiner Mutter, 
der Zieh- oder Stiefmutter, lebte. Im allgemeinen muB gesagt wer- 
den, daB diese Zieh- oder Stiefmutter sich nur langsam ein Gemuts- 
verstandnis, aber eben nach und nach ein tiefes Gemutsverstandnis 
fur alle die tiefen Erlebnisse aneignete, welche der Jesus von Naza- 
reth durchmachte. Es wuchsen gewissermaBen im Laufe der Jahre 
diese Seelen, die des Jesus von Nazareth und die der Zieh- oder 
Stiefmutter, ineinander. 

In der ersten Zeit nach seinem zwolften Jahre war er auch im El- 
ternhause mit seinem Erleben einsam. Die anderen Geschwister sahen 
in seiner Seele, die mit ihren tiefen, schmerzlichen Erlebnissen fertig 
werden muBte, eigentlich nur eine Seele, die einer Art von Wahnsinns- 
zustand entgegenging. Die Mutter dagegen fand eben die Moglich- 
keit, immer mehr und mehr Verstandnis fur diese Seele zu gewinnen. 
Und so kam es, daB der Jesus von Nazareth in seinem neunund- 
zwanzigsten oder dreiBigsten Jahre mit dieser Mutter ein wichtiges 
Gesprach fiihren konnte, ein Gesprach, das tatsachlich von tiefster 
Wirkung war, wie wir gleich sehen werden. 

Dieses Gesprach enthielt im Grunde genommen in einer Art Riick- 
schau alles, was der Jesus von Nazareth seit seinem zwolften Lebens- 
jahre erlebt hatte. Die Akasha-Chronik zeigt uns, wie dieses Gesprach 
verlief. Zunachst sprach der Jesus von Nazareth von jenen Erleb- 
nissen, die sich zwischen seinem zwolften bis sechzehnten oder acht- 
zehnten Jahre zugetragen hatten, wie er in dieser Zeit das, was einst- 
mals die uralte hebraische Lehre war, die uralte Lehre der hebraischen 
Propheten, nach und nach in sich selbst erlebte. Er hatte es ja in der 
Umgebung durch niemanden erleben konnen, wie er auch nicht jene 
Worte durch jemanden in seiner Umgebung hatte erleben konnen, die 
er zu solchem Erstaunen der Schriftgelehrten in ihrer Mitte bei der 



bekannten Gelegenheit vorgebracht hatte. Aber immer stiegen in 
seiner Seele Inspirationen auf, von denen er jedoch wuBte : sie kom- 
men aus der geistigen Welt. Die hebraische Lehre stieg so in ihm auf, 
daB er sich wuBte ais Besitzer dieser alten hebraischen Lehre, fur die 
aber zu seiner Zeit keine Ohren da waren. Er war mit dieser Lehre 
allein. Das war sein groBer Schmerz, daB er mit dieser Lehre allein 
war. 

Die Mutter hatte zwar manches zu erwidern, wenn er sagte : Auch 
wenn heute noch die Stimmen der alten hebraischen Propheten er- 
tonten, so wiirde es doch keine Menschen geben, um diese Stimmen 
zu verstehen. Die Mutter sagte darauf, daB zum Beispiel Hillel da- 
gewesen sei, ein groBer Gesetzeslehrer, und der Jesus von Nazareth 
wuBte auch zu wiirdigen, wer Hillel war und was er fiir das Juden- 
tum bedeutete. Ich brauche Ihnen nicht zu erzahlen, welche Bedeu- 
tung dieser Hillel hatte. Sie finden es im judischen Schrifttum genii- 
gend gewiirdigt. Hillel war ein Erneuerer der schonsten Tugenden 
und Lehren des alten Judentums, wie auch eine Personlichkeit, die 
durch ihre eigene Art und Weise dieses alte Judentum wieder zu einer 
Art Erneuerung brachte. Aber das war nicht dadurch gekommen, daB 
Hillel ein Gelehrter war, sondern dadurch, daB er durch sein Tun 
und Treiben, vor allem aber in seinem Fiihlen, Wollen und Wiinschen 
und in seiner Art, die Menschen zu behandeln, zum Ausdruck 
brachte, wie wirkliche Weisheit jeglicher Art in der Menschenseele 
die Seele umgestaltend wirkt. Was man insbesondere im Judentum 
pries, aber in der damaligen Zeit nicht mehr recht verstand: die Geduld 
in der Behandlung anderer Menschen - dem Hillel wurde sie mit 
Recht zugeschrieben. Er hatte ja auch auf sonderbare Art die M6g- 
lichkeit erlangt, unter den Hebraern zu wirken. Er stammte aus Baby- 
lon, aber aus einem Geschlechte, das von den Juden zur Zeit der 
Gefangenschaft hiniiberverpflanzt war nach Babylon, und das seinen 
Ursprung auf die Familie David selbst zuruckfiihrte. Auf diese Weise 
hatte er in sich vereinigt, was er aus dem Babyloniertum hatte auf- 
nehmen konnen, mit dem in seinem Blute pulsierenden Hebraertum. 
Und wie sich das in seiner Seele gestaltet hat, das wird in einer be- 
deutungsvollen Legende erzahlt. 



Einmal, so heiBt es, als Hillel gerade in Jerusalem ankam, waren 
die bedeutendsten anderen jiidischen Gelehrten zu allerlei Diskus- 
sionen versammelt, in denen man horen konnte, wie pro und kontra 
iiber die Geheimnisse der jiidischen Lehre gesprochen wurde. Man 
hatte eine Kleinigkeit zu zahlen, um solchen Diskussionen beiwohnen 
zu konnen. Hillel hatte kein Geld, denn er war sehr arm. Trotzdem 
es sehr kalt war, versuchte er einen kleinen Hiigel vor dem Hause zu 
besteigen, in welchem die Diskussionen stattfanden, um durch das Fen- 
ster zu horen, was gesprochen wurde. Denn er konnte seinen Eintritt 
nicht bezahlen. Es war so kalt in der Nacht, daB er steif wurde vor 
Frost, so daB man ihn spater am Morgen steif fand und ihn erst wieder 
erwarmen muBte, damit er auftaue. Aber er hatte dadurch, daB er dieses 
durchgemacht hatte, in seinem Atherleibe teilgenommen an der ganzen 
Diskussion. Und wahrend die anderen selber nichts anderes horten 
als die abstrakten Worte, die hin- und widerflogen, hatte Hillel eine Welt 
von wunderbaren Visionen gesehen, die seine Seele umgestalteten. 

Solcher Ereignisse waren noch manche zu erzahlen. Insbesondere 
wurde seine Geduld geruhmt. Von dieser Geduld sagte man, sie sei 
unerschopf lich. Und einmal, so wird sogar erzahlt, ging jemand eine 
Wette ein, Hillels Geduld aufs auBerste zu erschopfen, so daB Hillel 
zornig werden sollte. Die Wette war eingegangen, und der, welcher 
den Hillel zornig machen wollte, das heiBt, seine Geduld ausschopfen 
wollte, hatte die Aufgabe, dieses zu tun. Und er tat das Folgende. 
Er ging hin, als Hillel seine Vorbereitungen traf zu dem, was er am 
Sabbat zu lehren hatte und gerade im Neglige war, pochte an die Tiir 
und rief : Hillel, Hillel, komm heraus! - Hillel fragte: Was ist denn? - 
Ach, Hillel, komm heraus, ich habe eine wichtige Frage an dich! - 
^Hillel zog sich seinen Rock an, ging hinaus und sagte: Mein Sohn, 
um was hast du mich zu fragen? - Da sagte der BetrefFende, der die 
Wette eingegangen war, zu ihm : Hillel, ich habe eine wichtige Frage 
an dich. Warum haben manche Leute unter den Babyloniern so spitze 
Kopfe? - Und Hillel antwortete: Mein lieber Sohn, weiBt du, die 
Babylonier haben so schlechte Hebammen, und da werden sie unter 
so ungunstigen Umstanden geboren. Daher haben dort manche Leute 
so spitze Kopfe. Geh nun, deine Frage ist beantwortet. - Und Hillel 



ging wieder in das Haus hinein und bereitete sich weiter fur den 
Sabbat vor. 

Aber nach kurzer Zeit kam derselbe Mensch wieder und rief wie 
vorher: Hillel, Hillel, komm heraus! - Hillel antwortete: Was ist es 
denn? - Ach, Hillel, ich habe eine wichtige Frage, die sogleich be- 
antwortet werden muB. - Und Hillel kam wieder heraus und sagte zu 
dem Fragenden: Was ist es fur eine Frage? - Und der BetrefTende 
antwortete: Ach, Hillel, sage mir doch, warum gibt es in Arabien so 
viele Menschen, die so sehr verkniffene Augen haben? - Hillel ant- 
wortete: In Arabien ist die Wiiste so weit, und man kann sie nur 
ertragen, wenn man mit seinen Augen an die Wiiste angepaBt ist. 
Daher haben in Arabien viele Menschen so sehr verknififene Augen. 
Gehe nun, mein Sohn, denn deine wichtige Frage ist beantwortet. - 
Und Hillel ging wieder in das Haus hinein. 

Aber es dauerte nicht lange, da kam der Betrefifende zum dritten 
Male und rief wiederum: Hillel, Hillel, komm heraus! - Was ist es 
denn? - Hillel, komm heraus, ich habe eine wichtige Frage, die so- 
gleich beantwortet werden muB! - Hillel ging heraus, und da sagte 
der BetrerTende : Ach, Hillel, beantworte mir doch die Frage : Warum 
haben denn so manche Leute in der Nahe Agyptens so platte FiiBe ? - 
Und Hillel antwortete: Mein lieber Sohn, sie haben so platte FiiBe, 
weil sie in sumpfigen Gegenden leben. Da brauchen sie so platte FiiBe 
wie manche Vogel, die in sumpfigen Gegenden leben, und da miissen 
die FiiBe angepaBt sein an die Umgebung. Daher haben sie so platte 
FiiBe, Gehe nun, mein Sohn, deine Frage ist beantwortet. - Und er 
ging wieder hinein. 

Doch nach wenigen Minuten kam derselbe Mensch wieder, klopfte 
wieder an das Haus, aber er war bei jeder Frage trauriger geworden, 
und er rief, noch trauriger als vorher: Hillel, komm heraus! - Und 
als Hillel kam, da sagte er: Ach, Hillel, ich habe gewettet, daB ich 
dich in Zorn bringen kann. Jetzt habe ich es dreimal mit meinen Fra- 
gen versucht. Sage mir doch, o Hillel, was ich tun muB, damit ich 
meine Wette nicht verliere! - Aber Hillel antwortete: Mein Sohn, 
besser ist es, daB du deine Wette verlierst, als daB Hillel zornig wer- 
den konnte. Gehe nun, und bezahle deine Wette ! 



Das ist ein Beispiel, welches zeigen soli, bis zu welchem Grade von 
Geduld es Hillel damals in den Augen oder in der Meinung seiner 
judischen Mitbewohner gebracht hatte. Die Wirkung dieses Mannes 
hatte also der Jesus von Nazareth auch erlebt. Aber er kannte nicht 
nur, was Hillel gewirkt hatte, sondern er hatte selbst in seiner Seele 
die groBe Bath-Kol vernommen, das heiBt die Stimme vom Himmel, 
wo aus der gottlich-geistigen Welt heraus die Geheimnisse, wie sie 
einst den Propheten ertonten, ihm im Inneren seiner Seele aufgestiegen 
waren. Und er wuBte, daB auch selbst in Hillel nur ein ganz schwacher 
Nachklang dessen war, wofiir einstmals die Vorfahren der Hebraer 
reif waren. Aber jetzt waren die Nachfahren der alten Hebraer nicht 
einmal fur den schwachen Nachklang, der in Hillels Stimme ertonte, 
und noch weniger fur die groBe Bath-Kol reif. 

Das alles lastete auf seiner Seele, und das teilte er der Mutter mit. 
Er teilte ihr mit, was er erlitten hatte, wie ihm von Woche zu Woche 
immer mehr aufging, welches die uralt heiligen Lehren des alten 
Judentums waren, und wie die Nachfahren der alten Hebraer keine 
Ohren mehr hatten, um zu horen, was einst die Worte der groBen 
Propheten waren. Und jetzt verstand ihn die Mutter, so daB ein tiefes 
Gefiihls- und Gemutsverstandnis seinen Worten entgegenkam. 

Und dann erzahlte er von jenem Ereignis, das er erlebte, nachdem 
er sein achtzehntes Jahr vollendet hatte und hinausgezogen war in 
jiidische und heidnische Gegenden. Er erzahlte es erst jetzt der Mutter, 
wie er auf seiner Wanderung an eine heidnische Kultstatte gekommen 
war, wie aber dort die Priester geflohen waren. Denn es war unter 
der Bevolkerung eine bosartige Krankheit ausgebrochen, die jeden 
anstecken konnte. Und als er hinkam, wurde er gesehen, und wie ein 
Lauffeuer verbreitete es sich, daB ein ganz besonderer Mensch heran- 
kame. Denn das war ihm eigentumlich, daB er allein schon durch sein 
auBeres Auftreten, als Jesus von Nazareth, uberall, wo er hinkam, 
einen besonderen Eindruck machte. So glaubten die Menschen jener 
Gegend, deren groBte Trauer darin bestand, daB die heidnischen 
Priester sie verlassen hatten und ihr Altar nicht mehr bedient wurde, 
sie glaubten, daB ein Opferpriester herankame in Jesus von Nazareth, 
der wieder ihre Opfer verrichten werde. In groBer Zahl versammelten 



sie sich um den verfallenen Altar. Jesus von Nazareth hatte nicht den 
Willen, ihren Opferkult zu verrichten. Aber er sah die tieferen Griinde 
dessen, warum jene Menschen litten. Er sah das, was man folgender- 
maBen ausdriicken konnte: 

An solchen Opferaltaren wurden einstmals rechtmaBige Opfer ver- 
richtet, die der auBere Kultausdruck waren fur die alten Mysterien- 
offenbarungen jener heidnischen Gegenden. In den Kulthandlungen 
waren ja die Mysterienoffenbarungen ausgedriickt. Und wenn solche 
Kulthandlungen in uralt heiligen Zeiten - das wuBte er jetzt durch 
unmittelbare Anschauung - verrichtet wurden, verrichtet wurden mit 
der richtigen Gesinnung der Priester, dann nahmen die gottlich- 
geistigen Wesen, mit denen die heidnischen Menschen verbunden 
waren, daran teil. Aber nach und nach waren diese Opferhandlungen 
in Dekadenz gekommen, waren herabgekommen, korrumpiert. Die 
Priester waren nicht mehr mit den rechtmaBigen Gesinnungen begabt, 
und so war es gekommen, daB an einer solchen Kultstatte statt der 
guten alten Gotterwesen Damonen walteten. Und in diesen Damonen 
liegt der Grund, warum die Bevolkerung leiden muBte. Diese Damo- 
nen sah jetzt der Jesus von Nazareth versammelt. Sie forderten gleich- 
sam seinen hellseherischen Blick heraus, und er fiel hin, war wie tot. 
Und als er hinfiel, erkannten die Menschen, daB er nicht gekommen 
war, um an ihrem Altar wieder die Opfer zu verrichten. Sie ergriffen 
die Flucht, und in diesem Augenblicke sah er den ganzen Ubergang 
der alten heidnischen Gotterwelt in die Damonenwelt und erkannte, 
daB dies die Grunde der Leiden dieses Volkes waren. 

Aber er wurde nun auch entriickt in jene Heidenzeiten, als die wirk- 
lichen Offenbarungen der uralt heiligen Lehren zu den Menschen her- 
unterkamen. Das horte er be! dieser Gelegenheit, was ich als das kos- 
mische Vaterunser vorgelesen habe. Jetzt wuBte er, wie weit entfernt 
die gegenwartige, auch seine gegenwartige Menschheit im Heiden- 
tume wie im Judentume, von den alten Lehren und Offenbarungen 
war. Nur hatte er, was er iiber das Judentum zu lernen hatte, durch 
die Stimme der groBen Bath-Kol erlangt. Das Heidentum dagegen 
war ihm aufgegangen in einer furchtbaren Vision. Die wirkte ganz 
anders als eine abstrakte Mitteilung ; sie wandelte seine Seele um. So 



wuBte er, daB jetzt keine Ohren mehr da waren, um das zu verstehen, 
was einstmals fur das Judentum in den Stimmen der Propheten er- 
klungen, wie aber auch fiir das andere, das einst fur das alte Heiden- 
tum herunterklingen konnte, jetzt keine Ohren mehr da waren, um es 
zu verstehen. 

Das alles erzahlte er jetzt in bewegten Worten der Mutter. Dann 
erzahlte er auch seine Gemeinschaft mit den Essaern, insbesondere 
das, was, wenn ihm die Mutter nicht schon ein solches Gemiitsver- 
standnis entgegengebracht hatte, schwer zu verstehen gewesen ware : 
daB er, als er einst hinausging von einer Essaerversammlung, von den 
Toren Luzifer und Ahriman fliehen sah. Er wuBte, daB die Methoden 
der Essaer fur die groBe Menge der Menschen unmoglich waren. 
Zwar konnte man eine Vereinigung mit der gottlich-geistigen Welt 
durch diese Methoden haben, aber nur dadurch, daB man Luzifer und 
Ahriman von sich wies. Doch indem man dies tat, hatten Luzifer und 
Ahriman um so mehr die MogHchkeit, zu den anderen Menschen hin- 
zufliehen und sie weiter in die Verstrickungen des irdischen Daseins 
hineinzustoBen, so daB sie nicht teilnehmen konnten an der Vereini- 
gung mit der geistigen Welt. Durch dieses Erlebnis wuBte also der Jesus 
von Nazareth: Auch der Essaerweg kann kein allgemein menschlicher 
werden, denn er ist nur fiir ein kleines Hauf lein von Menschen moglich. 
- Das war eine dritte schmerzliche Erkenntnis zu den beiden anderen. 

Es war in einer eigentiimlichen Art, wie er das erzahlte. Denn nicht 
nur gingen seine Worte hinuber zur Mutter, sondern die Worte nossen 
zum Herzen der Mutter hinuber wie lebendige Wesen. Die Mutter 
fiihlte sich, wenn der tiefe Sinn dieser Worte - der von Leiden, aber 
auch von tiefster Menschenliebe durchtrankte Sinn - in ihre Seele 
hinuberfloB, wie wenn ihre Seele innerlich erkraftete, von einer von 
ihm heriiberkommenden Kraft belebt wiirde und eine innere Wand- 
lung erfuhre. So fiihlte die Mutter. Es ist wirklich so, wie wenn alles, 
was in der Seele des Jesus von Nazareth lebte, wahrend dieses Ge- 
spraches in die Seele der Mutter hiniibergegangen ware. Und es war 
auch fiir ihn so. Denn Merkwiirdiges enthiillt uns geheimnisvoll hier 
der Blick in die Akasha-Chronik. 

Der Jesus von Nazareth erzahlte so, daB seine Worte, indem sie sich 



ihm entrangen und indem sie hiniiberzogen in Herz und Seele der 
Mutter, immer ein Stuck seines eigenen Ichs mit hiniibernahmen. 
Man konnte sagen: Auf den Fliigeln seiner Worte ging sein eigenes 
Ich wie hiniiber zur Mutter, aber ohne daB es als solches eigentliches 
Ich in die Mutter hiniiberging, die sich nur durch diese Worte wie 
belebt fuhlte. Denn das Merkwiirdige geschah jetzt, daB durch die 
Wirkung dieses Gespraches die Seele jener Mutter, welche die leib- 
liche Mutter des nathanischen Jesus war, aus der geistigen Welt her- 
unterkam und sich mit der Seele der Stief- oder Ziehmutter verband, 
so daB von jenem Gesprache an in der Seele der Stief- oder Zieh- 
mutter zugleich die Seele der wirklichen Mutter des nathanischen 
Jesus lebte. Empfangen hatte die Seele der Stief- oder Ziehmutter die 
Seele jener anderen Mutter. Es war wie eine Art Wiedergeburt zur 
Jungfraulichkeit, was hier stattgefunden hat. Diese Wandlung, diese 
Durchsetzung der Seele der Mutter mit einer anderen Seele aus den 
geistigen Welten, sie macht in der Beobachtung allerdings einen tief, 
tief ergreifenden Eindruck, wenn man sieht, wie jetzt weiterhin die 
Stief- oder Ziehmutter eigentlich nur als Hiille derjenigen Mutter 
herumwandelt, welche die Zeit von Jesu zwolftem bis dreiBigstem 
Jahre in der geistigen Welt zugebracht hat. 

In dem Jesus selber war jetzt etwas, wie wenn er sein Ich an die 
Mutter hingegeben hatte, wie wenn in ihm nur, wie von kosmischen 
Gesetzen beherrscht, der physische Leib, der Atherleib und der Astral- 
leib lebten. Und ein innerer Drang entstand in dieser dreifachen Leib- 
lichkeit des Jesus von Nazareth, zu demjenigen hinzugehen, den er in 
der Essaergemeinschaft kennengelernt hatte, der ja ebensowenig wie er 
ein wirklicher Essaer war, aber in die Essaergemeinschaft aufgenom- 
men war, hinzugehen zu Johannes dem Taufer. Und dann fand bei 
dem, was aus den vier anderen Evangelien bekannt ist, bei der Taufe, 
die Hineinsenkung der Christus-Wesenheit in die Leiblichkeit des 
Jesus von Nazareth statt, die ihr mit ihren Leiden und mit ihrem gan- 
zen Wesen verbundenes Ich in das Gesprach gelegt hatte, das in die 
Seele der Mutter hiniibergegangen war. Auf nahm diese dreifache 
Leiblichkeit die Ihnen oftmals geschilderte Christus-Wesenheit, die 
jetzt anstelle jenes anderen Ichs in diesen drei Leibern lebte. 



Und nun spricht uns auch dieses Fiinfte Evangelium, das aus der 
Akasha-Chronik zu gewinnen ist, von der auf die Empfangnis der 
Christus-Wesenheit folgenden Versuchung. Nur ergibt sich durch den 
Blick in die Akasha-Chronik die Versuchung in etwas anderem Gei- 
ste, und ich werde wiederum versuchen, so gut es geht, zu erzahlen, 
was sich da ergibt, wie die Versuchungsszene sich ereignet hat. 

Es stand, also jetzt konnen wir sagen der Chris tus Jesus, zuerst dem 
Luzifer gegeniiber. Und Luzifer stellt tatsachlich durch jenen Vor- 
gang, den der Geistesforscher durchaus begreifen kann, und auch in 
jener Form, die der Geistesforscher begreifen kann, die Frage, die 
man naturlich in aufiere Worte umsetzen muB, wenn man sie erzahlen 
will, die Frage, die in den anderen Evangelien mitgeteilt ist, die Frage, 
die eine Versucherfrage ist, die besonders zu dem Hochmut sprechen 
sollte: Alle Reiche, die du um dich herum siehst - und Luzifer meinte 
die Reiche der astralen Welt in ihren Weiten -, sollen dir gehoren, 
wenn du mich als deinen Herrn anerkennst! 

Diese Frage spricht im richtigen Momente, wenigstens zu einer 
Menschenwesenheit gestellt, den tiefsten Versuchungsimpuls aus, 
denn es werden alle Krafte und Triebe des Hochmutes und der Selbst- 
uberschatzung ausgelost in der Seele. Man kann sich naturlich nicht 
gut davon eine Vorstellung machen, wenn man nur mit Abstraktionen 
an die astrale Welt denkt. Aber wenn man in ihr drinnensteht, dann 
ist die Wirksamkeit der Krafte dieser astralen Welt, in der dann Luzifer 
spricht, auf die ganze Konstitution des Menschen so wirksam, daB 
alle Damonen des Hochmuts in ihm losgelassen werden mit derselben 
Notwendigkeit, wie man hungrig wird, wenn man vier bis fiinf Tage 
nichts gegessen hat. Man kann da nicht sprechen in der harmlosen 
Weise des physischen Planes : Man solle sich nicht vom Hochmut ver- 
blenden lassen. - Das ist schon und gut fur den physischen Plan, 
aber es ist nicht mehr von derselben Wertigkeit, wenn die ganze 
astrale Welt auf die Konstitution des Menschen einstiirmt. Aber der 
Christus Jesus widerstand der Versuchung des Luzifer. Dem Hoch- 
mute konnte diese Wesenheit nicht verfallen. Er wies Luzifer zunick. 

Ich mochte hier eine Einschaltung machen. Es ist im allgemeinen 
leicht moglich, beim Lesen in der Akasha-Chronik die Reihenfolge 



zu verwechseln. Ich glaube, die Reihenfolge bei der sogenannten Ver- 
suchung ist so, wie sie mir richtig zu sein scheint. Es konnte aber 
sein, daB sie umgekehrt ware. Ich glaube das nicht, konnte aber nicht 
sagen, daB sich bei einem spateren Verifizieren nicht die umgekehrte 
Reihenfolge ergeben konnte, Daher mochte ich durchaus darauf auf- 
merksam machen, daB ich Ihnen bei diesen Mitteilungen aus der 
Akasha-Chronik nichts anderes erzahle, als was sich wirklich ergibt. 
Daher mache ich an den Stellen, wo sich Unsicherheit ergibt, darauf 
aufmerksam, daB hier spater eine Korrektur moglich sein konnte. 

Nachdem also die erste luziferische Attacke abgeschlagen war, 
traten nun Luzifer und Ahriman vereint auf. Vereint stellten sie an 
den Christus Jesus die Frage von dem Sich-Herabstiirzen tief in den 
Abgrund hinein. Das war eine Frage, die an den Stolz gestellt war. 
Auf einem besonderen Umwege sollte zum Stolz, zum Sich-erhaben- 
Fiihlen iiber alle Furcht, diese Frage gestellt werden. Der Christus 
Jesus wies die Frage zuriick. Er war nicht zu versuchen, indem man 
an seinen Stolz herantrat, womit in diesem Falle das Sich-erhaben- 
Diinken iiber die Furcht gemeint war. Luzifer muBte jetzt weichen, 
von ihm ablassen. 

Ahriman blieb zuriick, und er stellte die dritte Frage, die wiederum 
auch im Fiinften Evangelium mit der Frage in den anderen Evange- 
lien iibereinstimmt, die Frage, die sich darauf bezieht, daB die Steine 
zu Brot werden sollten. Wenn der Christus wirklich die Macht habe, 
so sollte er die Steine zu Brot werden lassen. Und siehe da: dieser 
Frage gegeniiber blieb ein unbeantworteter Rest. Nicht ganz ver- 
mochte der Christus Jesus diese Frage dem Ahriman zu beantworten, 
und Ahriman zog nicht vollstandig besiegt ab. Das zeigt uns aller- 
dings die Akasha-Chronik-maBige Betrachtung dieser Sache. Und der 
Christus Jesus wuBte: beziiglich Ahrimans bleibt ein Rest, der nicht 
durch einen solchen inneren geistigen Vorgang zu iiberwinden ist, 
sondern zu dem andere Dinge noch notwendig sind. 

Ich mochte in einer vielleicht trivialen Weise einmal versuchen, dies 
auseinanderzusetzen. Wir werden uns dadurch aber leichter dariiber 
verstandigen konnen, um was es sich handelt. Ahriman ist eigentlich 
der Herr der Welt der materiellen Gesetze. Wenn die Miinchner Vor- 



trage aus diesem Jahre einmal gedruckt sein werden, dann wird man 
die ganze Welt des Ahriman noch deutlicher durchschauen. Ahriman 
ist der Herr der materiellen Gesetze, jener Gesetze, welche in der Tat 
nur vergeistigt werden konnen, nachdem die gesamte Erdentwicke- 
lung abgelaufen sein wird, jener Gesetze, die tatig bleiben, die wirk- 
sam bleiben. Ahriman ist der rechtmaBige Herr der materiellen Ge- 
setze. Wiirde er diese Herrschaft nicht miBbrauchen, nicht auf etwas 
anderes ausdehnen, so ware er eine in seiner Art einzig notwendige 
Wesenheit innerhalb der Erdentwickelung. Aber das gilt doch, was 
in dem kosmischen Vaterunser steht: «Von andern erschuldete Selbst- 
heitschuld, erlebet im taglichen Brote, in dem nicht waltet der Himmel 
Wille.» Es gilt das, daB der Mensch in seinem Erdenleben an die 
materiellen Gesetze gebunden ist, und daB er die unmittelbare Ver- 
geistigung dessen, was aus den materiellen Gesetzen kommt, nicht 
durch einen bloB inneren, seelischen Vorgang erreichen kann, sondern 
daB dazu AuBeres notwendig ist. Alles, was mit reich und arm zu- 
sammenhangt, hangt mit dieser Frage zusammen. Alles, was uns ein- 
spinnt in eine soziale Ordnung, so daB wir unter dem Joch von Ge- 
setzen sind, die wir nur im Gesamtverlaufe der Erdentwickelung 
vergeistigen konnen, gehort da herein. Und damit hangt zusammen - 
wie gesagt, ich muB etwas Triviales sagen, das Triviale ist aber nicht 
so gemeint -, daB in die soziale Ordnung nach und nach die Herr- 
schaft alles dessen einzieht, was man als Geld bezeichnen kann, die 
Herrschaft des Geldes, welches unmoglich macht, unmittelbar in geist- 
durchwirkten Gesetzen zu leben. Jeder versteht ja, was mit so etwas 
gemeint ist. Aber dadurch, daB die Unmoglichkeit besteht, «Steine 
zu Brot» zu machen, die Unmoglichkeit, das Geistige in der Materie 
unmittelbar zu haben, unabhangig vom Materiellen, dadurch daB diese 
Unmoglichkeit da ist, und ihr Spiegelbild, die Herrschaft des Geldes 
da ist, dadurch hat Ahriman die Herrschaft. Denn im Gelde lebt ja 
sozial auch Ahriman. 

Es muBte aus der Ahriman gegeniiber unbeantwortet gebliebenen 
Frage bei dem Christus Jesus das Ideal entstehen, nun in die Erd- 
entwickelung sich auszugieBen und nach und nach langsam in der 
ganzen weiteren Erdentwickelung zu wirken. Das konnte nicht bloB 



seelisch abgemacht werden. Es muBte die ganze folgende Erdent- 
wickelung durchchristet werden ! Der Christus muBte iibergehen in die 
Erdentwickelung. Ahriman hatte die Gewalt, dem Christus die Not- 
wendigkeit aufzuerlegen, wirklich sich mit der Erde zu verbinden. 
Daher durchsetzte er spater den Judas, und durch den Judas hatte er 
das Medium, um den Christus wirklich zum Tode zu fiihren. Und 
durch den Tod ging die Christus-Wesenheit iiber in die Erdenwesen- 
heit. Was Judas tat, war die nicht voll beantwortete Frage des Ahri- 
man. Die Luziferversuchung konnte innerlich seelisch abgemacht wer- 
den. Die Luziferversuchung muB jede Seele in sich selber abmachen. 
Ahrimans Art ist so, daB er uberwunden wird in der ganzen folgenden 
geschichtlichen Menschheitsentwickelung, indem sich die Menschen 
immer mehr durchdringen und identifizieren mit der Christus-Wesen- 
heit. 

Man schaut da in der Tat auf ein tiefes Geheimnis der historischen 
Entwickelung nach dem Mysterium von Golgatha, wenn man diese 
dritte, dem Ahriman nicht vollstandig beantwortete Frage Akasha- 
Chronik-maBig ins Auge faBt. Darin liegt schon alles. Und' der Christus 
wuBte jetzt, daB er sich vollstandig verbinden musse mit dem Erden- 
leibe, daB er wirklich ganz Mensch werden musse. 

Dieses Menschwerden war nun die Quelle von weiterem, dreijahri- 
gem Leiden. Denn nicht gleich - so sagt uns die Beobachtung des 
Fiinften Evangeliums in der Akasha-Chronik nicht gleich wurde die 
Christus-Wesenheit vollstandig eins mit den drei Leibern des Jesus 
von Nazareth. Anfangs konnen wir erkennen, wenn wir den Christus 
Jesus auf der Erde wandeln sehen, wie die drei Leiber zwar durchsetzt 
sind von der Christus-Wesenheit, daB aber diese Christus-Wesenheit 
nicht vollstandig darinnen ist, wie ein anderes Ich in einem Menschen 
drinnen ist, sondern sie hat diese drei Leiber wie eine machtige Aura 
nur schwach angefaBt. Denn es ist moglich und hat unzahlige Male 
stattgefunden, daB die Leiblichkeit dieses Christus Jesus irgendwo 
war, sich irgendwo aufhielt in der Einsamkeit oder bei anderen Leu- 
ten, aber der Christus war weit weg, ging als Geistwesenheit im Lande 
herum. Nicht immer, wenn der Christus da oder dort erschien, dem 
einen oder dem anderen Apostel erschien, nicht immer war dann diese 



Geistwesenheit in dem physischen Leibe des Christus Jesus dabei. Er 
erschien schon damals in einem Geistleibe, der so stark war, daB man 
ihn immer als eine physische Gegenwart empfand. Was vom Zusam- 
mensein der Jiinger mit dem Christus geredet wird, das ist nach dem 
Fiinften Evangelium nicht immer ein Zusammensein im physischen 
Leibe, sondern oft nur die bis zur physischen Gegenwart sich hin- 
aufsteigernde visionare Art des Zusammenseins. 

Das ist das Eigentiimliche, daB sich in der ersten Zeit in der Tat 
nur etwas wie ein lockeres Zusammensein ergab zwischen dem Chri- 
stus und der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth. Aber das wurde 
immer dichter und dichter. Immer mehr muBte sich die Christus- 
Wesenheit hineinsenken und verbinden mit den Leibern des Jesus von 
Nazareth. Doch erst gegen das Ende der drei Jahre wurde sozusagen 
aus der Christus-Wesenheit und den Leibern des Jesus von Nazareth 
eine Einheit, vollstandig erst beim Kreuzestode, unmittelbar vor dem 
Kreuzestode. Aber dieses Sich-Vereinigen mit dem menschlichen 
Leibe war sukzessives, immer zunehmendes Leiden. Die umfassende, 
universelle Geistwesenheit des Christus konnte sich nur unter unsag- 
Hchen Leiden mit dem Leibe des Jesus von Nazareth vereinigen. 
Diese Leiden dauerten noch drei Jahre. 

Man wird, wenn man das erschaut, wahrhaftig nicht sentimental, 
denn der Eindruck, den man aus der geistigen Welt wahrnimmt, hat 
nichts von Sentimentalitat. Es gibt wohl kaum einen Eindruck, der 
sich an Leiden vergleichen lieBe mit dem Einswerden der Christus- 
Wesenheit mit der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth. Und man 
lernt erkennen, was ein Gott leiden muBte, damit die altgewordene 
Menschheit eine neue Verjiingung erleben konnte, damit der Mensch 
fahig werden konnte, von seinem Ich vollig Besitz zu ergreifen. 

Diese Entwickelung war so, daB, als sich schon einzelne Jiinger um 
den Christus Jesus versammelt hatten, der Christus Jesus zuweilen im 
physischen Leibe mit den Jiingern vereint war, aber als Geistwesen- 
heit selbstverstandlich fur alle nur mit physischen Augen Sehenden 
unsichtbar, so daB nur die Jiinger durch die Art, wie er sie mit sich 
verbunden hatte, von ihm wuBten, ihn unter sich wuBten. 

Aber etwas sehr Eigentumliches zeigt jetzt die Akasha-Forschung 



des Fiinften EvangeHums. Insbesondere in der ersten Zeit wahrend 
der drei Jahre sprach der Christus Jesus sehr wenig. Er wirkte. Und 
er wirkte durch seine bloBe Gegenwart. Ich werde dariiber noch zu 
sprechen kommen. Durch die besondere Art, wie hier die Christus- 
Wesenheit mit der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth verbunden 
war, gingen Wirkungen von ihm zu anderen Menschen aus, die sonst 
nicht in der Erdentwickelung da waren, und deren Abglanz man mit 
einem ganz ungeeigneten oder heute schlecht verstandenen Worte 
«Wunder» nennt. Solche Wirkungen gingen von ihm aus durch die 
Zusammensetzung der Wesenheit. Davon ein nachstes Mai. Was ich 
aber jetzt sagen will, ist etwas ganz Eigentumliches. 

Man sieht herumgehen die Schar der J linger, hat bei manchem 
Eindruck ganz entschieden das BewuBtsein: Jetzt ist auch der phy- 
sische Leib des Jesus von Nazareth unter den Jungern. — Das ist 
insbesondere dann der Fall, wenn der Christus Jesus in der Einsam- 
keit mit seinen Jungern herumgeht. Aber man hat oftmals auch den 
Eindruck: Die leibliche Personlichkeit des Jesus von Nazareth ist weit 
weg, die Jiinger aber haben das BewuBtsein, sie gehen herum, und 
unter ihnen ist die Christus- Wesenheit. Aber sie kann - und das ist 
das Merkwiirdige - durch jeden der Jiinger sprechen, abwechselnd 
durch den einen oder den anderen. Und wahrend der eine oder der 
andere spricht, ist fur die Zuhorenden aus dem Volke die ganze 
Physiognomie des Sprechenden verandert, wie geheiligt, alles ist 
anders. Wie transfiguriert ist immer einer unter ihnen, und gegen 
die letzten Zeiten immer ein anderer. Es hatte sich durch die mannig- 
faltigsten Verhaltnisse das BewuBtsein verbreitet: Da ist jemand, der 
das Volk aufruttelt, der etwas verbreitet, was die leitenden Juden der 
damaligen Zeit nicht haben wollten. Aber man wuBte nicht, wer es ist. 
Es sprach einmal aus diesem, einmal aus jenem. Daher, so erzahlt uns 
die Akasha-Chronik, war der Verrat des Judas notwendig. 

Ich selbst muB gestehen: Die Frage, warum der Verrat des Judas 
notwendig war, warum ernsthaftig notwendig ist, daB jemand, der 
es wissen konnte aus dem Kreise der Jiinger, durch den Judas-KuB 
wie mit den Fingern darauf hindeutete: «Dieser ist es!», das erschien 
mir eigentlich immer als eine sonderbare Mitteilung, bis ich wufite, 



daB man es wirklich nicht wissen konnte, welcher von ihnen es war, 
um den es sich handelte, weil er durch jeden sprechen konnte; so daB 
man, audi wenn er im Leibe unter ihnen war, es an dem Leibe nicht 
erkennen konnte. Denn es konnte jeder fur ihn gehalten werden, je 
nachdem er durch den einen oder den anderen sprach. Und jeder 
sprach! Erst als einer, der es wuBte, als der Christus Jesus wirklich 
im Leibe unter ihnen war, den Juden sagte: Dieser ist es ! - erst dann 
konnte man ihn ergreifen. 

Es war wirklich eine Erscheinung ganz eigener Art, die sich damals 
im Schwerpunkt, im Mittelpunkt der Erdentwickelung vollzog. Ich 
habe verschiedentlich mehr theoretisch davon gesprochen, wie die 
Menschheit einen Abstieg und einen Aufstieg erlebt, wie einmal dieser 
Christus-Impuls Platz gegriffen hat innerhalb der Menschheit, wie an 
deren Schwerpunkt. Da bekommen wir gewissermaBen den Eindruck 
von der wesentlichen Bedeutung des Christus-Impulses fur die Erd- 
entwickelung. Wir bekommen den Eindruck dadurch, daB wir die 
Sache so charakterisieren, was im Ganzen der Erdentwickelung dieser 
Impuls gerade ist. Ich glaube nicht, wenn wir jetzt gleichsam Stuck 
fur Stuck, rein erzahlend, darstellen, wie sich die Dinge der Anschau- 
ung darbieten, daB auf unsere Gemuter die Ereignisse, die rein erzah- 
lend dargestellt werden, einen geringeren Eindruck machen wiirden. 
Ich glaube nicht, daB irgend etwas von jenen Angaben, die gemacht 
worden sind iiber die einschneidende Bedeutung des Christus-Im- 
pulses, herabgestimmt wird, wenn wir sehen, was der Jesus von Naza- 
reth erlebt hat, als der Zarathustra in seinem Leibe war, wie er erwuchs 
mit seinem Leiden und dem ganzen Wohlwollen, das aus diesem 
Leiden noB, so daB die Zarathustra-Ichheit gebunden war an die 
Worte, die sie zur Mutter sprach und in diesen Worten sich selber 
verlieB. 

Wenn wir dann erfahren, wie in dieses Jesus- Wesen, das durch das 
Gesprach mit der Mutter so von sich selber frei geworden war, die 
Christus- Wesenheit sich hineingesenkt hat, wie diese Christus- Wesen- 
heit gerungen hat mit Ahriman und Luzifer, und wie sich aus diesen 
Leiden alles Folgende entwickelt, wenn wir diese Einzelheiten hin- 
stellen, so glaube ich, sind sie im vollsten Sinne eine Bestatigung 



dessen, was sich aus der Geistesforschung in groBen Linien ergibt. 
Und so schwer es ist, gerade in der Gegenwart riickhaltlos von diesen 
Dingen zu sprechen, so muB es betrachtet werden als eine wirkliche 
Verpflichtung, einzelnen Seelen zu geben, was immer notwendiger 
und notwendiger sein wird zur Entwickelung der Seelen gegen die 
Zukunft hin. Deshalb bitte ich noch einmal, diese Dinge mit Pietat 
hinzunehmen und zu bewahren. 



Berlin, 6.Jamtar 1914 
Vierter Vortrag 



Als ein Wichtiges in der Betrachtung des Christus Jesus-Lebens, wie 
wir sie jetzt angestellt haben nach dem, was ich das Funfte Evange- 
lium nennen mochte, muB uns alles erscheinen, was geschehen ist 
nach jenem Gesprache des Jesus von Nazareth mit der Mutter, von 
dem ich auch hier eine Darstellung gegeben habe. Ich mochte nun, 
wie das hoffentlich im intimen Kreise einer solchen Arbeitsgruppe, 
wie die hiesige ist, geschehen kann, zunachst aufmerksam machen auf 
das, was unmittelbar nach dem Gesprache des Jesus von Nazareth mit 
der Mutter geschehen ist, was sich also gewissermaBen zwischen die- 
sem Gesprache und der Johannestaufe im Jordan zugetragen hat. Was 
ich zu erzahlen habe, sind Tatsachen, die sich dem intuitiven Schauen 
ergeben, und die auch ohne weitere Erklarung einfach angefiihrt 
werden sollen, so daB sich jeder iiber sie die Gedanken machen kann, 
die er will. 

Wir haben gesehen, daB nach dem Leben, das wir in bezug auf ein- 
zelnes geschildert haben, welches der Jesus von Nazareth von seinem 
zwolften bis zum neunundzwanzigsten, dreiBigsten Jahre gefuhrt hat, 
ein Gesprach zwischen ihm und seiner Mutter stattgefunden hat, jener 
Mutter, die eigentlich seine Stief- oder Ziehmutter und die leibliche 
Mutter des salomonischen Jesus war, jenes Gesprach, in dem gewisser- 
maBen so intensiv, so energisch in die Worte des Jesus von Nazareth 
eingeflossen ist das, was sich ihm als Konsequenz, als die Wirkung 
seines Erlebens ergeben hat: daB mit seinen Worten in die Seele der 
Stief- oder Ziehmutter eine ungeheure Kraft hiniiberging. Es war eine 
solche Kraft, welche moglich machte, daB die Seele der leiblichen 
Mutter des nathanischen Jesus von Nazareth aus der geistigen Welt 
heruntersteigen konnte, in der sie ungefahr seit dem zwolften Jahre 
des nathanischen Jesus war, und durchdringen, durchgeistigen konnte 
die Seele der Stief- oder Ziehmutter, so daB diese fortan weiterlebte, 
durchdrungen mit der Seele der Mutter des nathanischen Jesus. Fur 



den Jesus von Nazareth selbst aber ergab sich, daB mit seinen Worten 
gleichsam das Ich des Zarathustra fortgegangen war. Was sich jetzt 
auf den Weg machte zur Johannestaufe im Jordan, das war im Grunde 
genommen der nathanische Jesus, der die drei Hiillen in der Weise 
gestaltet hatte, wie es ofter besprochen worden ist, ohne das Ich des 
Zarathustra, aber mit den Wirkungen dieses Zarathustra-Ichs, so daB 
tatsachlich alles, was das Zarathustra-Ich in diese dreifache Hiille hin- 
eingieBen konnte, in dieser dreifachen Hiille auch war. 

Sie werden verstehen, daB dieses Wesen, das jetzt als Jesus von 
Nazareth aus einem, man mochte sagen, unbestimmten kosmischen 
Drange - fur ihn unbestimmten, fur den Kosmos sehr bestimmten 
Drange heraus - zu der Johannestaufe im Jordan ging, nicht in dem- 
selben Sinne als Mensch anzusprechen ist wie andere Menschen. 
Denn das, was dieses Wesen als Ich ausgefullt hatte seit seinem 
zwolften Jahre, war das Zarathustra-Ich. Dieses Zarathustra-Ich war 
jetzt fort. Es lebte nur in den Wirkungen dieses Zarathustra-Ichs 
weiter. 

Als nun dieses Wesen Jesus von Nazareth sich auf den Weg machte 
zu dem Taufer Johannes, da - so erzahlt das Fiinfte Evangelium - be- 
gegnete der Jesus von Nazareth zunachst zwei Essaern. Zwei Essaer 
waren es, mit denen er oftmals bei den Gelegenheiten, von denen 
ich gesprochen habe, Gesprache gefiihrt hatte. Aber da das Ich des 
Zarathustra aus ihm herausgegangen war, so kannte er die beiden 
Essaer nicht sogleich. Sie aber erkannten ihn, denn es hatte sich natiir- 
lich jenes bedeutungsvolle physiognomische Geprage, welches diese 
Wesenheit durch das Innewohnen des Zarathustra bekommen hatte, 
fur den auBeren Anblick nicht geandert. Die beiden Essaer sprachen 
ihn an mit den Worten: Wohin geht dein Weg? - Der Jesus von 
Nazareth antwortete : Dahin, wohin noch Seelen eurer Art nicht blik- 
ken wollen, wo der Schmerz der Menschheit die Strahlen des ver- 
gessenen Lichtes fuhlen kann ! 

Die beiden Essaer verstanden seine Rede nicht. Als sie merkten, 
daB er sie nicht erkannte, da sprachen sie zu ihm: Jesus von Nazareth, 
kennst du uns denn nicht? - Er aber antwortete: Ihr seid wie verirrte 
Lammer; ich aber werde der Hirte sein miissen, dem ihr entlaufen 



seid. Wenn ihr mich recht erkennet, werdet ihr mir bald von neuem 
entlaufen. Es ist so lange her, daB ihr von mir entnohen seid! - Die 
Essaer wuBten nicht, was sie von ihm halten soilten, denn sie wuBten 
nicht, wie es moglich ware, daB aus einer Menschenseele solche Worte 
kommen konnten. Und unbestimmt schauten sie ihn an. Er aber 
sprach weiter: Was seid ihr fur Seelen, wo ist eure Welt? Warum 
umhullt ihr euch mit tauschenden Hiillen? Warum brennt in eurem 
Innern ein Feuer, das in meines Vaters Hause nicht entfacht ist? Ihr 
habt des Versuchers Mai an euch; er hat mit seinem Feuer eure Wolle 
glanzend und gleiBend gemacht. Die Haare dieser Wolle stechen mei- 
nen Blick. Ihr verirrten Lammer, der Versucher hat eure Seelen mit 
Hochmut durchtrankt; ihr traft ihn auf eurer Flucht. 

Als Jesus von Nazareth das gesagt hatte, sprach einer der Essaer: 
Haben wir nicht dem Versucher die lure gewiesen? Er hat kein Teil 
mehr an uns. - Und Jesus von Nazareth sprach: Wohl wieset ihr dem 
Versucher die Tiire, doch er lief hin und kam zu den anderen Men- 
schen. So grinst er euch aus den Seelen der anderen Menschen von 
alien Seiten an! Glaubt ihr denn, ihr hattet euch dadurch erhohen 
konnen, daB ihr die anderen erniedrigt habt? Ihr kommt euch hoch 
vor, aber nicht deshalb, weil ihr hochgekommen seid, sondern weil 
ihr die anderen erniedrigt habt. So sind sie niedriger. Ihr seid ge- 
blieben, wo ihr waret. Nur deshalb kommt ihr euch so hoch iiber den 
anderen vor. - Da erschraken die Essaer. In diesem Augenblick aber 
verschwand der Jesus von Nazareth vor ihren Augen. Sie konnten 
ihn nicht mehr sehen. 

Nachdem ihre Augen fur eine kurze Weile wie getriibt waren, 
fiihlten sie den Drang, in die Feme zu schauen. Und in der Feme 
schauten sie etwas wie eine Fata Morgana. Diese zeigte ihnen, ins 
Riesenhafte vergroBert, das Antlitz dessen, der eben vor ihnen ge- 
standen. Und dann horten sie wie aus der Fata Morgana zu ihnen ge- 
sprochen die Worte, furchtbar ihre Seelen durchdringend: Eitel ist 
euer Streben, weil leer ist euer Herz, da ihr euch erfiillt habt mit 
dem Geiste, der den Stolz in der Hiille der Demut tauschend birgt! - 
Und als sie eine Weile wie betaubt von diesem Gesicht und diesen 
Worten gestanden hatten, verschwand die Fata Morgana. Aber auch 



der Jesus von Nazareth stand nicht mehr vor ihnen. Sie blickten sich 
um. Da war er schon weitergegangen, und fern von ihnen sahen sie 
ihn. Und die beiden Essaer gingen nach Hause und sagten keinem 
etwas, was sie gesehen hatten, sondern schwiegen die ganze iibrige 
Zeit bis zu ihrem Tode. 

Ich will diese Tatsachen darstellen und rein fur sich geben, wie sie 
sich aus dem heraus, was wir die Akasha-Chronik nennen, finden 
lassen, und jeder kann sich dabei denken, was er mag. Es ist dieses 
gerade jetzt wichtig, weil dieses Fiinfte Evangelium vielleicht doch 
immer mehr ausfiihrlich kommen mag, und weil durch jede theore- 
tische Interpretation das, was es geben will, nur gestort werden 
konnte. 

Als nun der Jesus von Nazareth auf diesem Wege zum Jordan hin, 
auf den er getrieben worden war, eine Weile weiterging, begegnete er 
einer Personlichkeit, von der man sagen kann: in ihrer Seele war tief- 
ste Verzweiflung. Ein Verzweifelter kam ihm in den Weg. Und der 
Jesus von Nazareth sagte: Wozu hat deine Seele dich gefuhrt? Ich 
habe dich vor Aonen gesehen, da warst du ganz anders. - Da sprach 
der Verzweifelte : Ich war in hohen Wiirden; ich bin im Leben hoch 
gestiegen. Viele, viele Amter habe ich durchlaufen in der mensch- 
lichen Rangordnung, und schnell ging es. Da sagte ich mir oftmals, 
wenn ich sah, wie die anderen in ihren Wiirden zuriickblieben, und 
ich hochstieg: Was fur ein seltener Mensch bist du doch; deine hohen 
Tugenden erheben dich uber alle anderen Menschen! Ich war im 
Gliick und genoB voll dieses Gliick. - So sagte der Verzweifelte, 
Dann fuhr er fort: Dann kam mir einmal schlafend etwas vor wie ein 
Traum. Im Traume war es, wie wenn eine Frage an mich gestellt 
wurde, und dann wuBte ich gleich, daB ich mich im Traume selber 
schamte vor dieser Frage. Denn die Frage, die da an mich gestellt 
wurde, war die: Wer hat dich groB gemacht? - Und ein Wesen stand 
vor mir im Traume, das sagte : Ich habe dich erhoht, doch du bist da- 
fiir mein! - Und ich schamte mich; denn ich glaubte, nur meinen 
eigenen Verdiensten und meinen Talenten die Erhohung zu ver- 
danken. Und jetzt trat mir - ich fiihlte, wie ich mich im Traume 
schamte - ein anderes Wesen entgegen, das sagte, daB ich kein Ver- 



dienst hatte an meiner Erhohung. Da muBte ich im Traume vor 
Scham die Flucht ergreifen. Ich KeB alle meine Amter und Wiirden 
hinter mir und irre herum, suchend und nicht wissend, was ich suche. - 
So sprach der Verzweifelte. Und als er noch so sprach, stand das 
Wesen wieder vor ihm, zwischen ihm und dem Jesus von Nazareth, 
und deckte mit seiner Gestalt die Gestalt des Jesus von Nazareth zu. 
Und es hatte der Verzweifelte ein Gefuhl, daB dieses Wesen etwas 
mit dem Luziferwesen zu tun habe. Und wahrend das Wesen noch 
vor ihm stehenblieb, entschwand der Jesus von Nazareth, und dann 
verschwand auch das Wesen. Dann sah aber der Verzweifelte bereits 
in einiger Entfernung, daB Jesus von Nazareth voriibergegangen 
war, und er zog seines Weges irrend weiter. 

Als Jesus von Nazareth weiterging, traf er einen Aussatzigen. Auf 
die Frage des Jesus von Nazareth: Wozu hat der Weg deiner Seele 
dich gefuhrt? Ich habe dich vor Aonen gesehen, doch da warst du 
anders sagte der Aussatzige : Mich haben die Menschen verstoBen, 
verstoBen wegen meiner Krankheit! Kein Mensch wollte mit mir 
etwas zu tun haben, und ich wuBte nicht, wie ich fur die Notdurft 
meines Lebens sorgen sollte. Da irrte ich in meinem Leide herum 
und kam einmal in einen Wald. Etwas, was ich in der Feme sah wie 
ein leuchtender Baum, zog mich an. Und ich konnte nicht anders, 
als wie getrieben zu diesem leuchtenden Baume hinzugehen. Da war 
es, wie wenn aus diesem Lichtschimmer des Baumes etwas heraus- 
kame wie ein Totengerippe. Und ich wuBte: der Tod selber stand 
vor mir. Der Tod sagte : Ich bin du ! Ich zehre an dir. - Da fiirchtete 
ich mich. Der Tod aber sprach: Warum furchtest du dich? Hast du 
mich nicht immer geliebt? - Und ich wuBte doch, daB ich ihn nie 
geliebt hatte. Und wahrend er so zu mir sprach: Warum furchtest 
du dich? Hast du mich nicht geliebt? - verwandelte er sich in einen 
schonen Erzengel. Dann verschwand er, und ich verfiel in einen tie- 
fen Schlaf. Erst am Morgen wachte ich wieder auf und fand mich an 
dem Baume schlafend. Von da ab wurde mein Aussatz immer schlim- 
mer. - Und als er das erzahlt hatte, stand das, was er an dem Baume 
gesehen hatte, zwischen ihm und dem Jesus von Nazareth und ver- 
wandelte sich in ein Wesen, von dem er wuBte: Ahriman oder etwas 



Ahrimanisches stand vor ihm. Und wahrend er es noch anschaute, 
verschwand das Wesen, und auch der Jesus von Nazareth verschwand. 
Jesus war schon eine Weile weitergegangen. Und der Aussatzige 
muBte weiterziehen. 

Nach diesen drei Erlebnissen kam der Jesus von Nazareth zu der 
Johannestaufe im Jordan. Noch einmal will ich hier erwahnen, daB, 
als die Johannestaufe sich vollzogen hatte, dasjenige eintrat, was auch 
in den anderen Evangelien beschrieben ist, und was man als die Ver- 
suchung bezeichnet. Diese Versuchung hat sich so vollzogen, daB der 
Christus Jesus nicht nur dem einen Wesen gegemiberstand, sondern 
daB die Versuchung gleichsam in drei Etappen verlief. 

Zuerst stand der Christus Jesus einem Wesen gegeniiber, das ihm 
jetzt nahe war, weil er es gesehen hatte, als der Verzweifelte an ihn 
herangetreten war, und das er dadurch gerade als Luzifer empfinden 
konnte. Das ist ein sehr bedeutsamer Zusammenhang. Und dann 
fand durch Luzifer jene Versuchung statt, die ja mit den Worten 
ausgesprochen ist: Ich gebe dir alle Reiche der Welt und ihre Herr- 
lichkeit, wenn du mich als deinen Herrn anerkennst! - Die Luzifer- 
versuchung wurde abgeschlagen. 

Die zweite Attacke bestand darin, daB Luzifer wiederkam, aber mit 
ihm das Wesen, das zwischen dem Jesus von Nazareth und dem Aus- 
satzigen gestanden hatte, und das er deshalb als Ahriman erfiihlte. 
Und stattfand jetzt die Versuchung, die in den anderen Evangelien 
in die Worte gekleidet ist: Stiirze dich hinab, es wird dir nichts ge- 
schehen, wenn du der Sohn Gottes bist. - Auch diese Versuchung, 
die so stattfand, daB Luzifer durch Ahriman und Ahriman durch 
Luzifer paralysiert werden konnte, wurde abgeschlagen. 

Nur die dritte Versuchung, die durch Ahriman allein geschah, um 
den Christus Jesus zu versuchen, daB die Steine zu Brot gemacht wer- 
den konnten, nur diese Versuchung wurde dazumal nicht vollig abge- 
schlagen. Und diese Tatsache, daB Ahriman nicht vollig besiegt wurde, 
sie fiihrte dann dazu, daB die Dinge den Verlauf nahmen, den sie eben 
genommen haben. Dadurch konnte dann Ahriman durch den Judas wir- 
ken; dadurch konnte es uberhaupt geschehen, daB alle spateren Ereig- 
nisse eingetreten sind in der Weise, wie wir es noch horen werden. 



Sie sehen, es hat sich hier eine Akasha-Intuition ergeben iiber den 
Moment, den wir als einen unendlich wichtigen in der ganzen Chri- 
stus Jesus-Entwickelung und damit in der Entwickelung der Erde 
ansehen miissen. Gleichsam als ob noch einmal voriiberziehen sollte 
die Art, wie die Erdentwickelung verbunden ist mit dem luziferischen 
und ahrimanischen Element, so traten die Ereignisse auf zwischen 
dem Gesprach des Jesus von Nazareth mit der Ziehmutter und der 
Johannestaufe im Jordan. Derjenige, welcher der nathanische Jesus 
war und in dem durch achtzehn Jahre das Ich des Zarathustra ge- 
wirkt hatte, war durch die geschilderten Ereignisse vorbereitet, die 
Christus-Wesenheit in sich aufzunehmen. Und damit stehen wir an dem 
Punkt, von dem so auBerordentlich wichtig ist, daB er in der richtigen 
Weise vor unsere Seele tritt, wenn wir die Menschheitsentwickelung 
der Erde entsprechend verstehen wollen. Darum versuchte ich auch 
verschiedenes zusammenzutragen, wie es sich aus der okkulten For- 
schung ergibt, was in diesem Sinne unsere Menschheitsentwickelung 
auf der Erde begreif lich machen kann. 

Es wird sich vielleicht auch einmal die Moglichkeit bieten, hier 
iiber die Dinge zu sprechen, die jetzt in dem Leipziger Vortrags- 
zyklus besprochen sind, wo ich versuchte, eine Linie zu Ziehen von 
dem Christus-Ereignis zu dem Parzival-Ereignis hin. Heute will ich 
dariiber nur einige Andeutungen machen im Zusammenhange mit den 
Tatsachen des Fiinften Evangeliums, die ich dann bei unserer nach- 
sten Zusammenkunft weiter besprechen mochte. Ich mochte darauf 
aufmerksam machen, wie durch die verschiedensten Dinge der 
Menschheitsentwickelung - Dinge, die dieser Menschheitsentwicke- 
lung gleichsam eingepragt sind, damit diese Menschheitsentwicke- 
lung ein wenig den Gang der Ereignisse verstehen sollte -, wie der 
ganze Sinn und Verlauf dieser Menschheitsentwickelung zum Aus- 
druck kommt, wenn man diese Dinge nur versteht und im richtigen 
Lichte sieht. Nicht auf das mochte ich eingehen, was ich in Leipzig 
auseinandergesetzt habe iiber den Zusammenhang der Parzival-Idee 
mit der Christus-Entwickelung ; aber auf etwas, was dort alle Aus- 
einandersetzungen durchdrungen hat, mochte ich eingehen. 

Dazu muB ich allerdings darauf aufmerksam machen, daB wir uns 



erinnern: Wie steht Parzival vor uns, der einige Jahrhunderte, nach- 
dem das Mysterium von Golgatha stattgefunden hat, gleichsam eine 
wkhtige Stufe bildet fur das Fortwirken des Christus-Ereignisses in 
einer Seele? 

Parzival ist der Sohn eines abenteuernden Fitters und seiner Mutter 
Herzeleide. Der Ri tter ist schon weggezogen, be vor Parzival geboren 
wurde. Die Mutter erleidet Schmerzen und Qualen schon vor der 
Geburt, Sie will ihren Sohn vor alledem bewahren, womit er in Be- 
ruhrung kommen kann etwa durch Rittertugend und dadurch, daB er 
im Ritterdienste seine Krafte entfaltet. Sie zieht ihn so auf, daB er 
nichts von allem erfahrt, was in der auBeren Welt vorkommt, was dem 
Menschen durch die Einflusse der auBeren Welt gegeben werden kann. 
In der Einsamkeit der Natur, nur eben diesen Eindriicken der Natur 
iiberlassen, soil Parzival heranwachsen. Nichts wissen soil er von 
dem, was unter den Rittern und den anderen Menschen vorgeht. Es 
wird auch gesagt, daB er nichts weiB von dem, was in der auBeren 
Welt uber diese oder jene religiosen Vorstellungen gesagt wird. Einzig 
und allein das erfahrt er von der Mutter, daB es einen Gott gibt, daB 
ein Gott hinter allem steht. Er will Gott dienen. Aber mehr weiB er 
nicht, als daB er Gott dienen kann. Alles andere wird ihm vorenthalten. 
Aber der Drang zum Rittertum ist so stark, daB er dazu getrieben 
wird, die Mutter eines Tages zu verlassen und hinauszuziehen, um 
das kennenzulernen, wonach es ihn treibt. Und dann wird er nach 
mancherlei Irrfahrten nach der Burg des Heiligen Grals gefuhrt. 

Was er dort erlebt, ist uns am besten - das heiBt am besten ent- 
sprechend dem, was wir aus der geisteswissenschaftlichen Urkunde 
heraus gewinnen konnen - bei Chrestien de Troyes geschildert, der auch 
eine Quelle war fur Wolfram von Eschenbach. Wir erfahren, daB Parzival 
einst auf seinen Wanderungen in eine waldige Gegend kam, am 
Meeresrande, wo zwei Manner fischten. Und auf die Frage, die er 
ihnen stellte, wiesen sie ihn nach der Burg des Fischerkonigs. Er kam 
an die Burg, trat ein, und es wurde ihm der Anblick, daB er einen 
Mann fand, krank und schwach, der auf einem Ruhebette lag. Dieser 
gab ihm ein Schwert, das Schwert seiner Nichte. Und der Anblick bot 
sich ihm weiter, daB ein Knappe hereintrat mit einer Lanze, von der 



Blut heruntertroff, bis zu den Handen des Knappen. Dann trat herein 
eine Jungfrau mit einer goldenen Schale, aus der ein solches Licht 
leuchtete, das alle anderen Lichter des Saales iiberstrahlte. Dann wurde 
ein Mahl aufgetragen. Bei jedem Gange wurde diese Schale voriiber- 
getragen und in das Nebenzimmer gebracht. Und der dort liegende 
Vater des Fischerkonigs wurde durch das, was in dieser Schale war, 
gestarkt. 

Das alles war dem Parzival wunderbar vorgekommen, allein er hatte 
friiher auf seinen Wanderungen durch einen Ritter den Rat erhalten, 
nicht viel zu fragen. Daher fragte er auch jetzt nicht nach dem, was 
er sah; er wollte erst am nachsten Morgen fragen. Aber als er auf- 
wachte, da war das ganze SchloB leer. Er rief, niemand kam. Er 
glaubte, die Ritter seien auf die Jagd gezogen und wollte ihnen folgen. 
Auf dem SchloBhofe fand er sein Pferd gesattelt. Er ritt hinaus, muBte 
aber schnell iiber die Zugbriicke reiten; das Pferd hatte einen Sprung 
machen miissen, weil die Zugbriicke gleich hinter ihm heraufgezogen 
wurde. Aber nichts fand er von den Rittern. 

Aber es ist uns ja bekannt, worauf es ankommt: daB Parzival nicht 
gefragt hat. Trotzdem das Wunderbarste vor seine Seele getreten ist, 
hat er zu fragen versaumt. Und er muB es immer wieder horen, daB es 
mit dem, was zu seiner Sendung gehort, etwas zu tun hat, daB er hatte 
fragen miissen, daB gewissermaBen seine Mission zusammengehangen 
hat mit dem Fragen nach dem Wunderbaren, das ihm entgegen- 
getreten ist. Er hat nicht gefragt! Erkennen lieB man ihn, daB er eine 
Art Unheil dadurch herbeigefiihrt hat, daB er nicht gefragt hat. 

Wie steht hier Parzival vor uns? So steht er vor uns, daB wir uns 
sagen: In ihm haben wir eine Personlichkeit, die abseits erzogen 
worden ist von der Kultur der auBeren Welt, die nichts hat wissen 
sollen von der Kultur der auBeren Welt, die zu den Wundern des 
Heiligen Grals hat gefiihrt werden sollen, damit sie nach diesen Wun- - 
dern fragt, aber fragt mit jungfraulicher, nicht durch die iibrige Kultur 
beeinfluBter Seele. Warum sollte sie so fragen? Ich habe ofters darauf 
hingewiesen, daB das, was durch den EinfluB des Christus-Impulses 
gewirkt worden war, als eine Tat gewirkt worden war, daB die Men- 
schen nicht gleich haben verstehen konnen, was gewirkt worden ist. 



So haben wir auf der einen Seite das, was dadurch, daB der Christus 
in die Erdenaura eingeflossen ist, fortlaufend gewirkt worden war, 
was auch die Menschen daruber gedacht und gestritten und ersonnen 
haben in den mannigfaltigen theologischen Dogmen. Denn der 
Christus-Impuls hat weitergewirkt! Und die Gestaltung des Abend- 
landes geschah durch den EinfluB dieses Christus-Impulses, der gleich- 
sam in den Untergrunden auf die Menschenseelen und in den Unter- 
grunden des ganzen geschichtlichen Werdens wirkte. Hatte er nur 
durch das wirken konnen, was die Menschen verstanden haben und 
woriiber sie gezankt haben, so hatte er wenig in der Menschheits- 
entwickelung wirken konnen. Jetzt sehen wir zur Parzival-Zeit einen 
wichtigen Moment herbeikommen, wo der Christus-Impuls wieder 
um eine Stufe weiter wirken soli. 

Daher soil Parzival nicht einer von denjenigen sein, die gewisser- 
maBen gelernt haben, was einst auf Golgatha hingeopfert worden ist, 
was nachher die Apostelvater, die Kirchenlehrer und die anderen 
verschiedenen theologischen Stromungen gelehrt haben. Er sollte 
nicht wissen, wie sich die Bitter mit ihren Tugenden in den Dienst des 
Christus gestellt haben. Er sollte einzig und allein mit dem Christus- 
Impuls in den Untergrunden seiner Seele in Zusammenhang kommen, 
in den er nach MaBgabe seiner Zeit hat kommen konnen. Getriibt 
hatte es diesen Zusammenhang nur, wenn er das aufgenommen hatte, 
was die Menschen iiber den Christus gelehrt oder gelernt hatten. 
Nicht was die Menschen taten oder sagten, sondern was die Seele er- 
lebt, wenn sie nur dem hingegeben ist, was iibersinnlich geschah im 
Fortwirken des Christus-Impulses. So sollte es bei Parzival sein. 
AuBere Lehre gehort immer auch der sinnlichen Welt an. Aber der 
Christus-Impuls hat iibersinnlich gewirkt und sollte iibersinnlich in 
die Seele des Parzival hineinwirken. Zu nichts anderem sollte seine 
Seele getrieben werden, als zu fragen dort, wo ihm die Bedeutsamkeit 
des Christus-Impulses entgegentreten konnte : am Heiligen Gral. Fra- 
gen sollte er! Fragen sollte er, nicht angestiftet durch das, was die 
Ritter glaubten in dem Christus verehren zu miissen, oder durch das, 
was die Theologen glaubten in dem Christus verehren zu miissen; 
sondern einzig und allein durch die jungfrauliche, aber im Sinne ihrer 



Zeitepoche lebende Seele sollte er angeregt werden, zu fragen, was 
der Heilige Gral enthiillen konnte, und was eben das Christus- 
Ereignis sein konnte. Er sollte fragen! Halten wir dieses Wort fest. 

Ein anderer sollte nicht fragen. Er ist ja bekannt genug, der nicht 
fragen sollte: der Jungling zu Sais sollte nicht fragen. Denn sein Ver- 
hangnis war es, daB er fragen muBte, daB er tat, was er nicht tun 
sollte, daB er haben wollte, daB das Bild der Isis enthullt werden 
sollte. Der Parzival der vor dem Mysterium von Golgatha liegenden 
Zeit, das ist der Jungling zu Sais. Aber in jener Zeit wurde ihm ge- 
sagt: Hute dich, daB deiner Seele unvorbereitet enthullt werden 
sollte, was hinter dem Schleier ist! - Der Jungling zu Sais nach dem 
Mysterium von Golgatha ist Parzival. Und er sollte nicht besonders 
vorbereitet werden, er soil mit jungfraulicher Seele zum Heiligen 
Gral hingefiihrt werden. Er versaumt das Wichtigste, da er das nicht 
tut, was dem Jungling zu Sais verwehrt war, da er nicht fragt, nicht 
sucht nach der Enthiillung des Geheimnisses fur seine Seele. So andern 
sich die Zeiten im Laufe der Menschheitsentwickelung ! 

Wir wissen es ja - zunachst miissen wir solche Dinge abstrakt an- 
deuten, wir werden dariiber aber noch ausfiihrlicher sprechen kon- 
nen -, daB es sich handelt um das, was sich in der Isis enthiillen sollte. 
Wir stellen uns vor das Bild der alten Isis mit dem Horusknaben, das 
Geheimnis des Zusammenhanges zwischen Isis und Horus, dem Sohne 
der Isis und des Osiris. Aber das ist abstrakt gesprochen. Dahinter 
Hegt natiirlich ein groBes Geheimnis. Der Jungling zu Sais war nicht 
reif, um dieses Geheimnis zu erfahren. Als Parzival, nachdem er auf 
der Gralsburg nach den Wundern des Heiligen Grals zu fragen ver- 
saumt hatte, fortreitet, da gehort zu den ersten, die ihm begegnen, 
ein Weib, eine Braut, die da trauert um ihren eben gestorbenen 
Brautigam, den sie im SchoBe halt: Richtig das Bild der trauernden 
Mutter mit dem Sohne, das spater so oftmals als Pieta-Motiv gedient 
hat! Das ist die erste Hinweisung darauf, was Parzival erfahren hatte, 
wenn er nach den Wundern des Heiligen Grals gefragt hatte. Er hatte 
in der neuen Form jenen Zusammenhang erfahren, der besteht zwi- 
schen Isis und Horus, zwischen der Mutter und dem Menschensohne. 
Und er hatte fragen sollen ! 



Daran sehen wir, wie tief uns solche Hinweise andeuten, was fur ein 
Fortschritt in der Entwickelung der Menschheit geschieht: Was nicht 
geschehen darf in der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha - nach 
dem Mysterium von Golgatha soil es geschehen, denn die Menschheit 
ist eben in der Zwischenzeit vorwarts geschritten. Die Seele der 
Menschheit ist gewissermaBen eine andere geworden. 

Wie gesagt, iiber alle diese Dinge wollen wir spater weiter sprechen; 
ich will sie hier nur andeuten. Aber alle diese Dinge haben doch fur 
uns nur den entsprechenden Wert, wenn wir sie fur uns fruchtbar 
machen, recht fruchtbar machen. Und was uns aus dem fur uns wirk- 
lich durch das Bild des Jiinglings zu Sais bereicherten Parzival- 
Geheimnis flieBen kann, das ist, daB wir im rechten Sinne, wie es 
unserer Zeit auch entspricht, fragen lernen. Denn in diesem Fragen- 
lernen liegt die aufsteigende Stromung der Menschheitsentwickelung. 

Wir haben notwendigerweise nach dem Mysterium von Golgatha 
zwei Stromungen der Menschheitsentwickelung: die eine, die den 
Impuls des Christus in sich tragt und in die spirituellen Hohen all- 
mahlich aufwarts fiihrt; die andere, welche gleichsam ein Fortgehen 
des Niederstieges ist und in das materielle Leben, in den Materialismus 
hineinfiihrt. In der Gegenwart gehen diese beiden Stromungen so 
durcheinander, daB allerdings weitaus der groBte Teil unserer Kultur 
von der materialistischen Stromung durchsetzt ist; so daB der Mensch 
heute vorurteilslos und unbefangen auf alles hinblicken muB, was uns 
die Geisteswissenschaft iiber den Christus-Impuls sagen kann, und 
was damit zusammenhangt, damit er einsehen kann, daB die Seele zu 
der notwendig immer materialistischer werdenden AuBenwelt jenen 
inneren Fortgang im Sinne der Spiritualitat braucht. Dazu aber miissen 
wir gerade von solchen Dingen etwas lernen, wie das erwahnte ist: 
Wir miissen lernen zu fragen. 

In der spirituellen Stromung miissen wir lernen zu fragen. In der 
materialistischen Stromung fuhrt aber die Menschen alles ab vom 
Fragen. Wir wollen diese zwei Dinge nur nebeneinander hinstellen, 
um zu zeigen, wie die eine und wie die andere Stromung ist. In der 
einen haben wir diejenigen Menschen, die im Materialismus drinnen- 
stehen. Das konnen durchaus solche sein, die an diesen oder jenen 



spirituellen Dogmen festhalten, die mit Worten, mit Theorien die 
spirituelle Welt anerkennen. Aber darauf kommt es nicht an, sondern 
darauf, daB wir mit dem Ganzen unserer Seele in die spirituelle Stro- 
mung hineinkommen. Von den Menschen, die in der materialistischen 
Stromung drinnenstehen, kann man sagen: sie sind keine «Frager». 
Sie sind wirklich keine Frager, denn sie wissen schon alles. Das ist das 
Char^kteristikon der materialistischen Kultur, daB diese Menschen 
alles wissen, daB sie nicht fragen wollen. Sogar die jungsten Menschen 
wissen heute alles und fragen nicht. Man halt das fur Freiheit und fur 
eine Erhohung des personlichen Wertes, wenn man uberall ein eigenes 
Urteil fallen kann. Man merkt nur nicht, wie dieses personliche Urteil 
reift. Wir wachsen herein in die Welt. Mit den ersten Worten der 
Kindheit nehmen wir dieses oder jenes auf. Dann wachsen wir heran, 
nehmen mehr und mehr auf, merken nicht, wie wir die Dinge auf- 
nehmen. Wir sind durch unser Karma so und so geartet. Dadurch 
gefallt uns dieses oder jenes mehr oder weniger gut. Wir wachsen 
heran und erreichen mit unserem Urteil das fur manche Kritiker schon 
durchaus respektable Alter von fiinfundzwanzig Jahren, und wir fiih- 
len uns reif in unserem Urteil, weil wir glauben, daB es aus unserer 
eigenen Seele kommt. Wer aber in die Seelen hineinblicken kann, der 
weiB, daB dahinter nichts steckt als das auf die eigene Seele konzen- 
trierte auBere Leben, in das wir gerade hineingestellt sind. Wir konnen 
damit auch in Konflikt kommen, wenn wir glauben, dies oder jenes 
bringe uns unser eigenes Urteil bei. Indem wir glauben, unabhangig 
zu sein, werden wir nur um so sklavischer abhangig von unserem eige- 
nen Inneren. Wir urteilen, aber wir verlernen vollstandig, zu fragen. 

Fragen lernen wir nur, wenn wir jenes GleichmaB der Seele in uns 
auszubilden vermogen, das sich Ehrfurcht und Ehrerbietung be- 
wahren kann vor den heiligen Gebieten des Lebens, wenn wir im- 
stande sind, in unserer Seele so etwas zu haben, das immer den Drang 
hat, sich auch durch das eigene Urteil nicht zu engagieren gegeniiber 
dem, was aus den heiligen Gebieten des Lebens an uns herandringen 
soil. Fragen lernen wir nur, wenn wir uns versetzen konnen in eine 
erwartungsvolle Stimmung, so daB durch dieses oder jenes Ereig- 
nis sich uns dieses oder jenes im Leben offenbaren mag, wenn wir 



warten konnen, wenn wir eine gewisse Scheu tragen, das eigene Urteil 
anzuwenden gegeniiber dem gerade, was mit Heiligkeit aus den heili- 
gen Gebieten des Daseins herausstromen soli, wenn wir nicht urteilen, 
sondern fragen, und nicht nur etwa Menschen fragen, die uns etwas 
sagen konnen, sondern vor allem die geistige Welt fragen, der wir 
nicht unser Urteilen entgegenhalten, sondern unsere Frage, unsere 
Frage schon in der Stimmung, in der Gesinnung. 

Versuchen Sie sich durch Meditation so recht klar zu werden, wel- 
cher Unterschied besteht zwischen dem Entgegenhalten von Urteilen 
und dem Entgegenhalten von Fragen gegeniiber den geistigen Gebie- 
ten des Lebens. Das muB man innerlich erfahren, daB ein radikaler 
Unterschied zwischen den beiden besteht. Mit diesem Unterschiede 
hangt etwas zusammen, das durch unsere ganze Zeit geht und das wir 
in unserer spirituellen Geistesstromung ganz besonders wohl beach- 
ten sollen. Denn diese spirituelle Geistesstromung wird nur gedeihen 
konnen, wenn wir den Unterschied zwischen Fragen und Urteilen ver- 
stehen lernen. GewiB miissen wir urteilen in bezug auf die auBeren 
Verhaltnisse des Lebens. Daher habe ich auch nicht gesagt, wir sollen 
uberall unser Urteilen einschranken; sondern iiber das, was die tieferen 
Geheimnisse der Welt sind, sollen wir die erwartungsvolle Frage- 
stimmung kennenlernen. Fortgehen wird unsere spirituelle Bewegung 
durch alles, wodurch diese Fragestimmung in einem groBeren Teile 
der Menschheit anerkannt und gefordert wird; gehemmt wird unsere 
spirituelle Bewegung durch alles, was an leichtfertigem Urteilen sich 
dieser Stromung entgegensetzt. Und wenn wir in rechten Feieraugen- 
blicken unseres Lebens uns zu iiberlegen versuchen, was wir aus einer 
solchen Darstellung gewinnen konnen, wie die von dem nach der 
Gralsburg gehenden Parzival, der fragen soil, dann gewinnen wir ge- 
rade in dieser Parzival-Gestalt ein Vorbild fur unsere spirituelle Be- 
wegung. Und damit im Zusammenhange konnen wir dann manches 
andere begreifen. 

Wenn wir noch einmal zuriicksehen auf die Zeit der Menschheits- 
entwickelung vor dem Mysterium von Golgatha, so miissen wir sagen : 
Damals hatte die Menschenseele ein altes Erbgut aus der Zeit, da sie 
aus den geistigen Hohen herunterstieg zu irdischen Inkarnationen. 



Dieses Erbgut bewahrte sie sich von Inkarnation zu Inkarnation wei- 
ter. Daher gab es in jenen Zeiten ein altes Hellsehen, das nach und 
nach abnutete, immer schwacher und schwacher wurde. Je weiter die 
Inkarnationen vorschritten, desto schwacher wurde das abnutende alte 
Hellsehen. Woran war das alte Hellsehen gebunden ? Es war gebunden 
an das, woran auch das auBere Wahrnehmen mit Augen und Ohren 
gebunden ist, an das, was eben der Mensch in der auBeren Welt ist. Bei 
den Menschen vor dem Mysterium von Golgatha war es so, daB sie wie 
Kinder heranwuchsen: sie lernten gehen, sprechen, und sie lernten 
selbstverstandlich, solange die elementaren Krafte im Sinne des alten 
Hellsehens noch da waren, auch hellsehen. Sie lernten es wie etwas, 
was sich ergab im Umgange mit der Menschheit, so wie es sich ergab 
im Umgange mit der Menschheit, daB man durch die Organisation des 
Kehlkopfes das Sprechen lernte. Man blieb aber nicht beim Sprechen- 
lernen stehen, sondern schritt vor zu dem elementaren Hellsehen. Die- 
ses elementare Hellsehen war gebunden an die gewohnliche mensch- 
liche Organisation so, wie die menschliche Organisation drinnen- 
stand in der physischen Welt; es muBte also notwendigerweise das 
Hellsehen auch den Charakter der menschlichen Organisation anneh- 
men. Ein Mensch, der ein Wiistling war, konnte nicht eine reine Natur 
in sein Hellsehen hineinschieben; ein reiner Mensch konnte seine reine 
Natur auch in sein Hellsehen hineinschieben. Das ist ganz naturlich, 
denn es war das Hellsehen an die unmittelbare menschliche Organisa- 
tion gebunden. 

Eine notwendige Folge davon war, daB ein gewisses Geheimnis - 
das Geheimnis des Zusammenhanges zwischen der geistigen Welt und 
der physischen Erdenwelt -, das vor dem Herabstieg des Christus 
Jesus bestand, nicht fur diese gewohnliche menschheitliche Organisation 
enthiillt werden durfte. Es muBte die menschheitliche Organisation erst 
umgestaltet, erst reif gemacht werden. Der Jiingling von Sais durfte 
nicht ohne weiteres, von auBen kommend, das Bild der Isis sehen. 

Mit dem vierten nachatlantischen Zeitraume, in welchen das Myste- 
rium von Golgatha hineinfiel, war das alte Hellsehen verschwunden. 
Eine neue Organisation der Menschenseele trat auf, eine Organisation 
der Menschenseele, die uberhaupt abgeschlossen bleiben muB von der 



geistigen Welt, wenn sie nicht fragt, wenn sie nicht den Trieb hat, der 
in der Frage liegt. Dieselben schadlichen Krafte, die in alten Zeiten an 
die Menschenseele herangetreten sind, konnen nicht an sie herantreten, 
wenn man gerade nach dem Geheimnis fragt, das das Geheimnis des 
Heiligen Grales ist. Denn in diesem Geheimnisse birgt sich das, was seit 
dem Mysterium von Golgatha in die Aura der Erde jet2t ausgeflossen 
ist. Was friiher nicht in sie ausgeflossen war, was jetzt als das Geheim- 
nis des Grales in die Erdenaura ausgeflossen ist, bliebe einem doch 
immer verschlossen, wenn man nicht fragt. Man muB fragen, was aber 
nichts anderes heiBt als: man muB den Trieb haben, dasjenige, was 
ohnedies in der Seele lebt, wirklich zu entfalten. 

Vor dem Mysterium von Golgatha war es nicht in der Seele, denn 
der Christus war nicht in der Erdenaura. Vor dem Mysterium von 
Golgatha wiirde jemand ohne weiteres, wenn er nur das Bild der Isis 
im rechten Sinne geschaut und ihr Geheimnis ergriindet hatte, durch 
das, was in ihm noch an alten hellseherischen Kraften vorhanden war, 
seine ganze Menschennatur da hineingelegt haben, und er wiirde es 
dann so erkannt haben. 

In der Zeit nach dem Mysterium von Golgatha wird eine Seele, die 
zum Fragen kommt, im rechten Sinne zum Fragen kommen, und sie 
wird auch im rechten Sinne das neue Isis-Mysterium empfinden kon- 
nen. Daher ist es so, daft es heute ankommt auf das richtige Fragen, 
das heiBt auf das richtige Sich-Stellen zu dem, was als spirituelle Welt- 
anschauung verkiindet werden kann. Kommt ein Mensch bloB aus der 
Stimmung des Urteilens, dann kann er alle Biicher und alle Zyklen und 
alles lesen - er erfahrt gar nichts, denn ihm fehlt die Parzival-Stim- 
mung. Kommt jemand mit der Fragestimmung, dann wird er noch 
etwas ganz anderes erfahren, als was bloB in den Worten liegt. Er wird 
die Worte fruchtbar mit den Quellkraften in seiner eigenen Seele er- 
leben. DaB uns das, was uns spirituell verkiindet ist, zu einem sol- 
chen inneren Erleben werde, das ist es, worauf es ankommt. 

Daran werden wir insbesondere erinnert, wenn solche Dinge an uns 
herantreten wie die bedeutsamen Ereignisse zwischen dem Gesprache 
des Jesus von Nazareth mit der Mutter und der Johannestaufe im 
Jordan. Denn diese Dinge werden uns auch nur etwas sein konnen, 



wenn wir nach ihnen fragen, wenn wir das lebendige Bediirfnis haben, 
zu erkennen, was gewirkt hat an jenem wichtigen Scheidepunkte, wo 
die Zeit vor dem Mysterium von Golgatha sich trennt von der Zeit 
nach dem Mysterium von Golgatha. Es ist am besten, gerade diese 
Dinge auf seine Seele wirken zu lassen. Es ist im Grunde genommen 
alles, was sie unserer Seele sagen sollen, schon in der Erzahlung ent- 
halten. Wir brauchen nicht viel in sie hineinzuinterpretieren. 

Gerade bei Gelegenheit dieses Abschnittes des Fiinften Evange- 
liums wollte ich diese allgemeine Bemerkung machen und darauf hin- 
weisen, wie es fur unsere Zeit in gewissem Sinne wiederum wichtig 
wird, Parzival-Stimmung zu verstehen. Man wird sie verstehen miis- 
sen. Sie ist ja aufgetaucht bei Richard Wagner, der sie musikalisch-dra- 
matisch zu verkorpern suchte. Nicht will ich mich einlassen in den 
groBen Streit, der in der auBeren Welt heute wegen des « Parsifal » 
entbrannt ist. Geisteswissenschaft ist nicht dazu da, um Partei zu er- 
greifen. Daher moge es ihr ferneliegen, sich hier einzumischen in den 
Streit zwischen denjenigen, die Wagners « Parsifal », zunachst das be- 
deutsamste Dokument fur die heutige Welt iiber die neue Parzival- 
Stimmung, in Bayreuth behalten mochten, Schutz fur ihn haben 
mochten, und denjenigen, die ihn iibergeben wollen dem Reiche 
Klingsors. Es tritt ja im Grunde genommen das letztere schon ein. 
Aber auf das andere mochte ich hinweisen: daB in dem Fortwirken 
des Christus-Impulses gleichsam da, wo noch nicht die Urteilskraft, wo 
noch nicht das OberbewuBtsein der Menschen hindringt, wohinein 
aber immer mehr und mehr dieses OberbewuBtsein durch die spiri- 
tuelle Weltanschauung deuten soil, daB da auch immer die Parzival- 
Stimmung sein muB, und noch manches andere, wovon wir dann im 
Verlaufe dieses Winters noch sprechen wollen. 



Berlin, 13.Januar 1914 
Fitnfter Vortrag 



Es scheint mir, als ob wir (lurch die Betrachtung desjenigen, was ich 
mir das «Fiinfte Evangelium» zu nennen gestattete, einiges hatten 
gewinnen konnen zur genaueren Schattierung desjenigen, was wir 
ofters ausgefiihrt haben iiber die Entwickelung der Menschheit iiber 
die Erde hin und den EinfluB des Mysteriums von Golgatha auf diese 
Menschheitsentwickelung. Haben wir ja doch fruher von den mannig- 
faltigsten Gesichtspunkten aus diese oder jene Idee zu gewinnen ver- 
sucht iiber das, was sich vor alien Dingen vollzogen hat mit der 
Johannestaufe im Jordan, haben wir doch fruher schon darauf hin- 
gewiesen, wie die Christus-Wesenheit sich verbunden hat mit jener 
Wesenheit, die wir bezeichnen als Jesus von Nazareth, und eben gerade 
dadurch versucht, die ganz einschneidende Bedeutung des Golgatha- 
Ereignisses fur die Menschheitsentwickelung darzulegen. 

Jetzt aber haben wir die Jugendgeschichte des Jesus von Nazareth 
betrachtet, so wie sie sich eben mit geisteswissenschaftlichen Mitteln 
feststellen lafit, um zu sehen, wie diejenige Wesenheit, die wir als Jesus 
von Nazareth bezeichnen, vor dem Taufer Johannes ankam, als die 
Christus-Wesenheit von ihr Besitz ergreifen sollte. Nun wollen wir 
einmal mit dem, was wir durch diese konkrete Betrachtung des Fiinf- 
ten Evangeliums gewonnen haben, ein weiteres Verstandnis gewin- 
nen fiir das, was mit dem Mysterium von Golgatha zusammenhangt. 
Versuchen wir heute vor alien Dingen einmal, unseren Seelenblick 
auf denjenigen hinzuwenden, den man gewdhnlich als den «Vorgan- 
ger» bezeichnet: auf den Taufer Johannes, und auf einiges, was mit 
der Mission des Taufers zusammenhangt. 

Wenn wir den Taufer Johannes und die Stellung des Christus Jesus 
zu dem Taufer Johannes, wie sie auch namentlich im Johannes-Evan- 
gelium angedeutet ist, wenn wir diese verstehen wollen, so ist es not- 
wendig, einen Blick zu werfen auf die geistige Welt, aus welcher der 



Taufer Johannes hervorgewachsen ist. Es ist ja ganz selbstverstand- 
lich, daB dieses die geistige Welt des althebraischen Altertumes ist. 
Nun wollen wir uns einmal vor die Seele rufen, was das Eigentum- 
liche dieser Welt des althebraischen Altertumes ist. 

Dieses althebraische Altertum hatte allerdings eine ganz besondere 
Mission im Laufe der Menschheitsentwickelung. Wir erinnern uns 
dabei, daB wir vom Standpunkte unserer Geisteswissenschaft aus die 
Erdenentwickelung aufzufassen haben als hervorgegangen aus der 
Saturn-, Sonnen- und Mondentwickelung, und daB wir es insbeson- 
dere der Erdentwickelung zuschreiben mxissen, daB sich zu dem, was 
aus den fruheren Entwickelungsstadien unserer Erde als physischer 
Leib, Atherleib und Astralleib hervorgegangen ist, wahrend des Ver- 
laufes der Erdentwickelung das menschliche Ich findet. Dieses Ich 
kann sich ja allerdings nicht auf einen Sprung finden, sondern es ist die 
ganze Erdentwickelung notwendig, um das Ich so auszugestalten, wie 
es sein muB, damit der Mensch sozusagen im Gange der Ewigkeit 
seine Entwickelung finden konne. 

Wenn wir dies vorauss chicken, miissen wir in der Tat die Erde 
gewissermaBen als den Schauplatz innerhalb des Kosmos betrachten, 
auf dem der Mensch sein Ich zu entwickeln hat. Das althebraische 
Altertum bezeichnete Jahve oder Jehova als diejenige Wesenheit der 
hoheren Hierarchien, unter deren EinfluB es sich gestellt hat. Wenn wir 
uns die biblische Schopfungsgeschichte vornehmen - ich versuchte in 
dem Zyklus iiber «Die Geheimnisse der biblischen Schopfungs- 
geschichte », Munchen 1910, die einschlagigen Verhaltnisse auseinan- 
derzusetzen -, so wird uns auch in ihr sehr deutlich dargestellt, wie 
aus einer Siebenheit von Wesenheiten der hoheren Hierarchien, aus 
der Siebenheit der Elohim, sich herausentwickelt der eine der Elohim, 
Jahve oder Jehova. Man mochte sagen, wie die Gesamtheit des mensch- 
lichen Organismus sich ausgestaltet nach dem Kopfe hin, so gliederte 
sich die Siebenzahl der Elohim in der Weise, daB diese Siebenzahl in 
einem von ihnen, in Jahve oder Jehova, eine besondere Ausgestaltung 
findet, so daB dieser gleichsam fur die Erdentwickelung zu ihrer 
Hauptwesenheit wird. Das sieht das althebraische Altertum, das an- 
erkennt es. Und es sieht daher in Jahve oder Jehova diejenige Wesen- 



heit aus der Reihe der hoheren Hierarchien, zu der man sich in beson- 
dere Beziehung setzen muB, um das Ich zur Entwickelung zu bringen. 
Es ist wahrhaftig die Entfaltung des althebraischen Altertums eine 
besondere Etappe in der Ich-Entwickelung der Menschheit, und man 
fuhlte innerhalb des althebraischen Altertumes den EinfluB von Jahve 
oder Jehova so, daB durch die Art, wie man sich zu ihm stellte, wie man 
ihn empfand und fuhlte, das Ich allmahhch zum Erwachen kommen 
konnte. 

Was ist denn eigentlich Jahve oder Jehova fur eine Wesenheit? Sie 
ist gerade diejenige Wesenheit, die man im innigen Zusammenhange 
vorzustellen hat mit der Erdentwickelung. Sie ist gewissermaBen der 
Herr, der Regent der Erdentwickelung, oder besser gesagt, die Gestalt, 
in welcher das althebraische Altertum den Herrn, den Regenten der 
Erdentwickelung sieht. Daher sehen wir, daB das ganze althebraische 
Altertum eigentlich darauf hin organisiert ist, Jahve oder Jehova als 
den Gott der Erde anzusehen, zu denken, daB die Erde durchwoben 
ist von einer solchen gottlich-geistigen Regierung, konnte man sagen, 
und daB der Mensch, der sich seines rechten Zusammenhanges mit 
dem Weltenall durch die Erde bewuBt werden will, vor alien Dingen 
sich zu halten habe an den Erdengott Jahve oder Jehova. Das ganze 
althebraische Altertum ist darauf hin angelegt. 

Gleich zu Beginn der Genesis wird uns dargestellt, daB Jahve den 
Menschen aus der Substanz der Erde macht. Adam heiBt : der aus Erde 
Gemachte, der Erdene. Und wahrend die um das althebraische Volk 
herum lebenden Religionssysteme - man kann das im einzelnen nach- 
weisen - iiberall darauf ausgehen, in demjenigen, was nicht eigentlich 
der Erde entstammt, sondern was von auBen in die Erde hereinkommt, 
die Elemente zu sehen, in denen sie ihre Gotter verehren, sieht das alt- 
hebraische Altertum in demjenigen, was durch die Erde auf der Erde 
vor sich geht, die Elemente, in denen der Gott Jahve oder Jehova ver- 
ehrt werden soli. Zum Sternenhimmel, nach den Gestirnen und ihrem 
Gange schauen einzelne der umliegenden Volker auf. Sie haben das, 
was man eine Astralreligion nennt, Und andere Volker wieder beob- 
achten Blitz und Donner und wie sich darin die Elemente auBern, und 
fragen sich dann : Wie kiindigen sich durch die Sprache von Blitz und 



Donner, von Wolkenbildungen und dergleichen die gottlich-geistigen 
Wesen an? 

Gleichsam in dem, was iiber der Erde in den Sternen oder in der 
Atmosphare ist, suchten die urn das althebraische Volk herum liegen- 
den Volker ihre religiosen Symbole, das, was ihnen ausdriicken sollte, 
wie sie mit einem Oberirdischen zusammenhangen. Man beachtet aber 
heute viel zu wenig, daB es dem althebraischen Altertum eigen ist, sich 
ganz und gar mit der Erde, mit dem, was vom Inneren der Erde 
kommt, als zusammenhangend zu betrachten. In alien Einzelheiten 
wird hingedeutet auf dieses Zusammenhangen der alten Juden mit 
dem, was der Erde entstammt. Gesagt wird, daB sie bei ihren Ziigen 
einer Wolke oder einer Feuersaule folgten. Sie «folgten einer Feuer- 
saule » in dem Sinne, wie durch die Krafte der Erde eine solche Feuer- 
saule bewirkt werden kann. 

Wenn man in gewissen Gegenden Italiens, wo der Boden vulka- 
nisch ist, nur ein Stuck Papier anzundet und damit an den Spalten im 
Boden entlangfahrt, so kommen gleich Rauchwolken aus der Erde 
heraus, weil die Krafte der Erde nachdrangen der warmgemachten 
Luft. So muB man sich die Feuersaule vorstellen bewirkt durch die 
Krafte des Erdinneren, der die Juden nachziehen. Und ebenso hat man 
sich die Wasser- und Nebelsaule nicht vorzustellen bewirkt durch 
atmospharische Krafte, sondern als von unten, von der Wuste aus be- 
wirkt. Mit den Vorgangen der Erde hangen zusammen die Zeichen 
fur Jahve oder Jehova im althebraischen Altertum, Und den Ursprung 
der «groBen Flut» selber muB man in dem suchen, was an Kraften der 
Erde in der Erde pulsiert, was nicht von auBen durch die kosmischen 
Verhaltnisse, sondern durch die tellurischen Verhaltnisse bewirkt ist. 

Das war der groBe Protest des althebraischen Volkes gegen die um- 
Uegenden Volker, daB es den Gott der Erde anerkennen wollte. Alles 
das aber, was von oben kommt, was von auBen zur Erde her kommt, 
das empfand man als dasjenige, was gewissermaBen nicht bis zur Auf- 
gabe der Erdenbildung vorgeriickt ist, sondern was zuriickgeblieben 
ist im Stadium der Mondenbildung. Man faBte es zusammen unter alle- 
dem, was die «Schlange» auf der Erde bewirkt hat, was bewirkt hat 
der in der Mondentwickelung zuriickgebliebene Luzifer. Man kann 



gleichsam diesen Protest des althebraischen Altertumes gegen die um- 
liegenden Religionssysteme charakterisieren, indem man sagt, diese 
anderen Religionssysteme hatten das Gefuhl : Wenn man sich zu dem 
Gottlichen erheben will, muB man von der Erde absehen, muB man in 
den Kosmos hinausgehen. Was im Kosmos bewirkt wird, oder was 
aus dem Kosmos in die Atmosphare der Erde hereinkommt, das ist 
das, was wir anbeten mussen. Das althebraische Altertum sagte aber : 
Nicht das beten wir an, was von oben kommt, nicht das beten wir an, 
was bewirkt wird durch die auBerirdischen Krafte, sondern der wahre 
Gott ist mit der Erde ! 

Das wird heute viel zu wenig beriicksichtigt, denn wenn man ein 
solches Wort wie «Gott» oder «Geist» ausspricht und dann in alte 
Zeiten zurucksieht, dann hat man immer so das Gefuhl: Ja, da muB 
dasselbe darunter verstanden worden sein. - Weil die Menschheit des 
Abendlandes heute unter dem Einflusse fast zweitausendjahriger 
christlicher Entwickelung wieder nach oben schaut, mit Recht nach 
oben schaut, so vermeint man, auch das althebraische Altertum habe 
nach oben geschaut. Im Gegenteil ! Das althebraische Altertum sagte : 
Die Mission, die Jahve mit der Erde vorhatte, ist gestort worden 
durch den Gott, der von auBen kam, und der in der Schlange des Para- 
dieses symbolisiert ist. 

Aber die Juden hatten ja vieles von den benachbarten Volkern an- 
genommen, und wir konnen es begreifen, daB gerade die Juden sehr 
viel von den benachbarten Volkern angenommen hatten. Hatten sie 
doch sozusagen die verfanglichste Religion im ganzen Altertum, was 
heute die Menschen fast gar nicht mehr glauben konnen: daB Jahve 
oder Jehova eine Erdengottheit ist - in dem Sinne, wie ich es eben 
jetzt auseinandergesetzt habe, wodurch naturlich nicht aus der Welt 
geschafft ist, daB Jahve, trotzdem er eine Erdengottheit ist, wie ich es 
in der «Geheimwissenschaft im UmriB» dargestellt habe, in den Mon- 
denkraften der Erde wirkt, also von einem anderen Gesichtspunkte aus 
eine Mondengottheit ist. Aber darauf kommt es in diesem Zusammen- 
hange nicht an. Die exponierteste Religion unter den damaligen Vol- 
kern hatten die alten Juden. Und wie die Menschen heute nicht glau- 
ben konnen, daB man sozusagen nicht nach oben, sondern nach dem 



Erdenmittelpunkt hinschauen kann, wenn man von dem Gotte redet, 
an den man sich zunachst als an einen hochsten wendet, so empfan- 
den dieses Streben nach oben audi die Juden; und sie empfanden die- 
ses Streben nach oben insbesondere, wenn sie bei alien umliegenden 
Volkerschaften sahen: die beten an, was auBerhalb der Erde seinen 
Ursprung hat. 

Es war aber gerade der groBe Unterschied der jiidischen Geheim- 
lehre gegeniiber den auBer dieser Geheimlehre Stehenden, daB sie den 
Menschen ganz klarmachte: Aus der Erde gehen die Krafte hervor, 
selbst bis zum Monde hinauf, an die wir uns zu halten haben, und es ist 
eine Versuchung, sich an andere Krafte zu halten; denn die anderen 
Krafte sind konzentriert in dem, was das Schlangensymbolum aus- 
driickt. Einen Teil also desjenigen, was uns gewissermaBen wiederum 
in unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung entgegentritt, 
fiihlte das althebraische Volk in seinen Lehren. 

Aus den eben angefiihrten Griinden aber kam dieses althebraische 
Volk, insbesondere als es gegen das Mysterium von Golgatha zuging, 
immer mehr von dieser Anschauung ab. Da kam dann einer, der in 
sich die Mission fiihlte, stark hinzuweisen auf das, was den Juden eigen 
sein sollte. Das war gerade der Taufer Johannes. Er fiihlte sich vor 
alien Dingen dazu berufen, stark auf das hinzuweisen, worin der Juden 
Starke lag und was wir jetzt eben charakterisiert haben. Als er so die 
Entwickelung der jiidischen Religion um sich herum wahrnahm, klei- 
dete er seine Empflndungen in Worte. In gewaltige, in bedeutsame 
Worte kleidete er seine Empflndungen. Er sagte etwa: Ihr nennt euch 
«Kinder Abrahams ». Waret ihr Kinder Abrahams, dann miiBtet ihr 
wissen, daB euer Gott, der der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs war, 
der Gott Jahve oder Jehova, verbunden ist mit dem Irdischen, was er 
dadurch ausgedriickt hat, daB er aus Erde den ersten Menschen ge- 
formt hat. Aber ihr seid nicht mehr in eurer Seele Kinder Abrahams. 
Ihr seid von dem Geschlechte derer, die nach oben schauen und nach 
den oberen Kraften. Ihr seid verfallen dem, was man mit dem richtigen 
Symbolum der «Schlange» bezeichnet. Ihr seid von dem Gezucht der 
Schlange ! 

Es hat eine tiefe Bedeutung in mannigfaltiger Beziehung - ich habe 



ja auch schon von anderem Gesichtspunkte aus von diesen Worten 
gesprochen -, dafi der Taufer Johannes gerade diese Worte ge- 
brauchte. So wie man sie gewohnlich in der Bibel ausgesprochen 
findet, was ist es denn da eigentlich? Wenn man sich doch ein bi!3- 
chen besser gestehen mochte, wie schlecht man heute Hest! Als was 
nehmen denn die Menschen meistens dieses Wort, welches da im 
Evangelium stent, das Wort «Ihr Otterngezuchte»? Sie nehmen es gar 
nicht anders, als ob Johannes wirklich so kraftig und grob die Men- 
schen urn sich «Ihr Otterngezucht» geschimpft hatte. Hoflich ware 
das nicht gewesen. Aber es hatte auch keinen besonderen Zweck, wenn 
man den Leuten in die Seele reden will, gleich damit anzufangen, 
sie mit einem Schimpfwort zu belegen. Und es gibt auch kein beson- 
deres Bild von Johannes, wenn man sagt: Das war eben sein gott- 
licher ZornI - Da mochte ich doch das triviale Wort gebrauchen: 
Schimpfen konnen andere auch! Auf das kommt es nicht an. Aber in 
diesem Worte, das viele eben nur als Schimpfwort empfinden, liegt 
eben die ganze Bedeutung dessen, worauf Johannes die um ihn Sei- 
enden aufmerksam machen wollte : Ihr wisset nicht mehr, worinnen die 
Mission des Jahve-Gottes besteht ; denn so, wie ihr nicht appelliert an die 
Krafte der Erde, sondern an die Krafte auBerhalb der Erde, seid ihr 
nicht Kinder Abrahams, denn ihr betet das an, was euch die Schlange 
gebracht hat. So seid ihr von dem Geschlechte derer, die um euch her- 
um ihre Gotter unter den verschiedensten Namen anbeten, die doch 
aber das meinen, was euch als die « Schlange » charakterisiert ist! 

Und dann versetzen wir uns in das Innerste des Gemutes dieses 
Taufers Johannes. Er hatte wohl vielleicht seinen Grund, so den 
Leuten gegeniiberzutreten. Ich sage das jetzt nicht aus dem Fiinften 
Evangelium heraus - denn in bezug auf das Fiinfte Evangelium ist 
es noch nicht bis zur Gestalt des Taufers Johannes gekommen aber 
ich sage es aus dem, was sich sonst ergeben konnte. Es hatte also der 
Taufer Johannes wohl seinen Grund, um zu denen, die zu ihm hin- 
kamen an den Jordan, so zu reden, als ob er an ihnen merken wiirde, 
daB sie gewisse Gebrauche von den Heiden angenommen hatten. Ja, 
es lag sogar in dem Namen, den ihm die gaben, die da kamen, etwas 
von dem, was er zunachst nicht hat horen wollen. 



In den Gegenden, in denen der Taufer Johannes seine Worte sprach, 
waren alte Lehren vorhanden, welche man etwa in der folgenden 
Weise charakterisieren kann: Ja, im Beginne der Menschheitsent- 
wickelung haben einmal aus dem Jahve-Ursprung heraus der Mensch 
und die hoheren Tiere den Luftatem bekommen; aber durch die Tat 
des Luzifer ist der Luftatem schlecht geworden. Nur diejenigen Tiere 
sind gut geblieben, sind sozusagen im Stadium der ursprunglichen 
Entwickelung geblieben, die nicht den Luftatem haben: die Fische. - 
Da mochten denn manche hingekommen sein nach dem Jordan - wie 
es in manchen Gegenden die Juden heute noch tun - und zu einer ge- 
wissen Zek des Jahres sich an das Gewasser hingestellt und ihre Klei- 
der geschiittelt haben, weil sie glaubten, dadurch ihre Siinden den 
unschuldigen Fischen hinzuwerfen, die sie dann weiter zu tragen 
hatten. Solche und andere Gebrauche, die mit dem umliegenden Hei- 
dentume zusammenhingen, sah der Taufer Johannes an denjenigen, 
von denen er eben sagte: Ihr habt von der Schlange mehr begrifFen 
als von Jahve. Ihr nennt euch deshalb mit Unrecht Kinder desjenigen, 
der bestimmt war zu eurem Vorfahren, Kinder des Abraham. Ich sage 
euch: Es konnte der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wiederum 
zu seiner ursprunglichen Mission zuriickgreifen und aus diesen Stei- 
nen, das heiCt aus der Erde, ein Menschengeschlecht hervorbringen, 
das ihn besser versteht! 

An dieser Stelle, wo uns die Bibel gerade diesen Ausdruck «Gott 
kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken» iiberliefert, 
sind in der damaligen Sprache so viele Worte, die durchaus doppel- 
sinnig sind, die Anspielungen enthalten. Und sie sind absichtlich so 
gebraucht, diese Worte, damit man eben darauf aufmerksam wird, daft 
ein tiefer Sinn in diesen Dingen liegt. Ganz wird man aber diese 
Sache nur verstehen, wenn man dasjenige, was ich nun eben ausge- 
fiihrt habe, zusammenhalt mit der Mission des Paulus. 

Ich habe schon ofter iiber diese Mission des Paulus gesprochen und 
will heute gerade denjenigen Gesichtspunkt vorbringen, der uns zum 
Verstandnisse dessen, was erreicht werden soli, wichtig sein kann. Wie 
kommt es denn, daB Paulus, der, wie wir schon ofter erwahnt haben, 
durch das, was er zu Jerusalem erfahren hat, sich nicht hat bewegen 



lassen, die Bedeutung des Mysteriums von Golgatha in seine Anschau- 
ung aufzunehmen, wie kommt es, daB er durch das Ereignis von Da- 
maskus voll iiberzeugt worden ist von dem, was er die Auferstehung 
des Christus nannte? Da miissen wir allerdings ein wenig hinein- 
schauen in die Art, wie Paulus vorbereitet war fur das, was ihm im 
Ereignis von Damaskus erschien. 

Paulus war durchgegangen durch die jiidische Prophetenschule 
seiner Zeit. Er hat genau gewuBt: bis zu einem bestimmten Punkte 
in der Menschheitsentwickelung hangt das Heil zunachst fur diese 
Menschheitsentwickelung davon ab, daB man festhalt an dem Gott 
der Erde, daB man versteht, wie Jahves Mission mit der Erde zu- 
sammenhangt. - Aber es muB einmal - das wuBte Paulus - eine Zeit 
kommen, in welcher wiederum das «Obere», das, was aus auBer- 
irdischen Verhaltnissen in die Erde hereinkommt, wichtig wird. Und 
wichtig ist es, einzusehen, daB der Christus, bevor er durch das Myste- 
rium von Golgatha seine Mission fur die Erde ubernommen hat, als 
Christus in kosmischen Regionen seine Mission hatte, daB er in uber- 
irdischen Regionen lebte. Das Genauere dariiber ist in dem Zyklus 
ausgefuhrt, den ich neulich in Leipzig gehalten habe. 

Wir konnen die auBerirdischen Verhaltnisse zuriickverfolgen und 
werden finden, wie der Christus zuerst in ubeiirdischen Reichen ge- 
wirkt hat, wie er dann sozusagen immer naher und naher zur Erde 
gekommen ist, bis er durch den Leib des Jesus von Nazareth in die 
Erdenaura eingezogen ist. DaB dieser Zeitpunkt einmal kommen 
werde, das wuBte Paulus, nur hat er vor dem Ereignis von Damaskus 
in der Erdenaura nicht gesehen: «Der Christus ist schon da!» Aber 
er war dazu vorbereitet, und er sagt uns das wohl, daB er dazu vor- 
bereitet war. Lesen Sie dazu im zweiten Korinther-Briefe das zwolfte 
Kapitel : 

1. Es ist mir ja das Riihmen nichts niitze; doch will ich kommen 
auf die Gesichte und Offenbarungen des Herrn. 

2. Ich kenne einen Menschen in Christo [Paulus meint sich selber 
damit] ; vor vierzehn Jahren (ist er in dem Leibe gewesen, so weiB 
ich's nicht; oder ist er auBer dem Leibe gewesen, so weiB ich's 



auch nicht; Gott weiB es) ward derselbe entzucket bis in den drit- 
ten Himmel. 

3. Und ich kenne denselben Menschen (ob er in dem Leibe oder 
auBer dem Leibe gewesen ist, weiB ich nicht; Gott weiB es); 

4. der ward entzucket in das Paradies und horte unaussprechliche 
Worte, welche kein Mensch sagen kann. 

5. Fur denselben will ich mich ruhmen; fur mich selbst aber will 
ich mich nichts ruhmen, nur meiner Schwachheit. 

Was sagt Paulus in diesen Satzen? Er sagt nichts Geringeres, als daB 
er imstande war, schon vor vierzehn Jahren - nach den chrono- 
logischen Verhaltnissen miiBte man also annehmen, daB dieses Erleb- 
nis etwa sechs Jahre nach dem Ereignis von Golgatha stattgefunden 
hat - hellseherisch sich zu erheben in die geistigen Regionen. Das 
heiBt, er versichert uns selber: In ihm lebt ein Mensch - und nur 
desjenigen will er sich ruhmen, nicht des leiblichen Menschen -, der 
wohl hinaufschauen kann in die geistigen Welten. - Und als er jenes 
Erlebnis hatte, da war ihm klar geworden: Was hast du denn friiher 
in den geistigen Welten gesehen, wenn du hinaufgeschaut hast? Duhast 
den Christus gesehen, wie er noch oben war in den himmlischen Ver- 
haltnissen! - Durch das Ereignis vonDamaskus ist es ihm klar gewor- 
den, daB der Christus in die Erdenaura eingezogen war und in ihr lebte. 

Das ist das Bedeutsame, weshalb auch manche Geister so in der Zeit 
um die Begriindung des Christentums ein heute ja sonderbar erklin- 
gendes Wort gesprochen haben. «Der wahre Luzifer ist Christus », 
sagten sie. Sie verstanden eben: Wenn man friiher in die ubersinn- 
lichen Verhaltnisse hinaufgeschaut hat, so muBte man sich, wenn man 
richtig die Menschheitsentwickelung versteht, an die «Schlange» hal- 
ten. Nachdem das Mysterium von Golgatha eingetreten war, ist aber 
der t)berwinder der Schlange herunter gekommen und ist jetzt der 
Erdenherr geworden. - Das alles hangt aber zusammen mit der ganzen 
Entwickelung der Menschheit. 

Welchen Sinn hat es denn, daB das althebraische Altertum sozu- 
sagen den Protest darstellt gegen die Astralreligionen der umliegen- 
den Volker, gegen die Religionen, welche die Symbole fur das Gott- 



liche in den Wolken, in Blitz und Donner sehen? Diesen Sinn hat es, 
daB sich die menschliche Seele vorbereiten muB, das Ich so zu emp- 
finden, daB es nicht mehr durch die Sternenschrift, nicht mehr durch 
das, was in Blitz und Donner erscheint, die Offenbarungen des Geistes 
empfangt, sondern daB es diese Offenbarungen im Geistigen empfangt, 
durch den Geist selber. Wenn der Mensch vorher wirklich zu dem 
Christus aufschauen wollte, so konnte er es ja nur tun im Sinne des 
Zarathustra, indem er aufschaute zu dem, was man nennen konnte die 
physische Hiille des Christus, des Ahura Mazdao. Zur physischen 
Sonne und ihren Wirkungen konnte der Mensch aufschauen und wis- 
sen: Da drinnen lebt der Christus. - Aber gleichsam herausgeschalt 
aus den physischen Sonnenwirkungen und als geistige Sonne die 
Erdenaura durchdringend ist der Christus mit dem Mysterium von 
Golgatha geworden, Ja, so ist der Christus geworden, die Erdenaura 
durchdringend, nachdem gewissermaBen die Jahve- oder Jehova-An- 
beter ihn vorbereitet haben. Und der Taufer Johannes ist in seinen 
bedeutsamsten Worten zu verstehen, wenn wir ihn eben so verstehen. 

Und nun bereitete sich das Mysterium von Golgatha vor. Indem es 
sich vorbereitete - ich will die Dinge jetzt mehr abstrakt darstellen, 
wir werden spater einmal auf Konkreteres eingehen konnen -, stehen 
sich gewissermaBen gegeniiber der Christus Jesus und der Taufer Jo- 
hannes. Wenn wir uns vor die Seele stellen, was wir eben iiber den 
Taufer Johannes gesagt haben, so wird uns das zeigen, in welchem 
Sinne der Christus Jesus sozusagen dem Taufer Johannes gegeniiber- 
stand: demjenigen stand er in dem Taufer Johannes gegeniiber, der 
gewissermaBen am besten verstand, was es heiBt, den Geist der Erde 
zu verehren. 

Woher kamen denn die Fahigkeiten, namentlich innerhalb des 
Judentumes und auch innerhalb anderer Kreise - denn es gab auch 
andere Menschen, die mehr oder weniger, aber dann immer durch 
Mysterien angeregt waren -, die den Geist der Erde im richtigen 
Sinne verehrten? Woher kamen denn diese Fahigkeiten? Diese Fahig- 
keiten waren vor dem Mysterium von Golgatha an das gebunden, 
was wir nennen konnen die physische Vererbung im Menschen, an 
jene physische Vererbung, die ja auch Erdengesetz ist. Es ist fur die 



heutige Naturwissenschaft noch eine vollstandige Torheit, das zu 
sagen, was ich nun werde zu sagen haben; aber es konnte das auch 
eine Torheit sein, die «Torheit vor den Menschen und Weisheit vor 
Gott» ist. Vor dem Mysterium von Golgatha war im wesentlichen 
das, was man Erkenntnisfahigkeiten nennt, in einer gewissen Bezie- 
hung abhangig von den Vererbungsverhaltnissen, und darin bestand 
gerade der Fortgang und Fortschritt der menschlichen Entwickelung, 
daB die Erkenntnis durch Vorstellen unabhangig wurde von alien 
natiirlichen Vererbungsverhaltnissen. 

Daher hat man in den alten Mysterien oftmals ganz recht getan, daB 
man das Mysterienamt vom Vater auf den Sohn und so weiter vererbt 
hat. Das ist das Bedeutsame, daB in der Zeit des Mysteriums von 
Golgatha fur die Erdenmenschheit das Erkennen aufhorte abhangig 
zu sein von rein physischen Verhaltnissen. Es wurde das Erkennen 
durch den Fortschritt der Menschheit eine rein seelische Angelegen- 
heit. Eine rein seelische Angelegenheit wird das Innerste der mensch- 
lichen Seele, nicht mehr abhangig von auBeren Vererbungsverhalt- 
nissen. 

Wodurch wurde nun moglich gemacht, daB der Mensch also ge- 
wissermaBen sein Inneres ungeschadigt dennoch fortbehielt? Fassen 
Sie nur die ganze Bedeutung dessen auf, daB das innerste Verhaltnis 
der menschlichen Seele, das Erkenntnisverhaltnis, eine rein seelische 
Angelegenheit wurde, daB der Mensch sozusagen nichts mehr ererben 
konnte von seinen Vorfahren in bezug auf seine Fahigkeiten. GewiB 
mochten heute noch viele Menschen ihre Erkenntnisfahigkeit von 
ihren Vorfahren ererben, aber es geht nicht. Das merkt man schon. 
Goethes Fahigkeiten haben sich nicht gerade auf seine Nachkommen 
vererbt, und bei anderen kann man es auch nicht sehen. 

Aber was hatte denn mit diesen Fahigkeiten geschehen sollen, 
wenn sie von nichts anderem her gleichsam geistig unterhalten wor- 
den waren, wenn sie nicht einen geistigen Impuls erhalten hatten? 
Verwaist waren die innerlich gewordenen Fahigkeiten des Menschen 
gewesen. Der Mensch ware so auf die Erde gestellt gewesen, daB er 
hatte warten miissen, was ihm gerade nach dem, wie sein Karma be- 
schafFen gewesen ware, die Erde aus der Umgebung gegeben hatte, 



was da hereingeleuchtet hatte in seine Sinne. Er hatte das aber nicht 
besonders schatzen konnen, sondern hatte froh sein miissen, wenn er 
bald wieder von der Erde fortgekommen ware, da er sich ja keine be- 
sonders wertvollen Fahigkeiten auf der Erde hatte erobern konnen. Das 
hatte Buddha sehr wohl den Menschen bemerkbar gemacht; daher 
seine von alien irdischen Sinneswahrnehmungen ablenkende Lehre. 

Der Christus wurde nun in dem Jesus von Nazareth als das fiihl- 
bar, wovon sich der Christus Jesus bei der Johannestaufe im Jordan 
sagen konnte : Da kam aus der iiberirdischen Welt etwas in mich her- 
unter, das befruchtend in das Tch eingreifen kann. - In der mensch- 
lichen Seele werden kiinftig Inhalte leben, die von auBerirdischen 
Regionen kommen, die nicht bloB vererbt sind. Alles, was man vor- 
her hat wissen konnen: es ist bloB vererbt, es ist mit den physischen 
Verhaltnissen von Generation zu Generation iibergegangen. Und der 
Letzte, der es noch dazu gebracht hatte, hohere Fahigkeiten zu er- 
werben auf Grundlage dessen, was man vererben kann, das ist Johan- 
nes der Taufer. «Einer der groBten von denjenigen, die vom Weibe 
geboren sind», so sagte der Christus Jesus von ihm. Da deutete er 
darauf hin, wie sich die alte Zeit von der neuen scheidet, wie die alte 
Zeit mit Recht sagen kann: Wenn ich das suche, was in meiner Seele 
leben soil als das, was mich zu den Hohen der Menschheit fiihrt, so 
erinnere ich mich an Abraham, Isaak und Jakob; denn von denen 
gingen herunter in der Vererbungslinie bis zu mir die Fahigkeiten, 
die der Menschheit Hohen erreichen. - Jetzt aber miissen diese Fahig- 
keiten von auBerirdischen Regionen kommen. Nicht mehr auf die Erde 
bloB schauen und den Gott der Erde finden in dem Christus, sondern 
des himmlischen Hereinkommens des Christus in der Seele sich bewuBt 
sein - das ist es, worauf der Christus Jesus in dem Momente hin- 
deutete, als er von Johannes dem Taufer sprach als einem der groB- 
ten derjenigen, die «vom Weibe geboren sind», das heiBt, die in sich 
diejenigen Fahigkeiten tragen, die man unmittelbar durch die phy- 
sische Vererbung erlangen kann. 

Das aber beantwortet uns eine Frage, die fur unsere Zeit recht wich- 
tig werden kann. Man begann wiederum in der Zeit, in der gewisser- 
maBen der dritte nachatlantische Zeitraum in unserem funften Kultur- 



zeitraum zum Vorschein kam - in der Weise, wie ich das ofter aus- 
einandergesetzt habe -, wieder hinzuschauen auf das, was dem Erden- 
menschen als AuBerirdisches erscheinen kann. Aber nicht so, wie die 
alten Agypter oder Chaldaer ihre Astralreligion empfanden, konnte 
man jetzt die wiedererstandene Astralreligion empfinden, sondern so 
muBte man sie empfinden, wie sie einer empfunden hat, der wahr- 
haftig ein Recht gehabt hat, iiber diese Dinge mitzusprechen. 

Im Jahre 1607 sind die Worte gesprochen, die ich auch hier wieder- 
um mitteilen will, wo einer gesagt hat: «In der ganzen Schopfung 
findet sich eine herrliche wundervolle Harmonie, und zwar sowohl 
im Sinnlichen als im Obersinnlichen, in Ideen sowohl als in Sachen, 
im Reiche der Natur und der Gnade. Diese Harmonie findet sowohl 
in den Dingen selbst als auch in ihren Verhaltnissen zueinander statt. 
Die hochste Harmonie ist Gott, und er hat alien Seelen eine innere 
Harmonie als sein Bild eingedriickt. Die Zahlen, die Figuren, die 
Gestirne, die Natur liberhaupt harmonieren mit gewissen Geheim- 
nissen der christlichen Religion. Wie es zum Exempel in dem Welt- 
all drei ruhende Dinge : Sonne, Fixsterne und das Intermedium gibt, 
und alles iibrige beweglich ist, so ist in dem einigen Gotte: Vater, 
Sohn und Geist. Die Kugel stellt gleichfalls die Dreieinigkeit dar - der 
Vater ist das Zentrum, der Sohn die Oberflache, der Geist die Gleich- 
heit der Distanz des Zentrums von der Oberflache, der Radius - so- 
wie noch andere Geheimnisse. Ohne Geister und Seelen wiirde iiber- 
all keine Harmonie sein. In den menschlichen Seelen finden sich 
harmonische Pradispositionen von unendlich mannigfaltiger Art. Die 
ganze Erde ist beseelt, und dadurch wird die groBe Harmonie sowohl 
auf der Erde als auch zwischen ihr und den Gestirnen hervorgebracht. 
Diese Seele wirkt durch den ganzen Erdkorper, hat aber in einem 
gewissen Teile derselben, so wie die menschliche Seele in dem Her- 
zen, ihren Sitz; und von da gehen, wie von einem Fokus oder einer 
Quelle, ihre Wirkungen in den Ozean und die Atmosphare der Erde 
aus. Daher die Sympathie zwischen der Erde und den Gestirnen, 
daher die regelmaBigen Naturwirkungen. DaB die Erde wirklich eine 
Seele habe, zeigt die Beobachtung der Witterung und der Aspekte, 
durch welche sie jedesmal hervorgebracht wird, am deutlichsten. 



Unter gewissen Aspekten und Konstellationen wird die Luft immer 
unruhig; gibt es derselben keine oder wenige oder schnell voriiber- 
gehende, so bleibt sie ruhig.» 

«Kepler verbreitet sich iiber diese und ahnliche Gedanken auch in 
seinem Buche <Harmonices Mundi>. Fur vieles nur diese originelle 
Stelle: <Die Erdkugel wird so ein Korper sein, wie der eines Tieres, 
und was dem Tiere seine Seele ist, das wird der Erde die 'Natura 
sublunaris' sein, die bei Gegenwart der Aspekten Witterungen erregt. 
Das wird nicht dadurch widerlegt, daB die Erregungen der Witterun- 
gen nicht allemal genau mit den Aspekten zusammentrifTt; die Erde 
scheint manchmal trage, manchmal wie aufgeregt zu sein, so daB sie 
die Ausdunstungen auch ohne Gegenwart der Aspekten fortsetzt. Sie 
ist eben nicht ein so folgsames Tier wie der Hund, sondern etwa wie 
ein Rind oder Elefant: Langsam zum Zorn geneigt, aber desto hef- 
tiger, wenn es einmal gereizt wird.> [Libri IV, Cap. VII.] » 

« Diese und unzahlige andere Veranderungen und Phanomene, die 
in und auf der Erde vorgehen, sind so regelmaBig und abgemessen, 
daB man sie keiner blinden Ursache zuschreiben kann, und da die 
Planeten selbst nichts von den Winkeln wissen, welche ihre Strahlen 
auf der Erde bilden, so muB die Erde eine Seele haben.» 

In seiner Art sagt er dann: «Die Erde ist ein Tier. Man wird an 
ihr alles wahrnehmen, was den Teilen des tierischen Korpers analog 
ist. Pflanzen und Baume sind ihr Haar, Metalle ihre Adern, das Meer- 
wasser ihr Getranke. Die Erde hat eine bildende Kraft, eine Art Ima- 
gination, Bewegung, gewisse Krankheiten, und die Ebbe und Flut 
sind das Atemholen der Tiere. Die Seele der Erde scheint eine 
Art von Flamme 2u sein, daher die unterirdische Warme und daher 
keine Fortpflanzung ohne Warme. Ein gewisses Bild des Tierkrei- 
ses und des ganzen Firmaments ist von Gott in die Seele der Erde 
gedruckt.» 

«Dies ist das Band des Himmlischen und des Irdischen, die Ur- 
sache der Sympathie zwischen Himmel und Erde: die Urbilder aller 
ihrer Bewegungen und Verrichtungen sind ihr von Gott, dem Schop- 
fer eingepflanzt.» 

«Die Seele ist im Mittelpunkt der Erde, sendet Gestalten oder Ab- 



driicke von sich nach alien Richtungen aus und empfindet auf diese 
Art alle harmonischen Veranderungen und Gegenstande auBer ihr. - 
Wie es mit der Seele der Erde ist, ist es auch mit der Seele des 
Menschen. Alle mathematischen Ideen und Beweise zum Beispiel 
erzeugt die Seele aus sich selbst, sonst konnte sie nicht diesen hohen 
Grad von GewiBheit und Bestimmtheit haben.» 

«Die Planeten und ihre Aspekten haben EinfluB auf die Seelen- 
krafte des Menschen. Sie erregen Gemiitsbewegungen und Leiden- 
schaften aller Art und dadurch oft die schrecklichsten Handlungen 
und Begebenheiten. Sie haben EinfluB auf die Konzeption der Geburt 
und dadurch auf das Temperament und den Charakter des Menschen, 
und darauf beruht ein groBer Teil der Astrologie. - Wahrscheinlich 
verbreitet sich von der Sonne nicht nur Licht und Warme in das ganze 
Weltall, sondern sie ist auch der Mittelpunkt und Sitz des reinen Ver- 
standes und die Quelle der Harmonie im ganzen Weltall - und alle 
Planeten sind beseelt.» 

So arbeitete sich in diesem Geist, der uns im 17. Jahrhundert ent- 
gegentritt - diese Worte stammen, wie gesagt, aus dem Jahre 1607 -, 
heraus der Aufblick nach oben. Aber man sieht es diesen Worten 
schon an: es ist durchchristet der Aufblick nach oben. Es war aller- 
dings ein tiefer Geist, der diese Worte gesprochen hat, die ich eben 
vorgelesen habe, in dem tief, tief gewirkt hat der Zusammenhang der 
Menschenseele mit dem, was gottlich die Welt durchwellt und durch- 
webt. So sind auch von demselben Geiste, von dem wir eben gehort 
haben, wie er von der « Seele der Erde» gesprochen hat, folgende 
schonen Worte: 

Gottes-Hymne 

Schopfer der Welt, du ewige Macht! Durch alle die Raume 
Schallet dein Ruhm; er schallt Himmel und Erde hindurch. 
Selbst das unmiindige Kind lallt nach die Stimm', es verkiindet, 
DaB der Last'rer verstumm', laut dein unendliches Lob. 
GroBer Kiinstler der Welt, ich schaue wundernd die Werke 
Deiner Hande, nach den kiinstlichen Formen gebaut, 
Und in die Mitte die Sonne, Ausspenderin Lichtes und Lebens, 
Die nach heil'gem Gesetz ziigelt die Erde und lenkt 



In verschiedenem Lauf. Ich sehe die Miihen des Mondes 
Und dort Sterne zerstreut auf unermessener Flur — 
Herrscher der "Welt! Du ewige Macht! Durch alle die Welten 
Schwingt sich auf Fliigeln des Lichts dein unermessener Glanz. 

Und noch mehr schauen wir in seine Seele hinein, wenn er spricht: 

Wenn jetzt der Dinge Bilder im Spiegel du 
Erblicken magst, doch einstens erkennen sollst 
Das Wesen selbst, was, Auge, saumst du 
Edleres Sein fur den Schein zu tauschen? 

Des Wissens Stiickwerk, wenn es so lieblich dich 
Begliickt, wie selig wirst du das Ganze schaun! 
Gib, Seele, kuhnlich preis das Niedre, 
Schnell zu gewinnen das Ewiggrofie. 

Wenn hier das Leben tagliches Sterben ist, 
Ja, wenn der Tod die Quelle des Lebens ist, 
O Menschenkind, was saumst du sterbend 
Wiedergeboren das Licht zu griiBen? 

Diese Worte und auch die Worte von der Erdenseele, wer hat sie im 
Beginne des 17. Jahrhunderts gesprochen? Derjenige hat sie gespro- 
chen, der die ganze neuere Astronomie begriindet hat, Johann Kep- 
ler, ohne den es die neuere Astronomie nicht geben konnte. Welcher 
Monist wird nicht Johann Kepler loben ? Es mdgen nur die Bekenner 
des Monismus auch auf diese sdeben mitgeteilten Worte des Johann 
Kepler aufmerksam gemacht werden, sonst bleibt alles Reden iiber 
Johann Kepler dasjenige, was ich nicht mit einem Worte bezeichnen 
mochte. 

Da klingt schon herauf, was neuerdings das Aufschauen zu den 
Sternen wiederum werden soli: es ist das neuere Lesen der Sternen- 
schrift, wie wir es in unserer geisteswissenschaftlichen Weltanschau- 
ung versuchen. Und die Frage beantwortet sich uns, mit welcher wir 
die heutige Betrachtung begonnen haben: Wie kommen wir dem 
Christus-Impuls naher? Wie verstehen wir den Christus? Wie kommen 



wir zu ihm in das richtige Verhaltnis, so daB wir sagen konnen: Wir 
nehmen wirkiich den Christus-Impuls auf ? - Indem wir lernen, mit 
derselben Inbrunst und Gemiitstiefe, wie im althebraischen Altertum 
gesagt worden ist: Ich schaue hinauf zu Abraham, meinem Vater - 
das heiBt zu der physischen Vererbungslinie -, zu dem Urvater Abra- 
ham, wenn ich von dem Grunde dessen sprechen will, was ich als 
Wertvollstes in der Seele trage wenn wir mit derselben Gemiitstiefe 
und Seelenstimmung heute zu dem schauen, was aus den geistigen Ho- 
hen kommt und was uns geistig befruchtet, zu dem Christus, wenn 
wir jede unserer Fahigkeiten, alles was wir vermogen, so daB es uns 
zu Menschen macht, keiner irdischen Macht, sondern dem Christus zu- 
schreiben, dann gewinnen wir das lebendige Verhaltnis zu dem Chri- 
stus. «Erfreust du dich irgendeiner Fahigkeit, und sei es die alltag- 
lichste, die dich zum Menschen macht, woher hast du sie?» Vom 
Christus ! 

So wie der alte Jude sagte, wenn er starb, er kehre zuriick in Abra- 
hams SchoB - was wiederum eine tiefe Bedeutung hatte so lernen 
wir den Sinn unserer Zeit begreifen, der Zeit, die nach dem Mysterium 
von Golgatha Hegt, indem wir dem alten Worte «Aus dem Gotte sind 
wir geboren» hinzufiigen das Wort, das fur uns entspricht dem alten 
«Zuriickkehren in Abrahams SchoB » : «In dem Christus sterben wir.» 

Wir konnen, wenn wir das Mysterium von Golgatha verstehen ler- 
nen, jenes lebendige Verhaltnis gewinnen zu dem Christus, das wir 
brauchen, wie im althebraischen Altertume das lebendige Verhaltnis 
zu dem Gotte vorhanden war, der der Gott Abrahams, Isaaks und 
Jakobs war, und das sich dadurch ausdriickte, daB jeder bekannte: er 
kehre zuriick zu dem Urvater Abraham mit dem Tode. Und fur die 
Menschen, die nach dem Mysterium von Golgatha leben, muB das 
sich dadurch ausdriicken, daB sie sich bewuBt sind: In dem Christus 
sterben wir! 



Berlin, 10. Februar 1914 
Secbster Vortrag 



Aus den Mitteilungen, die ich aus dem Fiinften Evangelium machen 
konnte, ist in erneuter Weise zu sehen, welche Veranstaltungen 
gewissermaBen im ganzen Weltenall notwendig waren, damit das 
eintreten konnte, was wir als das Mysterium von Golgatha kennen. 
Und dieses Mysterium von Golgatha ist selbst fur die geisteswissen- 
schaftliche Betrachtung wie eine Art vorlaufiger AbschluB anderer 
Vorgange, an die es sich in der Reihenfolge der Weltentatsachen 
anschlieBt. 

Wir haben davon gesprochen, daB zwei Jesusknaben das Mysterium 
von Golgatha vorzubereiten hatten. Wir haben gesehen, wie der eine 
der beiden Jesusknaben, der sogenannte salomonische Jesus, in sich 
hatte das Ich des Zarathustra. Wir haben gesehen, wie dieses Ich des 
Zarathustra, nachdem die beiden Jesusknaben, die ja ungefahr gleich- 
altrig waren, das zwolfte Jahr erreicht hatten, hiniibergezogen ist in 
den Leib des anderen Jesusknaben, desjenigen aus der nathanischen 
Linie des Hauses David. Wir haben dann aus dem Fiinften Evange- 
lium ausfuhrlicher auseinandersetzen kdnnen, welche Schicksale jener 
Jesus von Nazareth durchgemacht hat, der also die drei Leibeshiillen 
trug, welche mit dem nathanischen Jesusknaben geboren worden sind, 
und der das Ich des Zarathustra bis in sein dreiBigstes Jahr hinein in 
sich trug, bis zu dem Ihnen erzahlten Gesprach mit der Mutter, wo 
durch die Gewalt der Rede, die er damals gefiihrt hat, und in deren 
Worte er sein Ich selber hat einnieBen lassen, gewissermaBen das Ich 
des Zarathustra die Leibeshiillen dieses Jesus von Nazareth verlassen 
hat. Und wir wissen, wie dann durch die Johannestaufe im Jordan 
das Christus-Wesen eingezogen ist in die dreifache Leibeshulle des 
Jesus von Nazareth. 

Wir bekommen, wenn wir sie jetzt so zu fassen in der Lage sind, 
wahrhaftig keinen geringeren, sondern einen ungeheuer viel groBeren 
Eindruck von der Bedeutung der Christus Jesus-Wesenheit, als die- 



jenigen bekommen, die sie nur zu fassen in der Lage sind nach den 
bisherigen Kenntnissen und nach den Mitteilungen der Evangelien, 
so wie diese genommen werden konnen. 

Dieses ganze Ereignis aber, das wir dann mit der Kreuzigung und 
Auferstehung zusammen das Mysterium von Golgatha nennen, 
schlieBt sich an drei andere an. Es ist gewissermaBen die vorlaufig 
letzte VoUcndung der drei anderen. Eines von diesen anderen Ereig- 
nissen fand schon statt in der alten lemurischen Zeit, von den beiden 
anderen das eine mehr im Beginne, das andere mehr gegen das Ende 
der atlantischen Zeit. Nur sind diese drei ersten Ereignisse solche, 
die sich nicht auf dem physischen Plan abgespielt haben, sondern in 
den geistigen Welten. Wir haben gewissermaBen seelisch hinzuschauen 
auf vier Ereignisse, von denen das letzte - dasjenige, mit dem wir uns 
bis jetzt vorzugsweise beschaftigt haben, und das wir das Mysterium 
von Golgatha nennen - sich auf dem physischen Plan abgespielt hat, 
wahrend die drei anderen wie vorbereitende Ereignisse in den 
geistigen Welten waren. 

Von demjenigen Wesen, welches wir als nathanischen Jesus anspre- 
chen, habe ich Ihnen gesagt, daB es seine ganz besondere Natur da- 
durch zeigte, daB es gleich nach seiner Geburt bereits einige Worte 
zu sprechen vermochte, Worte, die allerdings in einer so sonderbaren 
Sprache gesprochen waren, daB diese Sprache damals nicht verstanden 
werden konnte, und daB nur die Mutter, aus ihrer Empfindung heraus, 
eine Ahnung davon hatte, was diese Worte zu bedeuten hatten. Von 
diesem nathanischen Jesusknaben mussen wir uns auch klar sein, daB 
er nicht eine Menschenwesenheit ist wie andere Menschenwesenheiten, 
daB er nicht - wie etwa der salomonische Jesusknabe, der das Ich des 
Zarathustra in sich hatte, und wie andere Menschen - viele Erden- 
leben hinter sich hatte, in derselben Weise solche viele Erden- 
leben hinter sich hatte, sondern daB er sein vorhergehendes Dasein 
durchaus in den geistigen Welten durchgemacht hat. Ich habe das 
schon bei friiheren Gelegenheiten dadurch angedeutet, daB ich sagte : 
Von dem, was als Menschenseelen in die menschlichen Inkarnationen 
seit der lemurischen Zeit ubergegangen ist, wurde gleichsam etwas 
zuruckbehalten in den geistigen Welten, das nicht zur menschlichen 



Verkorperung gefuhrt worden ist, sondern das dann erst zu einer 
menschlichen Verkorperung gefuhrt wurde, als es eben geboren wurde 
als nathanischer Jesusknabe. Das, was damals zuriickgeblieben ist, was 
man also nicht in dem gewohnlichen Sinne des Wortes ein Menschen- 
Ich nennen kann - denn ein Menschen-Ich ist das, was von Inkar- 
nation zu Inkarnation auf der Erde geht -, das machte seine Schick- 
sale in den geistigen Welten durch. Und nur die Angehorigen der alten 
Mysterien, die imstande waren, die Vorgange in den geistigen Welten 
zu beobachten, konnten wissen, daB dieses Wesen, das einmal er- 
scheinen werde als der nathanische Jesusknabe, das durchseelt werden 
sollte von der Christus-Wesenheit, vorher gewisse Schicksale in den 
geistigen Welten durchzumachen hatte. Um diese Schicksale kennen- 
zulernen, miissen wir uns folgendes vor Augen fiihren. 

Die meisten von Ihnen werden sich noch jener Vortrage erinnern, 
die hier einmal vor einigen Jahren gehalten worden sind iiber Anthro- 
posophie, und in denen ich zunachst von den Sinnen des Menschen 
gesprochen habe. Ich habe damals ausdrucklich angegeben, daB die 
gewohnlich aufgezahlten fiinf Sinne des Menschen nur ein Teil der 
gesamten Sinne sind, und daB der Mensch im Grunde genommen 
zwolf Sinne hat. Es soli jetzt darauf hier nicht naher eingegangen 
werden. Darauf aber sollte hingedeutet werden, daB das, was mensch- 
liche Sinne sind, was also in unseren physischen Leib als Sinne ein- 
gebettet ist, eigentlich zu einem Schicksal verurteilt gewesen ware, das 
fur die Menschen unheilsam geworden ware, wenn nicht das erste 
Christus-Ereignis in den geistigen Welten in der alten lemurischen 
Zeit stattgefunden hatte, gleichsam der erste Vorlaufer des Myste- 
riums von Golgatha. Der Mensch wurde ja in der lemurischen Zeit so 
verkorpert, daB er im wesentlichen die Anlage zu seinen Sinnen hatte. 
Aber wir wissen auch, daB in der lemurischen Zeit stattgefunden hat 
der EinfluB der luziferischen Machte auf die menschliche Evolution. 
Dieser EinfluB der luziferischen Machte hat sich auf alles in der 
menschlichen Organisation erstreckt. Hatte nun wirklich nichts an- 
deres stattgefunden als das, wodurch der Mensch in der lemurischen 
Zeit zu seiner Erdeninkarnation gefuhrt worden ist, und dann der 
luziferische EinfluB, so wurden unsere Sinne ganz anders geworden 



sein, als sie nun geworden sind. Diese Sinne wiirden, man konnte 
sagen, uberempfindlich geworden sein, ubersensitiv. Sie wiirden so 
geworden sein, daB wir nicht gleichsam mit unseren Sinnen temperiert 
durch die Welt gehen, sondern es wiirde zum Beispiel eine rote Farbe 
auf das menschliche Auge den Eindruck gemacht haben, daB das Auge 
durch den Eindruck der roten Farbe gleichsam einen ganz bestimmten 
Schmerz empfunden hatte. Durch andere Eindnicke wiirden in an- 
derer Weise die Sinne leidvoll beriihrt worden sein. Wie ausgesogen 
wiirde sich das Auge zum Beispiel gefuhlt haben von der blauen Farbe. 
Und so mit alien anderen Sinnen. Man hatte miissen so durch die Welt 
gehen, daB die Sinne fortwahrend in leidvoller Weise, oder auch wohl 
in ubermaBiger und daher auch unheilsamer Lust, affiziert worden 
waren. Die Sinne waren starker, als es ihnen heilsam ist, von alien 
auBeren EinfTiissen beeindruckt worden. Das ware durch den luzife- 
rischen EinfluB gekommen. 

Das ist abgewendet worden von der Menschheit, jetzt nicht durch 
ein Ereignis, das im physischen Erdenbereich stattgefunden hat, son- 
dern durch den Vorgang, der gewissermaBen der erste vorbereitende 
Vorgang fur das Mysterium von Golgatha ist. In der lemurischen Zeit 
noch vereinigte sich dieselbe Christus-Wesenheit, die spater durch 
die Johannestaufe im Jordan sich mit dem Leibe des Jesus von Naza- 
reth vereinigt hat, mit einem Wesen, das damals noch in den geistigen 
Welten war: mit dem Wesen, das spater geboren worden ist als der 
nathanische Jesusknabe, der aber damals noch in den geistigen Welten 
war. Wenn man von dem Palastina-Ereignis sagen kann, das Christus- 
Wesen verkorperte sich in dem Jesus von Nazareth, so rniiBte man 
gegeniiber diesem ersten Christus-Ereignis sagen, es verseelte sich in 
der lemurischen Zeit in der geistigen Welt in einem Wesen, das spater 
herunterstieg auf die Erde als nathanischer Jesus. So lebte denn in den 
geistigen Welten eine geistig-seelische Wesenheit, welche durch diese 
Tat des Sich-Verbindens, also der Christus-Wesenheit mit der Seele des 
spateren Jesus von Nazareth, und durch alles, was aus dieser Tat 
folgte, den menschlichen Sinnen das Unheil nahm, also von den gei- 
stigen Welten die Menschheit gleichsam so uberstrahlte, damit nicht 
den Sinnen das Unheil geworden ware, in so leidvoller oder in so 



iibersensitiver Weise iiber die Erde gehen zu miissen. Zum Heil der 
Sinne geschah das erste vorbereitende Ereignis des Mysteriums von 
Golgatha. DaB wir in unserer jetzigen Art mit unseren Sinnen durch 
die Welt gehen konnen, ist eine Folge dieses ersten Christus-Ereig- 
nisses. 

Im Anfange der atlantischen Zeit fand ein zweites Ereignis statt. 
Es bestand wieder darin, daB das Wesen, das spater zum nathanischen 
Jesus geworden ist, durchseelt wurde von der Christus-Wesenheit. Da- 
durch wurde ein anderes Unheil von der menschlichen Natur ab- 
gewendet. Denn auch wenn die Sinne durch das erste Christus-Ereig- 
nis schon gesund geworden waren, so ware doch durch den luzife- 
rischen und den spateren ahrimanischen EinfluB diese menschliche 
Natur so geworden, daB die sogenannten sieben Lebensorgane - ich 
habe bei Gelegenheit der Vortrage iiber Anthroposophie auch von 
den sieben Lebensorganen gesprochen; gefaBartige Organe sind sie 
im physischen Leibe, was ihnen aber zugrunde Hegt, ist eigentlich eine 
Organisation des Atherleibes - so geworden waren, daB wir wieder 
nicht so als Menschen durch die Welt gehen konnten, wie es jetzt mit 
Sympathie und Antipathic der Fall ist, sondern der Mensch wurde ab- 
wechselnd wiiste Gier und furchtbarsten Ekel empfunden haben in 
bezug auf das, was er mit seinen Lebensorganen genieBt, was ihm 
Nahrung sein kann. Aber auch was an seine Atmungsorgane heran- 
treten konnte, wurde er so empfunden haben, daB er es entweder mit 
wilder Gier erfassen oder mit tiefstem Ekel abweisen wollte. Also 
auch die sieben Lebensorgane wiirden iibermaBig tatig geworden sein 
durch den EinfluB von Luzifer und Ahriman. Da trat das zweite 
Christus-Ereignis ein, wiederum ein Ereignis in den iibersinnlichen 
Welten. Durch dieses wurden die Lebensorgane des Menschen in die 
Moglichkeit gebracht, in gewissem Sinne maBig, maBvoll zu sein. So, 
wie unsere Sinne niemals gleichsam in Weisheit hatten die Welt an- 
schauen konnen, wenn nicht das erste Christus-Ereignis in der lemu- 
rischen Zeit stattgefunden hatte, so hatten unsere Lebensorgane nie 
maBig sein konnen, wenn nicht das zweite Christus-Ereignis im Be- 
ginne der atlantischen Zeit geschehen ware. 

Aber noch ein drhtes Unheil stand den Menschen bevor, ein IJnheil, 



das sich auf seinen astralischen Leib bezog, auf die Verteilung von 
Denken, Fiihlen und Wollen. Heute sind Denken, Fiihlen und Wollen 
beim Menschen in einer gewissen Harmonie, und wenn diese zerstort 
jst, dann ist die Gesundheit des Menschen zerstort. Wenn Denken, 
Fiihlen und Wollen nicht in richtigem Ma8e ineinanderwirken, dann 
kommt der Mensch entweder in ubergroBe Hypochondrie oder bis in 
Wahnsinnszustande hinein. Bis zu Wahnsinnszustanden hatten also die 
Menschen in vollkommener Unordnung in bezug auf Denken, Fiihlen 
und Wollen kommen konnen, wenn nicht gegen das Ende der atlan- 
tischen Zeit das dritte Christus-Ereignis stattgefunden hatte. Das hat 
bewirkt - es ist wieder eine Durchseelung des noch in den ubersinn- 
lichen Welten befindlichen nathanischen Jesus mit dem Chfistus da6 
maBvolle Harmonie in die Seelenkrafte des Menschen, in Denken, 
Fiihlen und Wollen, gebracht worden ist. 

Diese drei Ereignisse, die ich jetzt angefiihrt habe, haben alle aus 
den geistigen Welten in den Menschen Jiineingewirkt; sie haben sich 
nicht vollzogen auf dem physischen Plan. Aber insbesondere von dem 
dritten Ereignis ist in den mythischen Vorstellungen ein gutes An- 
denken geblieben. Und wie in vielen Fallen uns die geistige Erkennt- 
nis dahin fiihrt, solche Zeichen, die in Sagen und Mythen sich erhalten 
haben, in der rechten Weise zu verstehen, sie sozusagen in der rich- 
tigen Weise zu vertiefen, so kann es auch mit diesem Zeichen sein. 
Wir alle kennen es ja, dieses Zeichen, welches ein ubersinnlkhes 
Wesen darstellt - sei es der Erzengel Michael, sei es der heilige Georg - 
tottretend, iiberwindend den Drachen. Das ist die bildliche Darstel- 
lung des dritten Christus-Ereignis ses : der Erzengel Michael oder 
Sankt Georg, der spatere nathanische Jesusknabe, durchseelt von der 
Christus-Wesenheit. Daher gibt es die erzengelhafte Gestalt in den gei- 
stigen Welten. Und die Oberwindung des Drachens bedeutet die Un- 
terdriickung desjenigen im menschlichen Denken, Fiihlen und Wollen 
- also in der Leidenschaftsnatur des Menschen -, welches Denken, 
Fiihlen und Wollen durcheinanderwerfen wiirde, in Unordnung brin- 
gen wiirde. Man kann es tief empfinden, wie in solchen gewaltigen 
Bildern, die gleichsam aufgerichtet sind, damit das, was nicht mit 
dem Verstande erfaBt, begriffen werden kann, wenigstens fur das 



symbolische Anschauen und fur das Gefuhl vor die Menschenseele 
hingestellt werden, wie darin tiefe, tiefe Zusammenhange sich aus- 
sprechen. 

Wir haben bei friiheren Gelegenheiten erwahnt, wie das Griechen- 
tum in seiner Gotter- und Geisterwelt Abschattungen, gleichsam die 
Schattenbilder desjenigen gehabt hat, was sich in der adantischen Zeit 
als wirkliche gottlich-geistige Wesenheiten gleichsam in der Welt un- 
mittelbar iiber den Menschen befunden hat. Nun hatten die Griechen 
ein deutliches BewuBtsein gerade von dem dritten Christus-Ereignis, 
von jenem Christus-Ereignis, das sonst eben fur die Menschenseele 
nur bildlich dargestellt wird durch Sankt Georg oder den Erzengel 
Michael, den Drachen uberwindend. Die Griechen stellten dar den 
Christus, durchseelend den spateren nathanischen Jesusknaben, als 
ihren Apollon. Und in tief bedeutsamer Weise, man mochte sagen, in 
den Kosmos selbst hineingestellt ist Sankt Georg mit dem Drachen in 
Griechenland. Die Griechen hatten jenen kastalischen Quell am Par- 
nassos, an dem sich eroffnete aus der Erde heraus ein Schlund, aus 
dem Dampfe aufstiegen. Diese Dampfe umgaben schlangenartig den 
Berg, so daB man in diesen schlangenartig den Berg umgebenden 
Dampfen selber ein Bild hatte der wild stiirmenden menschlichen 
Leidenschaften, die Denken, Fiihlen und Wollen in Unordnung brin- 
gen. t)ber dem Erdschlund, an der Stelle, wo diese schlangenartigen 
Dampfe herauskamen, in denen der Python lebte, errichtete man jene 
Orakelstatte, welche der Pythia geweiht war. Die Pythia saB auf ihrem 
DreifuB iiber diesem Erdschlund und wurde durch die heraufsteigen- 
den Dampfe in einen visionaren Zustand gebracht, und was sie in 
diesem Zustande sprach, das faBte man auf als den Ausspruch des 
Apollon selber. Und die, welche Ratschlusse haben wollten, schickten 
zur Pythia und lieBen sich von Apollo durch den Mund der Pythia 
Rat erteilen. 

Die Anschauung lag also bei den Griechen zugrunde, daB Apollo 
zuruckfuhrt auf eine wirkliche Wesenheit. Jetzt kennen wir diese 
Wesenheit. Es ist der von dem Christus durchseelte spatere natha- 
nische Jesusknabe, Apollo bei den Griechen genannt. Er nimmt dem, 
was aus der Erde in der Seele der Pythia aufsteigt, seine luziferisch- 



ahrimanische Wirkung. Und well in den Dampfen das Opfer des 
Apollon aufsteigt, so sind sie nicht mehr verwirrend, sondern weise 
ordnend Denken, Fiihlen und Wollen fur die Griechen. So sehen wir, 
wie in der Apollon-Idee der Griechen das lebt, daB in Denken, Fiihlen 
und Wollen der Menschen eingezogen ist der Gott, den wir spater den 
Christus nennen, der Gott, der damals sich geopfert hat, indem er in 
die Seele des spateren nathanischen Jesusknaben eingezogen ist und 
Harmonie ausgegossen hat in das, worauf der EinfluB von Luzifer und 
Ahrirnan - in Denken, Fiihlen und Wollen - in der Menschenseele 
verwirrend wirken mufite. 

So haben wir drei Christus-Ereignisse in den iibersinnlichen Welten, 
welche das Ereignis von Golgatha eigentlich vorbereiten. Wenn wir 
nun nach der Bedeutung des Ereignisses von Golgatha selber fragen: 
Was ist durch dieses Ereignis eigentlich bewirkt worden, was ware in 
Unordnung gekommen, wenn das Ereignis von Golgatha nicht ein- 
getreten ware? - dann wissen wir ja, daB in der vierten nachatlan- 
tischen Kulturepoche, der griechisch-lateinischen Zeit, die Menschheit 
reif wurde, das Ich zu entwickeln. Zunachst war gerade jener Winkel 
des Abendlandes reif, um das Ich zu entwickeln, der sich in West- 
asien, Slid- und Mitteleuropa ausbreitete. Namentlich sollte das Ich 
entwickelt werden durch den ZusammenstoB der romanischen Volker 
mit den germanischen in Mittel- und Siideuropa. Das Ich sollte also 
im vierten nachatlantischen Zeitraume entwickelt werden. Aber es 
ware in ungeordneter Weise entwickelt worden. Denn so, wie die 
Sinne in ungeordneter Weise ausgebildet worden waren in der lemu- 
rischen Zeit, wenn nicht das erste Christus-Ereignis eingetreten ware, 
wie sich die sieben Lebensorgane in unrichtiger Weise entwickelt hat- 
ten, wenn nicht das zweite Christus-Ereignis im Beginne der atlan- 
tischen Zeit geschehen ware, wie die drei Seelenbetatigungen des 
Menschen - Denken, Fiihlen und Wollen - in ungeordneter Weise 
sich entwickelt hatten, wenn nicht das dritte Christus-Ereignis gegen 
das Ende der atlantischen Zeit eingetreten ware, so wiirde sich das 
Ich ungeordnet entwickelt haben, wenn nicht das vierte Christus- 
Ereignis in der griechisch-lateinischen Zeit, eben das Mysterium von 
Golgatha, eingetreten ware. Denn - das haben wir schon ofter hervor- 



gehoben - zum Ich, zum BewuBtsein des Ichs waren die Menschen 
im vierten nachatlantischen Zeitraume gekommen. 

Fiir diejenigen Menschen, welche nicht haben dazu kommen sollen, 
wurde zunachst eine andere Art von Offenbarung gegeben. Denn das 
ist der charakteristische Unterschied zwischen der Buddha-Offen- 
barung und der Christus-Offenbarung, daB die Buddha-OfFenbarung 
an Menschen erging, welche nicht eigentlich zum BewuBtsein ihres 
durch die Inkarnationen durchgehenden Ichs kommen sollten. Der 
versteht den Buddhismus nicht, der nicht gerade dieses in der rich- 
tigen Weise auffaBt. Es wurde von mir ofter auf ein im spateren 
Buddhismus gebrauchtes Gleichnis hingewiesen, in welchem gesagt 
wird, daB der richtige Buddhist das, was von einer Inkarnation zur 
anderen iibergeht, so ansieht, daB er es vergleicht mit der Mango- 
frucht, die, wenn sie in die Erde gelegt wird, einen neuen Baum her- 
vorbringt, auf dem eine neue Frucht wachst. Name und Form sind es 
nur, was die neue Mangofrucht mit der alten gemeinsam hat. Das ist 
das Charakteristische des Buddhismus, daB von einem durch die In- 
karnationen durchgehenden realen Ich nicht gesprochen wurde. Aus 
dem Grunde wurde nicht davon gesprochen, weil ein reaJes Ich bei 
den Volkern des Ostens nicht voll zum BewuBtsein gekommen ist. 
Heute noch kann man sehen: Wenn auf den Lehren des Ostens ste- 
hende Menschen Weltanschauungen des Westens begreifen wollen, so 
konnen sie nicht bis zu dem Punkte vordringen, wo das Ich einsetzt. 

Das Ich sollte von den Volkern der vierten nachatlantischen Kultur- 
periode geboren werden. Es ware aber ungeordnet geboren worden. 
DaB es ungeordnet geboren worden ware, zeigt sich an einer Erschei- 
nung, die sehr bedeutsam im vierten nachatlantischen Zeitraum auf- 
trkt. Wie ein signifikanter Ausdruck fiir die Geburt des Ichs steht da 
das Element der griechischen Philosophic Aber wie eine Begleit- 
erscheinung der griechischen Philosophic steht andererseits da das 
Sibyllentum, jenes Sibyllentum, von dem wir sagen miissen: Sibyllen 
sind alle diejenigen weiblichen Wesenheiten, welche nicht wie die 
Pythia durch Apollo in ihrem Seelenleben harmonisiert wurden, son- 
dern die ihre Offenbarungen ungeordnet in Denken, Fuhlen und 
Wollen wirken lieBen. Durch diese sibyllinischen Offenbarungen, 



welche vom 8. vorchristlichen Jahrhundert an da waren und bis ins 
Mittelalter hinein reichten, stromte oft etwas von hochsten Wahr- 
heiten, aber ungeordnet, durchsetzt mit allerlei sonderbarem Zeug. 
In dem Sibyllentum zeigt sich insbesondere, wie die Geburt des Ich- 
BewuBtseins zunachst verwirrend hatte wirken miissen, wie das Ich 
durch die luziferischen und ahrimanischen Einfliisse ebenso ungeord- 
net herausgekommen ware, wie die zwolf Sinne in der lemurischen 
Zeit, wie die sieben Lebensorgane in der fruhen atlantischen Zeit 
und wie die drei Seelenorgane in der spateren atlantischen Zeit ohne 
die drei ersten Christus-Ereignisse ungeordnet hatten herauskommen 
miissen. So hatte in der nachatlantischen Zeit das Ich ungeordnet 
herauskommen miissen, wenn nicht das Mysterium von Golgatha ein- 
getreten ware. 

So sehen wir, wie dieses Mysterium von Golgatha gleichsam von 
einer geistigen Hohe, wo es sich als erstes Christus-Ereignis in der 
lemurischen Zeit abspielt, stufenweise heruntersteigt, bis es zum phy- 
sischen Plan kommt, eben in unserem irdischen Mysterium von Gol- 
gatha. Das kann uns wiederum hinweisen auf die ganze Bedeutung 
dieses einzigartigen Ereignisses fur die Erdentwickelung, kann uns 
darauf hinweisen, wie dieses einzigartige Ereignis aber wohlvorberei- 
tet war aus den geistigen Welten heraus. Der Zusammenhang mit dem 
hohen Sonnenwesen, der ofter in bezug auf das Christus-Wesen von 
uns hervorgehoben worden ist, zeigt sich ja auch in der griechischen 
Apollo-Idee, da Apollo der Sonnengott ist. 

Ich habe nur skizzenhaft angedeutet, was also hat herbeigetragen 
werden konnen zur volligen Erklarung der Bedeutung des Myste- 
riums von Golgatha. Alle diese Dinge konnten in alien Einzelheiten 
ausgefiihrt werden und wiirden dann die ganze ungeheure kosmische 
GroBe dieses Mysteriums von Golgatha zeigen. So kann man sich 
diesem Mysterium von Golgatha nahern aus der Betrachtung des 
Kosmos heraus. Man kann sich ihm aber auch noch von einer anderen 
Seite aus nahern. Das kann etwa in der folgenden Weise geschehen. 

Nehmen wir an, der Mensch geht in die geistige Welt, durch die 
Pforte des Todes oder durch die Initiation. Und bleiben wir jetzt bei 
dem, daB er durch die Pforte des Todes in die geistige Welt kommt, 



dann ist das erste, daB der Mensch seinen physischen Leib gleichsam 
als die auBerste Hiille ablegt. Dieser physische Leib wird den Erden- 
elementen iibergeben. Nehmen wir einmal an, der Mensch wiirde aus 
der geistigen Welt, in der er ist, nachdem er durch die Pforte des 
Todes gegangen ist, zuriickschauen auf das Schicksal seines physischen 
Leibes, wie er, verwest oder verbrannt, den physischen Elementen der 
Erde iibergeben wird. Was der Mensch in diesen Prozessen sieht, wenn 
er von der geistigen Welt aus zuriickschaut auf das Schicksal des 
physischen Leibes, das konnte man ein Naturereignis nennen wie ein 
anderes Naturereignis, ein Ereignis, bei dem man moralische Begriffe 
so wenig anwendet, wie man moralische Begriffe anwendet, wenn die 
Wolken sich bilden und der Blitz von einer Wolke in die andere fahrt 
und dergleichen. So wie man auf diese Naturereignisse sieht, so hat 
man zunachst auf das zu sehen, was sich da auflost als physischer 
Leib. Wir wissen aber weiter, da6 der Mensch dann einige Tage ver- 
bunden bleibt mit seinem Atherleibe und daB als eine Art zweite Los- 
losung die des Atherleibes vom astralischen Leib und vom Ich ge- 
schieht. 

Wenn der Mensch dann zuriickschaut auf den abgelosten Atherleib, 
so nimmt sich dieser schon anders aus in seinen Prozessen als der 
abgeloste physische Leib. Vor allem konnen wir nach dem Tode von 
der geistigen Welt aus auf den Atherleib nicht so hinschauen, daB wir 
das, was der Atherleib dann ist und was aus ihm wird, wie ein Natur- 
ereignis ansehen konnen. Das ist gar nicht der Fall, sondern dieser 
Atherleib zeigt uns in seiner Eigenart, wie in ihn verwoben, was wir 
als Gesinnungen unserer Seele in uns getragen haben bis zu unserem 
Tode. Haben wir gute Gesinnungen gehabt, so sieht man das dem 
Atherleibe an; haben wir tuckische, schlechte Gesinnungen gehabt, so 
sieht man ihm das ebenfalls an. Ja, man sieht und fiihlt ihm an, mochte 
man sagen, die ganze Stufenleiter von guten und schlechten Gefiihlen 
und Empfindungen. Das alles ist in ihm ausgedruckt. Wir legen 
unsere innere Seelenverfassung, wie sie ist, in den Atherleib hinein. 
Das sieht man darinnen, und das lost sich in einer komplizierten 
Weise in der atherischen Welt auf, wird von dieser aufgesogen. Wenn 
wir daher so zuriickblicken auf das Schicksal unseres atherischen 



Leibes, so blicken wir eigentlich auf ein Abbild dessen zuriick, was 
wir selber im Erdenleben waren. 

Wir konnen uns von dem, was wir da anschauen, noch etwas ganz 
Besonderes sagen. Wir konnen uns sagen: Hast du diese oder jene 
guten Empfindungen, diese oder jene Hingabe an die geistigen Welten 
gehabt, dann hast du dem allgemeinen Atherkosmos etwas iibergeben, 
was dort als Gutes weiterwirkt. Hast du schlechte Empfindungen, 
schlechte Gefiihle gehabt und dich nicht befassen wollen mit den 
Schilderungen aus den geistigen Welten, so hast du dem Atherkosmos 
etwas iibergeben, was Schaden, Verheerung anrichtet in der athe- 
rischen Welt. 

Es gehort zum Schicksale unserer Seele, also unseres Astralleibes 
und unseres Ichs, was diese in der geistigen Welt sind, das anzu- 
schauen, was man so selber angerichtet hat in dem Schicksale seines 
Atherleibes, der nicht mehr geandert werden kann, wenn er von dem 
physischen Leibe losgelost ist. Es ist sogar der hauptsachlichste An- 
blick, den man nach dem Tode hat. Wie man vorher in der Sinneswelt 
den Anblick von Wolken, Bergen und so weiter hatte, so hat man jetzt 
nach dem Tode, wie einen Hintergrund, den Anblick desjenigen, was 
man selbst durch seine Seelenverfassung und seine Gesinnungen in 
seinen Atherleib hineingelegt hat. Das wird immer groBer und groBer, 
je weiter sich der Atherleib auflost, und wird tatsachlich so wie das 
Firmament, auf dem alles andere erscheint. Es gehort daher zum 
Schicksale des Menschen nach dem Tode, die Schicksale des athe- 
rischen Leibes anzuschauen. 

Dazu zeigt sich noch etwas anderes : daB dieser Atherleib, der sich 
da auflost, eigentlich, man konnte sagen, zweierlei Eigenschaften hat. 
Die eine Eigenschaft hangt mit etwas zusammen, was im Grunde ge- 
nommen immer einen bedruckenden, einen betrubenden Eindruck 
nach dem Tode macht. Womit diese Eigenschaft da zusammenhangt, 
das wird uns am besten dadurch klar werden, daB wir ein wenig auf 
das Schicksal der physischen Erde hinweisen. 

Dieses Schicksal der physischen Erde wird ja heute schon von den 
Physikern anerkannt. Es wird von den Physikern als richtig anerkannt, 
daB die Erde als physisches Wesen einmal dem sogenannten Warme- 



tod verfallen wird. Das Verhaltnis der Warme zu den anderen physi- 
kalischen Kraften der Erde ist so, daB einmal in einer gewissen Zu- 
kunft der Zeitpunkt eintreten wird ~ das ist heute schon ein physi- 
kalisches Ergebnis -, wo alles in eine gewisse gleichmaBige Warme 
ubergegangen sein wird. Dann wird nichts mehr da sein, was an Er- 
eignissen und Verrichtungen auf der Erde geschehen konnte in ihrem 
physischen Bereich. Die ganze Erde wird dem Warmetode verfallen 
sein. 

Diejenigen, die Materialisten sind, miissen natiirlich als selbstver- 
standlich annehmen - denn sonst sind sie nicht konsequent -, daB mit 
diesem Warmetode alles, auch was sie menschliche Kultur, mensch- 
Hches Denken, Sinnen und Trachten nennen, aufhoren miisse, daB 
das ganze menschliche Leben in der gleichmaBigen Erdenwarme ver- 
schwinden miisse. Wer die Verhaltnisse durchschaut, wie sie die gei- 
steswissenschaftliche Lehre geben kann, der weiB, wie dieser Warme- 
tod bedeutet, daB die physische Erde wie ein Leichnam abfallen wird 
von ihrem Geistigen, das zu ihr gehort, wie der menschliche phy- 
sische Leichnam von dem abfallt, was vom Menschen durch die Pforte 
des Todes schreitet. Und wie der menschliche Leichnam mit dem 
Tode zuriickbleibt von dem Geistig-Seelischen des Menschen, das 
durch einen Zwischenzustand zwischen Tod und neuer Geburt durch- 
geht, und wie der Mensch von einem Zustande zu anderen geht, so 
wird das Geistige der Erde, wenn ihr Erdendasein mit dem Warme- 
tode zu Ende gehen wird, zum Jupiterdasein iibergehen. Dieses Ju- 
piterdasein wird eine weitere Verkorperung alles desjenigen sein, was 
geistig mit der Erde in Verbindung steht. 

Wenn wir so nach dem Tode zunickschauen konnen auf den Ather- 
leib, dann fallt wirklich auf durch eine gewisse Empfindung, die 
gegenuber diesem Atherleibe da ist, daB ein Teil der Eigenschaften 
des Atherleibes zusammenhangt mit alledem, was innerhalb des Erden- 
bereiches dem Warmetode verfallt, was sich auf lost. SolcheKrafte sind 
in unserem Atherleibe, welche die tatigen Krafte sind, um die Erde 
in den Warmetod hineinzufiihren. Aber andere Krafte sind noch da. 

Eine zweite Art von Kraften in diesem Atherleibe ist zu bemerken, 
und diese verhalten sich zu allem Irdischen so, wie wenn man hin- 



sehen wurde auf den Pflanzenkeim und sehen, wie der Pflanzenkeim 
umgeben ist von einer solchen Pflanzensubstanz, aus der die nachste 
Pflanze neu entsteht. In ahnlicher Weise sieht man im Atherleibe : da 
sind Krafte, die nur tatig sein miissen fiir die Erde, solange die Erde 
besteht, bis die Erde dem Warmetod verfallt. Dann aber sind junge 
Krafte darinnen, die zusammenhangen mit dem, was die Erde wie 
Keimfahiges im Kosmos enthalt, urn hinubergefiihrt zu werden zur 
nachsten Inkarnation der Erde. Aber diesen gleichsam keimeskraftigen 
Teil des Atherleibes kann man nur sehen - und damit beriihren wir 
wieder ein sehr wichtiges Geheimnis der Geisteswissenschaft -, wenn 
man ein gewisses Verhaltnis gewonnen hat zu der Christus-Wesenhek, 
zu dem Christus-Impuls. Denn dieser Teil ist durchdrungen von den 
Christus-Kraften, die sich durch das Mysterium von Golgatha in die 
geistige Erdensphare ausgegossen haben. Da sind sie drinnen, in die- 
sem Teil. Denn diese Christus-Krafte stellen das dar, was auch von 
den Menschen das Keirnfahige hiniibertragt zum Jupiter. Das befahigt 
uns also, unseren Zusammenhang mit dem Christus-Impuls, das Keim- 
fahige, das Zukunftsfahige in unserem Atherleibe zu schauen. 

Wenn dies dann so angeschaut wird, dann hat man die Sicherheit, 
daB wirklich vom Mysterium von Golgatha das, was ofter angefiihrt 
worden ist, ausgeflossen ist in die Erdensphare, und daB es etwas zu 
tun hat mit der Wiederbelebung des ganzen Geistigen der Erde, in 
das wir selber als Menschen eingebettet sind. Und zu den Erlebnissen, 
die ein Menschenwesen haben muB, welches ein richtiges BewuBtsein 
vom Ich hat, wie es der heutige Mensch des Westens hat, zu diesen 
Erlebnissen gehort geradezu, nach dem Tode beim Hinblick auf seinen 
Atherleib diesen Atherleib nicht ohne die Durchdringung mit dem 
Christus-Impuls zu sehen. Denn es ist ein unseliges Leben nach dem 
Tode, wenn man im Anblick seines Atherleibes entbehren muB das 
Durchtranktsein des Atherleibes mit dem Christus-Impuls. Das ist es, 
warum ich immer darauf hingewiesen habe, daB der Christus als eine 
Tatsache auf die Erde gekommen ist, und daB auch diejenigen Men- 
schen, welche sich heute noch mit ihrem OberbewuBtsein strauben 
gegemiber dem Christus-Impuls, nach und nach den Zugang zu dem 
Christus-Impuls finden werden, wenn sie ihn auch vielleicht um eine 



oder zwei Inkarnationen spater finden werden als die Bevolkerung der 
westlichen Kulturgegenden der Erde. 

Es macht des Menschen SeKgkeit nach dem Tode aus, im Anblick 
seines Atherleibes die Sidherheit des Christus-Impulses zu haben. Es 
macht des Menschen Unseligkeit nach dem Tode aus, am Atherleibe 
nur das zu bemerken, was gewissermaBen dem Erdentode verfallen 
muB. Fiir denjenigen Menschen, der durch seine westliche Kultur 
eben ein deutliches Ich-BewuBtsein hat - die ostlichen Menschen 
haben dieses Ich-BewuBtsein noch nicht deutlich -, fur den Menschen, 
der mit dem deutlichen Ich-BewuBtsein, wie bei den westlichen Vol- 
kern, schon geboren ist, bedeutet es durchaus etwas Unseliges, hin- 
zuschauen auf seinen Atherleib und dort nur die fiir die Erdent- 
wickelung zerstorenden Krafte zu sehen, nicht aber ersehen zu konnen, 
daB dort der Christus-Impuls als eine Substanz drinnen ist. Es ist 
etwa so, wie wenn man fortwiihrend unter dem Eindrucke eines Erd- 
bebens oder eines Vulkanausbruches leben muBte nach dem Tode, 
wenn man nicht die jungen Keimkrafte des Christus-Impulses im 
Atherleibe schauen kann. 

Diese jungen Keimkrafte des Christus-Impulses, was sind sie denn 
eigentlich? Nun, das eine, was dazugehort, habe ich schon seit Jahren 
bei verschiedenen Gelegenheiten erwahnt. Wir haben davon gespro- 
chen, welche Rolle das Blut im physischen Leibe des Christus Jesus 
spielt. Das Blut gehort ja zu den physischen Substanzen des Leibes, 
und fiir den gewohnlichen Menschenleib gehort es zu dem, was sich 
mit dem Tode physisch auflost in die Elemente. Das war nicht der 
Fall, wenigstens nicht bei dem Teile des Blutes des Christus Jesus, der 
auf Golgatha aus den Wunden zur Erde floB. Dieser Teil des Blutes 
atherisierte sich, wurde wirklich aufgenommen von den Atherkraften 
der Erde, so daB das Blut, das damals aus den Wunden floB, zur Ather- 
substanz wurde. Und diese Athersubstanz erglanzt, erhellt, erflimmert 
in dem Atherleibe und - man empfindet es so nach dem Tode - zeigt 
sich so, daB der Mensch weiB : Da ist frisch keimendes Leben, welches 
den Menschen lebensfahig der Zukunft entgegenfuhrt. 

Noch von einer anderen Seite kommen die Ingredienzien in den 
Atherleib hinein, was uns zeigen kann, wie frischkraftiges Leben da- 



drinnen ist. Gerade die Betrachtung aus dem Fiinften Evangelium 
zeigt an - es gehor t das zu den groBen Eindriicken, wenn man dem 
nachgeht, was in dem Fiinften Evangelium gegeben werden kann 
daB, nachdem der Leichnam des Christus Jesus in das Grab gelegt 
worden ist, wirklich etwas eintrat, wodurch zum SchluB die Dinge 
da sein konnten, wie sie so wunderbar genau das Johannes-Evange- 
lium schildert: wie das Grab leer ist und wie die Tiicher ringsherum 
lagen. So war es auch. Das zeigt uns das Fiinfte Evangelium. Es war 
deshalb so, weil ein wellenartiges Erdbeben stattgefunden hatte mit 
einer Spaltung der Erde. In diesen Spalt fiel der Leichnam des Chri- 
stus Jesus hinein. Dieser Spalt schloB sich dann wieder. Und durch 
das wellenartige Bewegen und Stiirmen wurden tatsachlich die Lei- 
chentucher so herumgeworfen, wie sie dann im Johannes-Evangelium 
bei der Beschreibung des leeren Grabes in ihren Lagen geschildert 
werden. Das ist der groBe, zu Herzen gehende Eindruck, wenn man 
durch das Fiinfte Evangelium diese Dinge erfahrt und dann im Johan- 
nes-Evangelium die Bestatigung findet. 

Noch etwas hat sich also in den Atherleib hineinbegeben : Was da 
von dem Erdspalt aufgenommen warden ist, das durchdrang das- 
jenige, was wir das in der Athersubstanz erflimmernde und erglit- 
zernde Blut genannt haben, und dadurch wird das nimmernde und 
glitzernde Blut im Atherleibe sichtbar; so daB man die Empfindung 
hat - ich sagte vorhin: es breitet sich der Atherleib nach dem Tode 
aus und man erblickt ihn wie eine Art Firmament, von dem sich alles 
andere abhebt, es spannt sich aus in diesem sich ausbreitenden Ather- 
leibe wie eine Grundsubstanz der Leib, der blutentleerte Leib des Chri- 
stus Jesus, der von dem Erdspalt aufgenommen worden ist und so in 
die Erde iibergegangen ist und in dem ausgespannten Tableau des 
Atherleibes wie diesen belebend erscheint. 

Und dieser Anblick gibt die GewiBheit: Die Menschheit geht nicht 
zugrunde, sondern lebt als geistiger Inhalt der Erde weiter, wenn das 
Physische der Erde abfallt, wie der einzelne menschliche Leichnam 
von dem Geistigen des Menschen abfallt. Das Ich und der astralische 
Leib sind ja gewiB so, daB sie dem Menschen Freiheit und Unsterb- 
lichkeit verbiirgen. Aber der Mensch wiirde allein fur sich fortleben. 



Er wiirde auf dem Jupiter ankommen und nicht zum Jupiterleben 
passen, wenn nicht das, was auf der Erde erlangt worden ist, zum 
Jupiter hinubergetragen wiirde: wenn nicht hiniibergetragen wiirde, 
was durch den Chris tus-Impuls in die Erdensphare hineingebracht 
worden ist. 

Man kann sagen, die einzelnen Menschen wiirden kaum mehr be- 
reichert, als sie schon in der lemurischen Zeit waren, in den Jupiter 
himiberleben, arm wiirden sie in den Jupiter hiniiberleben, wenn sie 
nicht hineingebettet waren in eine Erdensphare, die durchchristet ist. 
Und diese Armut, die den Eindruck machen wiirde: Das Erdenleben 
ist eigentlich verloren sie wiirde als etwas Unseliges vor dem Men- 
schen stehen im Leben zwischen Tod und neuer Geburt, wahrend das, 
was der Christus-Impuls aus dem geistigen Teil der Erde gemacht hat, 
der Seele die Seligkeit gibt im Leben zwischen Tod und neuer Geburt: 
Ja, alles was die Seele erleben kann nach dem Mysterium von Gol- 
gatha, kommt durch das, was ausgeflossen ist durch den Christus- 
Impuls in die geistige Erdenatmosphare ! 



DAS FONFTE EVANGELIUM 



Hamburg, 16. November 1913 

Es obliegt mir jetzt, zu sprechen von Dingen, die sich im Verlaufe 
unseres anthroposophischen Lebens ergeben haben, von den geistes- 
wissenschaftlichen Forschungen, die aus der Akasha-Chronik gewon- 
nen sind und sich beziehen auf das Jesus-Leben. In Kristiania habe 
ich schon einiges zusammengestellt iiber das Christus Jesus-Leben. 
Auch in anderen Stadten habe ich verschiedenes mitgeteilt, und zu 
Ihnen will ich auch einiges sprechen, und zwar aus bestimmten Ge- 
sichtspunkten. Im allgemeinen betone ich, daB es nicht leicht wird, 
dariiber zu sprechen, denn direkte Ergebnisse werden in der Gegen- 
wart noch recht iibel vermerkt, wenn auch allgemein zugegeben wird, 
daB es einen Geist gibt, von dem man abstrakt spricht. Wenn man 
aber konkrete Mitteilungen aus dem Gebiete der geistigen Entwicke- 
lung der Welt gibt, findet man nicht nur gutmutige Kritiker, sondern 
wildgewordene, so wie es war bei der Mitteilung iiber die zwei Jesus- 
knaben, die fur den objektiv Denkenden sehr emleuchtend ist. Des- 
halb bitte ich, die heutigen Mitteilungen pietatvoll zu behandeln, weil 
sie, wenn auBerhalb unserer Zusammenhange dargestellt, rniBver- 
standen werden und iible Gegnerschaft erfahren konnten. 

Aber es gibt auch Gesichtspunkte, nach denen man sich verpflichtet 
fiihlt, diese Dinge mitzuteilen. Der eine Gesichtspunkt ist der, daB 
wahrhaftig in unserer Zeit notwendig ist eine Erneuerung des Chri- 
stus Jesus-Verstandnisses, ein erneuertes Hineinblicken in das, was 
eigentlich in Palastina geschehen ist, was als Mysterium auf Golgatha 
sich volteog. Aber noch einen anderen Gesichtspunkt gibt es. Dieser 
ist der, daB gerade okkulte Einsicht verwoben sei mit der ganzen Ge- 
sinnung, die aus der Geisteswissenschaft flieBt, und die uns die Er- 
kenntnis bringt, wie unendlich gesundende und kraftigende Nahrung 
fur die Menschenseelen es ist, wenn sie ofter denken konnen an das, 
was sie als zu den groBten Ereignissen zugehorig betrachten konnen. 
Es kann diesen Seelen eine Hilfe sein, sich zu erinnern an das Myste- 



rium von Golgatha, an die konkreten Dinge, an das, was man im ein- 
zelnen heute noch etforschen kann. Und man kann heute mit okkultem 
Blicke die Dinge noch erforschen. So mdchte ich den seelischen Wert 
der Erinnerung an solche Ereignisse betonen und mochte auf einiges 
eingehen, was sich aus der Akasha-Chronik ergibt als eine Art Evan- 
gelium, als Funftes Evangelium. Die vier anderen sind auch nicht 
gleichzeitig geschrieben; sie sind geschrieben aus Inspiration durch 
die Akasha-Chronik. Wir leben heute in einem Zeitalter, wo sich das 
Christus Jesus-Wort erfullt: «Ich bin bei euch alle Tage.» In beson- 
deren Zeiten steht er uns ganz besonders nahe, spricht Neues aus, was 
sich vollzogen hat zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. 

Heute will ich von dem sprechen, was man das Pfingstereignis 
nennt. Es war fur mich selber der Ausgangspunkt des Funften Evan- 
geliums. Den Blick wendete ich zuerst in die Seelen der Apostel und 
Jiinger, die nicht nur nach der Tradition, sondern wirklich versammelt 
waren zu dem Zeitpunkte des Pfingstfestes. Da sah man, daB etwas in 
ihren Seelen war, was sie empfanden wie ein merkwiirdiges Zusich- 
kommen. Denn sie wuBten etwas, was mit ihnen vorgegangen war. 
Sie sagten sich: Wir haben etwas erlebt auf eine merkwurdige Weise. - 
Denn sie sahen zuriick auf Erlebnisse, die sie wie in einem hoheren 
Traume, in einem anderen BewuBtseinszustand durchgemacht hatten. 
In hoherem Sinne war es so, wie es in niedrigem Sinne ist fur den ein- 
zelnen Menschen, wenn er traumend etwas erlebt hat und sich daran 
erinnert und sich sagt: Ich habe diesen Traum durchgemacht und jetzt 
hinterher wird er mir vor dem WachbewuBtsein klar. - So war es auch 
auf dem Pfingstfeste, daB sie sich sagten : Es war ja, als wenn das ge- 
wohnliche BewuBtsein eingeschlafert gewesen ware. - Es tauchten die 
Ereignisse wie in der Erinnerung auf, von denen sie wuBten, sie hatten 
sie erlebt, aber sie hatten sie nicht mit dem gewohnlichen Tagesbe- 
wuBtsein erlebt. Das wuBten sie jetzt. So erinnerten sie sich jetzt: Wir 
sind einstmals herumgewandelt mit dem, der uns so teuer, so lieb und 
wertvoll war. Dann, zu einem bestimmten Zeitpunkte war es, wie wenn 
er uns entriickt worden ware. Es kam ihnen vor, als ob die Erinnerung 
abriB an das Herumgehen mit Jesus auf dem physischen Plane, und 
wie wenn sie das Folgende wie traumwandelnd erlebt hatten. 



Sie erlebten zuriickgehend das, was man in der evangelischen Lehre 
als die Himmelfahrt beschreibt, und weiter zunickgehend erlebten sie, 
wie sie zusammen waren mit Qiristus Jesus in einer bestimmten Weise. 
Sie wuBten jetzt: Wir waren zusammen, wir waren damals aber wie 
traumwandelnd; jetzt erst konnen wir voll wissen, wie wir mit ihm 
zusammen waren. - Sie erlebten die Zeit, die sie nach der Auferste- 
hung mit ihm wie traumwandelnd durchgemacht hatten. Das erlebten 
sie jetzt in der Erinnerung. Dann ging es zuruck und sie erlebten 
selber das, was die Auferstehung und der Tod am Kreuz war. Da darf 
ich sagen: Es gibt einen ungeheuren, tiefgehenden Eindruck, wenn 
man so zuerst sieht, wie am Pfingstfeste die Seelen der Apostel zuriick- 
schauend hinblicken auf das Ereignis von Golgatha. Und ich gestehe, 
daB ich zuerst den Eindruck hatte, nicht direkt hinblickend auf das 
Mysterium von Golgatha, sondern schauend in den Seelen der Apo- 
stel, wie sie es gesehen hatten, vom Pfingstfeste hin schauend: sie 
hatten es ja tatsachlich nicht mit dem physischen Auge durchgemacht, 
nicht im physischen BewuBtsein miterlebt, sondern sie kamen erst 
hinterher darauf, daB das Mysterium von Golgatha da war, denn ihr 
physisches BewuBtseinserlebnis horte auf schon eine Zeitlang, bevor 
der Christus Jesus all das, was als GeiBelung, Dornenkronung und 
Kreuzigung beschrieben wird, durchzumachen hatte. Wenn der Aus- 
druck nicht miBverstanden wird, weil er im Verhaltnis trivial ist, so 
mochte ich ihn doch gebrauchen: verschlafen, vertraumt hatten die 
Jiinger das, was geschehen war. 

Es war ergreifend, zu sehen, wie zum Beispiel Petrus das vollbringt, 
was als Verleugnung geschildert wird. Er verleugnet Christus, aber 
nicht aus einem moralischen Defekt heraus, sondern wie traumwan- 
delnd ist er. Vor seinem gewohnlichen BewuBtsein steht tatsachlich 
der Zusammenhang mit Christus nicht da. Er wird gefragt: Gehorst 
du zu Christus Jesus? - Er weiB es in diesem Momente nicht, denn 
sein atherischer Leib hatte eine solche Verwandlung durchgemacht, 
daB er den Zusammenhang in diesem Moment nicht kennt. Er macht 
die ganze Zeit durch und wandelt mit dem Auferstandenen herum. 
Das, was der Auferstandene in seiner Seele bewirkt, dringt tief in seine 
Seele ein, aber bewuBt wird es erst am Pfingstfeste in der Riickschau. 



Jetzt tonen einem die bedeutungsvollen Worte, die Christus Jesus 
spricht, anders in der Seele, die Worte, die er zu Petrus und Jakobus 
spricht, wie er sie mitnimmt auf den Berg : «Wachet und betet ! » Und 
tatsachlich verfielen sie in eine Art von anderem BewuBtseinszustand, 
in eine Art von Traum-Trance. 

Wenn sie unter sich beisammen waren und berieten, war auch Chri- 
stus Jesus, ohne daB sie es wuBten, im atherischen Leibe unter ihnen, 
und er redete mit ihnen und sie mit ihm, aber bei ihnen geschah das 
alles wie im Traumwandel. Zum bewuBten Ereignis wurde es erst am 
Pfingstfeste in der Riickschau. Zuerst wanderten sie mit, dann ent- 
schwindet das BewuBtsein und nachher wachen sie wieder auf. Sie 
dachten: Zuerst ging er zum Kreuzestod und starb am Kreuze, dann 
vollzog sich das, was die Auferstehung ist, und er kam wieder in 
seinem Geistleibe, verhandelte mit uns und HeB in unsere Seelen 
traufeln die Geheimnisse der Welt. Jetzt wird uns das alles Vor- 
stellung, was wir in dem anderen BewuBtseinszustand erlebt haben. 

Vor allem sind zwei Eindriicke tief bedeutsam. Da sind die Stunden 
vor dem Tode. Selbstverstandlich liegt es nahe, allerlei naturwissen- 
schaftliche Einwande zu machen; aber wenn Sie sich vorstellen, daB, 
indem man auf die Akasha-Chronik den Blick hinrichtet, die Ereig- 
nisse objektive Wirklichkeit sind, so darf man sie erzahlen. Zunachst 
stellt sich eines dar. Vor dem Tode schaut man ein stundenlanges 
Sich-Ausbreiten einer Verfinsterung iiber die Erde, die fur den hell- 
seherischen Blick den Eindruck einer Sonnenfinsternis macht; es kann 
aber auch eine Wolkenverfinsterung gewesen sein. Dann kann man 
wahrnehmen, wie beim Sterben am Kreuze der Christus-Impuls, durch 
diese Finsternis hindurchgehend, sich mit der Erdenaura verbindet. 
Die Verbindung des kosmischen Christus-Impulses mit der Erdenaura 
schaut man bei dieser Verfinsterung vor seinem Tode. Dann hat man 
jenen groBen, gewaltigen Eindruck, wie diese Wesenheit, die im Leibe 
des Jesus gelebt hat, jetzt sich ausgieBt iiber die geistig-seelische 
Erdenaura, so daB die Seelen der Menschen nun fortan wie in sie 
eingezogen sind. So im Geiste zu schauen das Kreuz auf Golgatha, 
und den Christus durch die verfinsterte Erde sich ausgieBen sehen 
iiber das Erdenleben, ist ein ungeheuer iiberwaltigender Eindruck; 



denn man sieht im Bilde das wirklich sich vollziehen, was fur die Ent- 
wickelung der Erdenmenschheit sich vollziehen muBte. 

Und nun die Grablegung : Da kann man naturlich verfolgen - ich 
habe das schon im Karlsruher Zyklus erwahnt -, wie sich ein Natur- 
ereignis als auBerer Ausdruck des geistigen Ereignisses darstellt. Als 
Christus im Grabe lag, kam ein gewaltiges Erdbeben mit einem Wir- 
belwinde iiber die Erde. Da war es ganz besonders bedeutsam, daB 
sich herausstellte auch durch Betrachtung der Akasha-Chronik, was 
wir heute das Funfte Evangelium nennen: daB nach dem Wirbelwind 
die Tucher im Grabe lagen, wie es im Johannes-Evangelium treu ge- 
schildert ist. Was ich jetzt geschildert habe, das haben die Apostel, 
riickwartsschauend, in ihren eigenen Begegnungen mit Christus nach 
der Auferstehung, als Mysterium von Golgatha erlebt. Am Pfingst- 
feste haben sie das, was sie wie traumwandelnd durchgemacht hatten, 
zuerst erlebt fur ihr BewuBtsein. 

Christus Jesus war, als er das Mysterium von Golgatha vollbracht 
hat, wirklich allein, denn seine Jiinger waren nicht nur weggeflohen; 
es war ihnen auch das BewuBtsein entflohen. Sie waren in einer Art 
Traumzustand und erlebten die Ereignisse so, daB sie erst am Pfingst- 
feste im vollen BewuBtsein eine Riickschau hatten. Auf eine eigen- 
tumliche Weise erlebten sie diese Zusammenkunft mit Christus nach 
der Auferstehung, so daB sie folgendes in Bildern sahen : Da und dort 
waren wir mit ihm, er hat gesprochen; das wird uns jetzt erst klar. - 
Nun erlebten sie aber etwas Merkwiirdiges. Sie sahen die Bilder ihrer 
Erlebnisse mit Christus so wieder, wie es ihrem Zusammensein nach 
der Auferstehung entsprach. Aber so war es ihnen, wie wenn sich 
immer in Abwechslung ein anderes zeigte: Immer zeigte sich ein Bild, 
das ihnen eine Erinnerung gab an ein physisches Zusammensein, das 
sie wie in Traum-Trance erlebt hatten. Aber immer zwei Ereignisse 
stellten sich ihnen dar: ein Zusammensein nach der Auferstehung und 
ein Zusammensein, bevor sie in Trance verfallen waren, da sie noch 
im physischen Leibe mit Christus zusammen waren, fiir das physische 
BewuBtsein erkennbar. Wie zwei ubereinandergelagerte Bilder er- 
schienen ihnen die Ereignisse. Das eine zeigte eine Erinnerung an ein 
physisches Ereignis, das andere ein Wiedererwachen dessen, was sie 



in einem anderen BewuBtseinszustande mit Christus durchgemacht 
hatten. Durch dieses tlbereinanderfallen zweier Bilder wurde ihnen 
klar, was eigentlich in der Zeit sich vollzogen hatte. Was fur die 
Ef denentwickelung sich vollzogen hatte, das stand am Pfingstfeste fur 
sie deutlich da. Wenn man schildern will, was sie durchmachten, so 
wird man vor zwei grandiose und tiefe Ereignisse gestellt. Was sich 
zugetragen hatte, das stand vor ihrer Empfindung, ausgelost durch 
das Pfingstereignis. DaB aber dasjenige, was friiher im Kosmos war, 
jetzt auf Erden ist, das stellte sich ihnen dar. Es wird uns das alles 
erst klar, wenn man es in der Akasha-Chronik vor Augen hat. 

Gehen wir aus von den Erlebnissen, die der Mensch hat. Der 
Mensch erlebt zunachst, bevor er zu einer neuen irdischen Inkar- 
nation herabsteigt, geistige Tatsachen. Er macht dann den Keim- 
zustand und die Geburt durch, geht durch den materiellen Leib in das 
physische Erdenleben iiber und kehrt endlich in die geistige Welt 
zuriick. So ist seine Seelenentwickelung. Fur jedes Wesen sind diese 
Stufen andere. Wir wollen versuchen, sie auf das Christus-Wesen zu 
ubertragen. 

Christus macht in anderer Weise seine Zustande durch. Von der 
Taufe bis zum Mysterium von Golgatha ist eine Art Keimzustand da. 
Das Sterben am Kreuz ist die Geburt, das Leben mit den Aposteln 
nach der Auferstehung ist ein Wandern auf der Erde. Der Ubergang 
in die Erdenaura hinein ist das, was fur die Menschenseele der Uber- 
gang in die geistige Welt ist. Genau das Umgekehrte tritt fur Christus 
auf. Das Umgekehrte sucht er sich fur sein Schicksal. Die Menschen- 
seele geht von der Erde in die geistige Welt, der Christus geht aus der 
Geisteswelt in die Erdensphare hinein, vereinigt sich mit der Erde, urn 
in die Erdenaura iiberzugehen durch das groBe Opfer. Das ist der 
Ubergang des Christus zum Devachan. Und jetzt in der Erdenaura 
lebt der Christus sein selbsterwahltes Devachan. Der Mensch steigt 
von der Erde in den Himmel; der Christus steigt umgekehrt vom 
Himmel zu der Erde nieder, um mit den Menschen zu leben. Das ist 
sein Devachan. 

DaB der Gott also in sein irdisches Dasein eingezogen ist, das trat 
im Bilde der Himmelfahrt, eigentlich der Erdenfahrt, den Aposteln 



und Jiingern beim Pfingstfeste vor den Geist als eines der letzten 
Ereignisse. Damit war ihren Empfindungen klar, was geschehen war, 
was fur ein Los der Erdenentwickelung gefallen war. Es fiihlten sich 
beim Pfingstfeste die Apostel verwandelt und mit einem neuen Be- 
wuBtsein erfiillt: das war das Herabkommen des Geistes, das innere 
Aufleuchten einer geisterfullten Erkenntnis. 

Man kann selbstverstandlich den Menschen erscheinen wie ein 
Schwarmer oder Traumer, wenn man diese Ereignisse erzahlt, aber 
es ist ja auf der anderen Seite begreiflich, daB nichts Gewohnliches 
ausdriicken konnen die groBen Ereignisse, die im Erdenleben gesche- 
hen sind. Dann erblickten die Jiinger riickwartsschauend, jetzt erst 
verstehend, das dreijahrige Leben des Christus Jesus von der Johan- 
nestaufe bis zum Mysterium von Golgatha. Ober dieses Leben mochte 
ich einige Andeutungen machen. 

Ausgehen mochte ich von einer Schilderung der Ereignisse, wie sie 
sich dem die Akasha-Chronik Beobachtenden darstellen. Vor der Jo- 
hannestaufe im Jordan, da fallt der Geistesblick auf ein Ereignis ganz 
besonderer Art in das Leben des Jesus hinein, in welches der Christus 
sich noch nicht ergossen hatte. Da hatte Jesus in seinem dreiBigsten 
Jahre ein Gesprach mit seiner Stief- oder Ziehmutter. Von seinem 
zwolften Jahre an war er nicht bei seiner leiblichen Mutter, aber es 
hatte sich ein immer tieferes Band des Jesus zu der Stiefmutter her- 
ausgebildet. Die Erlebnisse des Jesus von seinem zwolften bis acht- 
zehnten, bis vierundzwanzigsten, bis dreiBigsten Jahre habe ich auch 
schon erzahlt. Es waren tiefgehende Ereignisse. Hier mochte ich an- 
kniipfen an ein Ereignis, welches stattfand vor der Johannestaufe. Es 
ist ein Gesprach mit der Ziehmutter. Es war ein Gesprach, in welchem 
Jesus von Nazareth der Mutter gegemiber alles durch seine Seele Zie- 
hen lieB, was er vom zwolften Jahre an erlebt hatte. Da konnte er jetzt, 
so daB seine Worte durchdrungen waren von tiefen, gewaltigen Emp- 
findungen, erzahlen, was er, eigentlich im Grunde genommen mehr 
oder weniger einsam, in seiner Seele erlebt hatte. Er erzahlte es an- 
schaulich und eindringlich. Er sprach davon, wie in diesen Jahren, 
von seinem zwolften bis zum achtzehnten, wie eine Erleuchtung in 
seine Seele die hohen Gotteslehren eingezogen seien, die einstmals den 



hebraischen Propheten geofFenbart worden waren. Denn das war es, 
was in der Zeit von seinem zwolften bis achtzehnten Jahre wie eine 
Inspiration iiber Jesus gekommen war. Angefangen hatte es, als er 
sich im Tempel unter den Schriftgelehrten befunden hatte. Es war eine 
Inspiration, wie sie in den groBen alten Urzeiten den Propheten einst- 
mals geofFenbart wurde. Es hatte sich ereignet, daB er Schmerzen 
leiden muBte unter dem Eindruck dieser inneren Erkenntnisse. Tief 
hatte es sich in seiner Seele abgelagert: die alten Wahrheiten wurden 
dem hebraischen Volke gegeben zu einer Zeit, da ihre Leiber so 
geartet waren, daB sie es verstehen konnten. Nun aber waren ihre 
Leiber nicht mehr wie zur Zeit der alten Propheten geeignet, das 
aufzunehmen. 

Ein Wort muB ausgesprochen werden, welches das ungeheuer 
schmerzliche Erlebnis im Leben Jesu charakterisiert; abstrakt trok- 
ken muB man es sagen, obgleich es ein ungeheuer einschneidendes 
Wort ist. Es gab in der hebraischen Zeit eine Sprache, die aus dem 
geistig-gottlichen Reiche herunter kam. Jetzt stieg, aus der Seele auf- 
leuchtend, die alte Sprache wieder auf, aber es war niemand da, der 
sie verstand. Tauben Ohren wiirde man predigen, wenn man von den 
groBten Lehren sprach. Das war das groBte Leid fur Jesus; das schil- 
derte er seiner Stiefmutter. 

Dann schilderte er ein zweites Ereignis, das er erlebt hatte auf den 
Wanderziigen wahrend seines achtzehnten bis vierundzwanzigsten 
Jahres in den Gegenden Palastinas, wo Heiden wohnten. Er zog 
herum und arbeitete im Schreinerhandwerk. Des Abends setzte er sich 
zu den Leuten. Es war ein Zusammensein, wie es die Leute mit kei- 
nem anderen erlebten. Durch den groBen Schmerz hatte sich bei ihm 
etwas ausgebildet, das sich zuletzt verwandelte in die Zauberkraft der 
Liebe, die jedes Wort durchstromte. Diese Zauberkraft der Worte 
wirkte im Gesprach mit den Leuten. Was als GroBes so wirkte, war, 
daB zwischen seinen Worten etwas wie eine geheimnisvolle Kraft sich 
ausgoB. Sie wirkte so bedeutsam, daB lange Zeit, nachdem er schon 
fort war, die Leute des Abends wieder zusammensaBen und es ihnen 
war, als ob er noch da sei, mehr da sei als blofi im Physischen. Die 
Leute saBen zusammen und hatten den Eindruck, hatten die gemein- 



same Vision, als ob er wiedererschiene. So blieb er an zahlreichen 
Orten wie lebendig unter den Leuten, er war geistig da. 

Einmal war er an einem Orte angekommen, wo ein alter heidnischer 
Kultaltar stand. Verfallen war der Opferaltar. Die Priester waren 
weggegangen, denn eine schlimme Krankheit hatte sich der Men- 
schen dort bemachtigt. Als Jesus dahin kam, liefen die Menschen zu- 
sammen. Jesus kundigte sich durch den von ihm hervorgerufenen Ein- 
druck schon an als etwas Besonderes. Die heidnischen Menschen waren 
herbeigeeilt, versammelten sich um den Altar und erwarteten, daB nun 
ein Priester wieder Opfer darbringen wiirde. - Das erzahlte Jesus 
seiner Stiefmutter. Er sah klar, was aus dem heidnischen Opferdienst 
geworden war. Er sah, indem er die Menschen uberblickte, was aus 
den heidnischen Gottern allmahlich geworden war: bose, damonen- 
artige Wesenheiten, die sah er damals. Dann fiel er hin und erlebte 
jetzt in einem anderen BewuBtseinszustand, was bei den heidnischen 
Opfern vorging. Nicht mehr waren, wie in fmheren Zeiten, die alten 
Gotter da, sondern damonische Wesenheiten traten in Erscheinung, 
die an den Leuten zehrten und sie krank machten. 

Das hatte er erlebt in einem anderen BewuBtseinszustand, nachdem 
er hingefallen war. Jetzt erzahlte er das alles, erzahlte auch, wie die 
Menschen geflohen waren, wie er aber auch die Damonen abziehen 
sah. Theoretisch kann man feststellen, daB das alte Heidentum ver- 
fallen war und nicht mehr die groBen Weistiimer der einstigen Zeit 
enthielt. Jesus aber erlebte dieses in unmittelbarer Anschauung. Jetzt 
konnte er der Mutter sagen: Kame auch die Himmelsstimme wieder 
herunter zu den Hebraern, wie sie einstmals zu den Propheten ge- 
kommen war, kein Mensch ware da, sie zu verstehen; aber auch die 
heidnischen Gotter kommen nicht mehr. An ihre Stelle sind Damonen 
getreten. Auch die heidnischen Offenbarungen finden heute keinen 
Menschen, der sie aufnehmen konnte. - Das war der zweite groBe 
Schmerz. 

In bewegten Worten schilderte er der Mutter den dritten groBen 
Schmerz, den er erlebt hatte, als er zugelassen worden war zu der 
Essaergemeinde. Diese wollte durch Vervollkommnung der einzelnen 
Menschenseelen sich zum Schauen hinaufarbeiten und so aus den gott- 



lichen Welten heraus das erfahren, was sonst wahrzunehmen unmog- 
Hch war fur den Juden und Heiden. Aber nur einzelne Menschen 
konnten dieses erfahren, und das war zu erringen durch jene Lebens- 
weise, welche unter den Essaern Platz gegriffen hatte. Doch hatte sich 
Jesus eine Zeitlang mit der okkulten Gemeinschaft der Essaer vereint. 
Als er sie verlieB, sah er Luzifer und Ahriman vom Essaertor in die 
iibrige Welt hinausfliehen. Auch hatte er in der Umfriedung der Essaer 
ein visionares Gesprach mit Buddha gehabt. Und jetzt wuBte er: eine 
Moglichkeit gibt es, hinaufzusteigen dahin, wo man sich vereinigt mit 
dem Gottlich-Geistigen, aber nur einzelne konnen es erreichen. Woll- 
ten es alle erringen, muBten alle verzichten. Auf Kosten der groBen 
Menge konnen es nur einige erringen, indem sie sich frei machen von 
Luzifer und Ahriman; aber dann gehen Luzifer und Ahriman zu der 
anderen Menschheit. Weder nach der Juden- noch nach der Heiden- 
noch Essaerweise war es moglich, der allgemeinen Menschheit den 
wesenhaften Zusammenhang mit der gottlich-geistigen Welt zu er- 
ofFnen. 

Wahrend dieses Gesprach stattfand, war mit all dem Schmerze ver- 
eint die ganze Seele des Jesus. Die ganze Kraft seines Ichs lag in diesen 
Worten. Es ging etwas von ihm hinweg und zur Adoptivmutter hin- 
iiber, so stark war er verbunden mit dem, was er erzahlte. Es ging mit 
dem Wort sein Wesen zur Mutter himiber, so daB er wie auBerhalb 
seines Ichs war, aus seinem Ich herausgetreten war. Die Mutter wurde 
dadurch etwas ganz anderes. Wahrend aus ihm etwas hinausgegangen 
war, hatte die Mutter ein neues Ich erhalten, das sich in sie hinein- 
gesenkt hatte, sie war eine neue Personlichkeit geworden. 

Forscht man nun nach und sucht herauszubekommen, worin der 
Vorgang bestand, so stellt sich ein Merkwiirdiges heraus : die leibliche 
Mutter dieses Jesus, die seit seinem zwolften Jahre in der geistigen 
Welt weilte, war nun mit ihrer Seele heruntergestiegen und durch- 
geistigte und erfiillte ganz die Seele der Adoptivmutter so, daB diese 
eine andere wurde. Ihm aber war, als ob sein Ich ihn verlassen hatte : 
das Zarathustra-Ich war in die geistige Welt hiniibergegangen. Unter 
dem Drange, etwas zu tun, ging Jesus, durch die innere Notwendig- 
keit getrieben, nun nach dem Jordan zu Johannes dem Taufer, dem 



Essaer. Und Johannes vollzog die Taufe im Jordan. Das Zarathustra- 
Ich war hinausgegangen und das Christus-Wesen senkte sich her- 
nieder : Er war durchdrungen worden mit der Christus-Wesenheit. Die 
Adoptivmutter war durchdrungen worden von der Seele jener Mutter, 
die in der geistigen Welt geweilt hatte. Er aber wandelte nun herum 
auf Erden, in den Leibern des Jesus, er, der Christus. Diese Verbin- 
dung war nicht gleich vollstandig da, beides geschah nach und nach. 

Ich werde die einzelnen Ereignisse erzahlen, aus denen gezeigt wer- 
den kann, wie der Christus anfangs nur lose verbunden war mit dem 
Jesusleibe und allmahlich immer fester mit ihm verbunden wurde. Hat 
man kennengelernt die Leiden und Schmerzen des Jesus von dem 
zwolften bis zum dreiBigsten Jahre, so lernt man erst jetzt die un- 
geheure Steigerung dieser Schmerzen des Jesus kennen, jetzt, da sich 
in den folgenden drei Jahren immer mehr mit dem Menschen der Gott 
verband. Diese fortdauernde, immer intensiver werdende Verbindung 
des Gottes mit dem Menschen war eine ebenso intensive Steigerung 
der Schmerzen. Das Unsagbare, das hat geschehen miissen, um der 
Menschheit den Aufstieg zu den geistigen Ursprungsmachten moglich 
zu machen, das zeigt sich an den Leiden des Gottes wahrend der drei 
Jahre, die er auf Erden weilte. 

Es ist nicht vorauszusehen, daB man in der Gegenwart viel Ver- 
standnis fur diese Begebenheiten haben wird. Es gibt ein Buch, das 
wegen seiner Paradoxie gelesen werden muJSte: «Vom Tode», von 
Maurice Maeterlinck. In diesem Buche wird gesagt, der Geist konne 
nicht leiden, nur der Korper kann leiden. In der Tat kann der phy- 
sische Leib ebensowenig leiden wie ein Stein. Physische Schmerzen 
sind seelische Schmerzen. Leiden kann nur das, was seelisch ist, was 
einen Astralleib hat. Deshalb kann ein Gott viel mehr leiden als ein 
Mensch. Der Christus hat bis zum Tode Leiden erfahren, die inten- 
sivsten bei der Verbindung des Christus mit der Jesuswesenheit. Den 
Tod hat er uberwunden, indem er in die Erdenaura uberging. 

Ich habe friiher in mehr abstrakter Weise geschildert, wie das Chri- 
stus-Ereignis im Mittelpunkt der Erdenentwickelung steht. Dieses 
wichtigste Ereignis verliert nichts, wenn man es in seiner konkreten 
Tatsachlichkeit betrachtet. Alles tritt lebensvoll hervor, wenn alle Tat- 



sachen geschilder t werden, nur muB es richtig geschaut werden. Wenn 
einmal das Fiinfte Evangelium da sein wird - die Menschheit wird es 
brauchen, vielleicht erst nach langer Zeit -, da wird man in verander- 
ter Weise dieses wichtigste Ereignis betrachten. Das Fiinfte Evange- 
lium wird ein Trost- und Gesundheitsbronnen, ein Kraftbuch sein. 
Am Schlusse des vierten Evangeliums stehen Worte, die darauf hin- 
weisen, daB noch weiteres kommen wird: Es wiirde die Welt die 
Biicher nicht fassen, die zu schreiben waren. - Das ist ein wahres 
Wort. Da kann man auf andere Weise Mut bekommen, dann, wenn 
sich neue Tatsachen iiber Palastina ergeben, denn auch die vier Evan- 
gelien sind eigentlich auf dieselbe Weise entstanden wie das fiinfte, 
nur daB dieses fiinfte zweitausend Jahre spater erscheint. 

Wenn einmal das Fiinfte Evangelium da sein wird, dann wird es sich 
in bezug auf die Entstehungsweise von den anderen nicht unterschei- 
den. Es werden aber Menschen da sein, die es nicht anerkennen wer- 
den, weil die Menschenseele egoistisch ist. Nehmen wir an, Shake- 
speares Werk « Hamlet » ware unbekannt und es trate heute « Hamlet » 
auf : heute wiirden die Menschen iiber ihn schimpfen. So wird sich das 
Fiinfte Evangelium durchzukampfen haben. Die Menschen brauchen 
etwas, was jene, die verstehen wollen, wirklich verstehen werden. 
Man wird nur anerkennen rmissen, daB, wie friiher, die OfFenbarungen 
allein aus dem Geiste kommen konnen. Die Mittel und Wege dazu 
sind aber andere. In dieser Beziehung hat unsere Zeit besondere Auf- 
gaben. 

In welche Zeit fiel das herein, was ich geschildert habe? Es konnte 
in keine andere Zeit hereinfallen, als in diejenige, in die es gefallen 
ist: in die vierte nachatlantische Periode. Ware es zum Beispiel in die 
dritte oder in die zweite gefallen, dann waren zahlreiche Menschen 
dagewesen, die unterrichtet waren in der Urweisheit der Inder, fur die 
die Weisheit ganz selbstverstandlich da gelegen hatte. Man hatte Chri- 
stus weniger verstanden in der persischen, noch weniger in der agyp- 
tischen Zeit. Aber ganz vorbei war das Verstandnis in der vierten 
Periode. Daher konnte die Lehre in die Gemiiter eindringen nur als 
Glaubenstatsache. Es war die schlechteste Zeit fur das Verstandnis, 
von welchem die Menschen am meisten entfernt waren. Aber die Wir- 



kungen des Christus hangen nicht ab von dem, was die Menschen 
verstehen konnen. Denn Christus ist nicht ein Weltenlehrer gewesen, 
sondern derjenige, der als geistige Wesenheit etwas verrichtet hat, der 
in die Erdenaura eingefiossen ist, um unter den Menschen zu leben. 
Sinnbildlich kann einem das vor die Seele treten, als die Frauen an das 
Grab kamen und ihnen von dem Geistwesen gesagt wurde : Der, den 
ihr suchet, ist nicht da! 

Dieses wiederholte sich, als eine groBe Schar von Europaern in den 
Kreuzziigen hiniiberzog nach dem Heiligen Grabe. Da zogen die Men- 
schen in die physischen Statten von Golgatha hiniiber. Ihnen wurde 
auch gesagt: Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hier! - denn er war 
ja nach Europa gezogen. Wahrend es die Pilger aus dem Herzen her- 
aus nach Asien trieb, begann Europa verstandesmaBig wach zu wer- 
den, aber das Christus- Verstandnis kam ins Schwinden. Erst im 1 2. Jahr- 
hundert trat das Verlangen nach Gottesbeweisen auf. Was bezeugt 
uns das fur die neuere Zeit? Haben Sie je notig, zu beweisen, wer der 
Dieb ist, wenn Sie diesen Dieb in Ihrem Garten erwischt haben? Sie 
brauchen Beweise nur dann, wenn Sie ihn nicht kennen. Gottes- 
beweise suchte man, als man das Verstandnis verloren hatte; denn 
was man weiB, braucht man sich nicht zu beweisen. 

Christus war da, durchzog die Seelen. Alles, was geschichtlich ge- 
schehen ist, ist unter dem EinfluB des Christus geschehen, weil die 
Seelen im Christus-Impulse lebten. Jetzt muB die Menschheit ein- 
treten in ein bewuBtes Ergreifen der Zeitereignisse. Darum muB die 
Menschheit den Christus noch besser kennenlernen. Damit verbunden 
ist die Erkenntnis des Menschen Jesus von Nazareth. Das wird im- 
mer mehr notwendig werden. Es ist nicht leicht, hieriiber zu spre- 
chen, aber es ist in gewisser Beziehung etwas, was sich in der Gegen- 
wart als hohere Pflicht darstellt: gerade iiber den Menschen Jesus von 
Nazareth zu einigen Seelen zu sprechen, dariiber zu sprechen, was wk 
das Fiinfte Evangelium nennen konnen. 



DAS FtfNFTE EVANGELIUM 



Stuttgart, 22. November 1913 
Erster Vbrtrag 

Wir haben ofter von der groBen, einschneidenden Bedeutung des 
Christus-Impulses fur die Menschheitsentwickelung der Erde gespro- 
chen, und wir haben versucht, das ganze Wesen dieses Christus-Im- 
pulses, das wir gewohnlich zusammenfassen in den Worten «das My- 
sterium von Golgatha», von den verschiedensten Seiten her zu cha- 
rakterisieren. Nun war es in der letzten Zeit meine Aufgabe, einiges 
wesentlich Konkreteres iiber dieses Mysterium von Golgatha und das, 
was damit zusammenhangt, zu erforschen, und es haben gerade diese 
Forschungen sich mir so dargestellt, daB sie es mir zur Pflicht machen, 
im Kreise unserer Freunde gerade jetzt in dieser unserer Zeit von den 
Ergebnissen dieser Forschungen auch zu sprechen. Es ist mir gelungen, 
aus dem, was man die Akasha-Chronik nennt und wovon wir ja ofter 
gesprochen haben, einiges Wichtige herauszugewinnen in bezug auf 
das Christus Jesus-Leben. 

Welche Umschwiinge der Menschheitsentwickelung in unserer Zeit 
sich vorbereiten, daniber haben wir gerade bier bei unseren letzten 
Zusammenkiinften mancherlei gesprochen, und es hangt wohl zusam- 
men gerade mit diesen Umschwiingen, daB es notwendig ist, im ge- 
genwartigen Zeitpunkt an einzelne Menschenseelen, die sich zusam- 
mengefunden haben in der anthroposophischen Bewegung, wie wir sie 
auffassen, an einzelne Menschenseelen gewissermaBen neue Daten 
iiber das Christus Jesus-Leben heranzubringen. Nur bitte ich Sie, das, 
was ich gerade in dieser Beziehung zu sagen habe, besonders diskret 
zu behandeln und es eine reine Angelegenheit innerhalb unserer 
Zweige sein zu lassen. Denn schon das Wenige, was bisher hat ver- 
offentlicht werden miissen iiber das Christus Jesus-Leben und was 
nicht bekannt war aus den Evangelien oder der Uberlieferung, schon 
das hat - ich will nicht einmal von den sonderbaren Kritikern spre- 
chen, die unserer Stromung iibel wollen, sondern sogar bei denen, die 
in einer gewissen Weise wenigstens einmal dieser Stromung Wohl- 



wollen entgegengebracht haben das hat eine gewisse Wildheit, eine 
wilde Leidenschaftlichkeit hervorgerufen, wie zum Beispiel die Ge- 
schichte der beiden Jesusknaben. Nichts scheint narnlich unserer Zeit 
so antipathisch, innerlich antipathisch zu sein, als das Aufmerksam- 
machen auf wirkliche Ergebnisse der Geistesforschung, auf konkrete 
einzelne Ergebnisse der Geistesforschung. Man nimmt es noch hin, 
wenn vom Geistigen im allgemeinen gesprochen wird, wenn auch ein- 
zelne merkwiirdige abstrakte Theorien iiber das Geistesleben vor- 
gebracht werden, Aber man will es nicht mehr hinnehmen, wenn 
Einzelheiten aus dem geistigen Leben so vorgebracht werden, wie 
man Einzelheiten aus dem Leben des physischen Planes vorbringt. 
Mancherlei, was in Verkniipfung gesagt werden muB mit dem, was 
ich vorzubringen habe, wird noch gesagt werden. Jetzt mochte ich 
zunachst von einem Punkte ab mit der Erzahlung selber beginnen, 
und ich bitte Sie, diese Erzahlung hinzunehmen wie eine Art Fiinftes 
Evangelium, das in unsere Zeit so hereinfallt, wie die vier anderen 
Evangelien in ihre Zeit hineingefallen sind. Nur das sei in wenigen 
Worten als Einleitung vorausgeschickt. Die weitere Motivierung wol- 
len wir dann morgen besprechen. 

Ich mochte beginnen mit dem Zeitpunkt, der im Lukas-Evangelium 
angegeben ist als das Auftreten des zwolf jahrigen Jesus in Jerusalem 
unter den Schriftgelehrten, wo er diesen Schriftgelehrten auffallt durch 
die groBen, gewaltigen Antworten, die er ihnen zu geben in der Lage 
war. So finden ihn, wie das Lukas-Evangelium dies erzahlt, seine An- 
gehorigen, die ihn verloren hatten. Wir wissen, daB dieses Auftreten 
darauf beruht, daB dazumal eine groBe, nur mit Hilfe der Geistes- 
wissenschaft zu verstehende Veranderung in dem Jesus-Leben vor sich 
gegangen ist. Wir wissen - das sei nur kurz wiederholt -, daB ungefahr 
im Beginne unserer Zeitrechnung zwei Jesusknaben geboren worden 
sind, daB der eine abstammt aus der sogenannten salomonischen Linie 
des Hauses David, daB in diesem Jesusknaben inkarniert war der Geist 
oder das Ich, konnen wir sagen, des Zarathustra. Wir wissen, daB die- 
ser Jesusknabe heranwuchs mit einer groBen Begabung, die begreif- 
lich erscheinen muB, wenn man eben die Tatsache kennt, daB dieser 
Jesusknabe in sich trug das Ich des Zarathustra. Wir wissen, daB 



ungefahr gleichzeitig der andere Jesusknabe geboren wurde aus der 
nathanischen Linie des Hauses David, daB dieser allerdings mit we- 
sentlich anderen Charakterziigen den physischen Plan betreten hatte 
als der Jesusknabe aus der salomonischen Linie. Wahrend dieser aus 
der salomonischen Linie besondere Begabung zeigte fur alles, was aus 
seiner Umgebung herein so wirkte, daB es seinen Ursprung zeigte aus 
der Menschheitskultur, bis zu dem Punkte, wohin diese Menschheits- 
kultur dazumal gekommen war, war eigentlich der andere Jesusknabe 
in bezug auf alles das, wozu es die Menschheit in ihrer Entwickelung 
gebracht hatte, unbegabt. Er konnte nicht recht sich hineinfinden in 
das, was man ihn lehren wollte von all dem, was die Menschen im 
Laufe der geschichtlichen Entwickelung sich erobert hatten. Dafur 
zeigte dieser Jesusknabe eine wunderbare Tiefe und Fulle des Herzens, 
des Gemutes, eine solche Fulle im Empfinden, daB sich ein Vergleich 
mit irgendeinem anderen Kinde bei demjenigen gewiB nicht finden 
wird, der den BHck hinlenkt Akasha-Chronik-maBig auf die Stelle 
unserer Menschheitsentwickelung, wo dieses Kind zu finden und zu 
beobachten ist. 

Dann wuchsen die beiden Knaben heran und eben in jenem Zeit- 
punkt, in dem sie beide ungefahr zwolf Jahre alt waren, da ging das 
Ich des Zarathustra aus dem einen Jesusknaben in den anderen hin- 
iiber, und jener Jesusknabe aus der nathanischen Linie war es dann, 
mit dem Ich des Zarathustra jetzt in sich, der die groBen, gewaltigen 
Antworten vor den Schriftgelehrten in Jerusalem gab. Da hatten sich 
vereinigt also jene eigentumliche Natur - man kann nicht anders 
sagen - des nathanischen Jesusknaben und das Ich des Zarathustra. 
Wir wissen dann auch - das ist ja von mir dargestellt worden bei 
fruheren Anlassen -, daB die leibliche Mutter des nathanischen Jesus- 
knaben bald dahinstarb, ebenso der Vater des anderen, und daB nun 
aus der Mutter des anderen Jesusknaben - der salomonische Jesus- 
knabe siechte auch bald dahin, weil er eigentlich ichlos war, wie ver- 
dorrt ~, daB nun aus der Mutter des salomonischen Jesusknaben und 
dem Vater des nathanischen Jesusknaben eine Familie wurde. Die 
Stiefgeschwister, die abstammten von der Mutter und dem Vater der 
salomonischen Linie, die kamen auch heriiber und lebten nun in 



Nazareth, und innerhalb dieser Familie, also mit seiner Stief- oder 
Ziehmutter, wuchs nun der Jesusknabe mit dem Zarathustra-Ich in 
sich heran, ohne da6 er selbstverstandlich in diesem Alter wuBte, daB 
er das Ich des Zarathustra in sich hatte. Er hatte die Fahigkeiten, die 
das Ich des Zarathustra haben muBte, in sich; aber er wuBte nicht etwa 
zu sagen: Ich habe das Ich des Zarathustra in mir. 

Dasjenige, was nun hervortrat, was sich schon angekundigt hatte 
in den groBen Antworten, die er den Schriftgelehrten gegeben hatte, 
was aber immer mehr und mehr hervortrat, das war — so muB ich 
schildern das Leben dieses Jesusknaben, das Leben etwa vom zwdlften 
bis achtzehnten Lebensjahre -, daB sich in seinem Inneren etwas wie 
eine innere Inspiration geltend machte, ein unmittelbares Wissen, das 
aufstieg in jhm, ein Wissen von ganz eigentiimlicher Art, ein Wissen, 
das unmittelbar wie naturgemaB bei ihm so war, daB er in seiner 
eigenen Seele etwas vernahm, wie die alten Propheten in der Urzeit 
des Judentums ihre gottlich-geistigen Offenbarungen empfangen hat- 
ten aus gottlich-geistigen Hohen, aus geistigen Welten. Man war ge- 
wohnt worden, in der Erinnerung jene Mitteilung, die einstmals den 
alten Propheten aus der geistigen Welt gekommen war, zu bezeichnen 
als die groBe Bath-Kol, als die Stimme aus der geistigen Welt, die 
groBe Bath-Kol. Wie wenn die groBe Bath-Kol wiederum in ihm, 
aber jetzt in ihm allein auferstanden ware, so kam es dem zwolf-, 
dreizehn-, vierzehn-, achtzehnjahrigen Jesusknaben vor, eine seltene, 
wunderbare Reife der inneren Inspiration, ein Auf leben jener inneren 
Erlebnisse, die nur die alten Propheten gehabt hatten. 

Was einem dabei besonders auffallt, wenn man den Blick Akasha- 
Chronik-maBig auf diese Stelle der Menschheitsentwickelung hin- 
richtet, das ist das, daB innerhalb der ganzen Familie und innerhalb 
der ganzen Umgebung in Nazareth dieser Knabe in verhaltnismaBiger 
Jugend mit dieser seiner inneren OfTenbarung, die iiber alles hinaus- 
ging, was dazumal andere wissen konnten, allein und einsam war. 
Auch die Stief- oder Ziehmutter verstand ihn in jener Zeit sehr 
schlecht, die anderen erst recht nicht. Und es kommt weniger darauf 
an bei der Beurteilung dieses Jesusknaben, sich allerlei Theorien zu 
bilden, sondern darauf, eine Mitempfindung zu haben, was es heiBt, 



ein reifer Knabe zu sein zwischen dem zwolften und achtzehnten 
Lebensjahre, etwas vollig Fremdes in sich aufsteigen zu fiihlen von 
Offenbarungen, die in der damaligen Zeit unmoglich waren fur irgend 
jemand anderen, und ganz allein zu stehen mit diesen Offenbarungen, 
zu niemandem sprechen zu konnen, ja, was mehr war: das Gefiihl 
haben zu miissen, daB einen niemand verstehen wiirde, wenn man zu 
ihm sprechen wiirde. Solche Dinge als Mann zu ertragen, ist schwie- 
rig; solche Dinge zwischen dem zwolften und achtzehnten Jahre zu 
erleben, ist etwas Ungeheueres. Zu diesem Ungeheueren kam ein 
anderes. 

Er hatte einen offenen Blick, dieser Jesusknabe, fur das, was ein 
Mensch in seiner Zeit fahig war aufzunehmen. Er sah schon dazumal 
mit ofTenen Augen der Seele, was die Menschen durch ihre Natur in 
sich aufnehmen und in sich verarbeiten konnten geistig-seelisch, und 
was sie gehabt hatten im Laufe der Jahrhunderte aus dem, was den 
Juden geoffenbart worden war von den alten Propheten. Tief schmerz- 
lich, mit allertiefstem Leid empfand er: Ja, so war es in Urzeiten, so 
hat die groBe Bath-Kol zu den Propheten gesprochen; das war eine 
urspriingliche Lehre, von der sparliche Reste geblieben sind unter den 
Pharisaern und anderen Schriftgelehrten. Wiirde jetzt die groBe Bath- 
Kol zu irgendeinem Menschen sprechen wollen: kein Mensch ware da, 
die Stimme aus der geistigen Welt zu verstehen. Anders ist es in der 
Menschheit geworden als zur Zeit der alten Propheten. Wenn auch 
jene groBen, jene gloriosen Offenbarungen der Urzeit heute ertonen 
wiirden: die Ohren fehlten, sie zu verstehen. Das trat immer wieder 
und wiederum vor die Seele dieses Jesusknaben und mit diesem Leid 
war er allein. 

Es ist unvergleichlich, das Gemiit hinzuwenden zu dem, was sich 
an Leiden, die so charakterisiert werden miissen, wie ich es eben ge- 
tan habe, in diesem Jesusknaben abspielte. Und man darf durchaus 
sagen: Mogen wir oftmals noch so Bedeutsames mehr theoretisch iiber 
das Mysterium von Golgatha geauBert haben, es wird wahrhaftig die 
GroBe der kosmischen oder historischen Gesichtspunkte gar nicht in 
den Schatten gestellt, wenn man die einzelnen konkreten Tatsachen 
immer mehr und mehr ins Auge faBt, wie sie sich darbieten eben nur 



in ihrer Tatsachlichkeit. Denn durch nichts als durch die Beobach- 
tung dieser Tatsachen kann man so sehr ins Auge fassen, wie der 
Gang der Menschheitsentwickelung war, wie eine Urweisheit vorhan- 
den war auch im jiidischen Volk und wie die Unmoglichkeit, diese 
Urweisheit zu verstehen, da war in der Zeit, als sie nur wie, man 
mochte sagen, probeweise in einer einzelnen Seele zwischen deren 
zwolftem und achtzehntem Lebensjahre neuerdings auf leuchtete, aber 
nur dieser Seele zur Qual, weil sie niemand hatte verstandlich werden 
konnen, wie sich diese Bath-Kol geauBert hatte, wie fur diese Seele 
diese Offenbarung nur zur unendlichen Qual da war. Ganz mit sich 
allein war der Knabe mit diesen Erlebnissen, die sozusagen das Leid 
der geschichtlichen Menschheitsentwickelung in einer solchen Kon- 
zentration darstellten. 

Nun entwickelte sich in dem Knaben etwas, was man, ich mochte 
sagen, in seinen Rudimenten da und dort im Leben schon beobachten 
kann, was man sich nur unendlich vergroBert denken muB in bezug 
auf das Jesus-Leben. Schmerz, Leid, die aus ahnlichen Quellen heraus 
erlebt werden wie diejenigen, die jetzt geschildert worden sind, ver- 
wandeln sich in der Seele, verwandeln sich so, daB der, der solche 
Schmerzen, solches Leid erfahren kann bei sich, diese Schmerzen und 
dieses Leid wie selbstverstandlich verwandelt in Wohlwollen, in 
Liebe, aber nicht bloB in Gefuhle des Wohlwollens und Gefuhle der 
Liebe, sondern in die Kraft, in eine ungeheure Kraft der Liebe, in die 
Moglichkeit, diese Liebe geistig-seelisch darzuleben. Und so ent- 
wickelte sich schon, indem der Jesus heranwuchs, in ihm etwas ganz 
Eigentumliches . 

Trotzdem seine Geschwister, seine nachste Umgebung ihn anfein- 
deten, weil sie ihn nicht verstehen konnten und ihn als einen betrach- 
teten, der nicht recht bei sich ist, so war doch das nicht abzuleugnen - 
denn es zeigte sich dazumal fur das auBere physische Auge, es zeigt 
sich jetzt fur den Akasha-Chronik-maBigen Blick -, daB, wo dieser 
junge Knabe hinkam, mit irgend jemand sprach, wenn man ihn auch 
nicht verstehen konnte, man aber wenigstens einging auf das, was er 
sagte, daB da etwas wie ein tatsachliches UberflieBen eines gewissen 
Etwas von des Jesus Seele in die andere Seele vorhanden war. Wie das 



Hiniibergehen eines Fluidums des Wohlwollens, der Liebe war es, was 
ausstromte. Das war das verwandelte Leid, der verwandelte Schmerz. 
Wie ein wohltuender Liebeshauch kam es heran an diejenigen, die mit 
dem Jesus in Beriihrung kamen, schon in der damaligen Zeit, so daB 
man empfand, man habe etwas Besonderes vor sich, indem man ihm 
in irgendeiner Weise gegeniiberstand. Wie eine Art Schreinerhand- 
werk oder Zimmermannshandwerk war es, das er verrichtete im Hause 
des Vaters, in dem Jesus emsig arbeitete. Aber in den Stunden, in 
denen er zu sich kam, da spielte sich ab, was ich eben charakterisiert 
habe. Das waren - die innerlichen Erlebnisse sind dabei das Wesent- 
liche - die inneren Erlebnisse des Jesus von Nazareth, sagen wir 
zwischen dem zwolften und sechzehnten oder achtzehnten Lebens- 
jahre. 

Dann fing fur ihn an eine Art von Wanderzeit zwischen dem acht- 
zehnten und vierundzwanzigsten Lebensjahre. Da wanderte er viel 
herum, arbeitete da und dort in dem Handwerk, das er auch zuhause 
trieb, kam in jiidische, kam aber auch in heidnische Gegenden. Schon 
dazumal zeigte sich in eigenartiger Weise etwas sehr Sonderbares als 
Wirkung seiner Erlebnisse in den friiheren Jahren im Verkehr mit den 
Menschen, mit denen er zusammenkam. Und das ist wichtig, daB man 
dieses auch berucksichtigt, denn nur durch die Berucksichtigung ge- 
rade dieses Zuges dringt man tiefer ein in das, was dazumal eigent- 
lich geschah in der Menschheitsentwickelung. 

Er kam da arbeitend, ich mochte sagen, von Statte zu Statte da- und 
dorthin in die Familien. Nach Feierabend, wie wir heute sagen wiir- 
den, saB er mit den Familien zusammen, und da verspiirte man iiberall 
jenen Zug des Wohlwollens, der Liebe, von dessen Entwickelung ich 
gesprochen habe. Das empfand man alliiberall, aber man empfand es 
sozusagen durch die Tat; denn iiberall, wo er war, hatte man dazumal 
in den Jahren, wo er herumreiste zwischen dem achtzehnten und 
vierundzwanzigsten Jahre das Gefuhl: Da sitzt wirklich ein beson- 
deres Wesen. - Man driickte das nicht immer aus, aber man hatte das 
Gefuhl : Da sitzt ein besonderes Wesen unter uns. - Und das auBerte 
sich dadurch, daB, wenn er wiederum fortgezogen war von dem Orte, 
so wurde nicht etwa bloB wochenlang nur davon gesprochen, was 



zwischen ihm und den anderen geredet worden war, sondern haufig 
stellte es sich so heraus : Wenn die Leute, wahrend er fort war, dann 
abendlich zusammensaBen, hatten sie das Gefiihl, er komme herein. 
Es war eine gemeinsame Vision. Sie hatten das Gefiihl : Er ist wieder- 
um unter uns. - Und das geschah an vielen, vielen Orten, daB er weg- 
gegangen war und doch im Grunde genommen noch da war, geistig 
den Leuten erschien, unter den Leuten geistig lebte, so daB sie wuBten: 
Wir sitzen mit ihm zusammen. 

Wie gesagt, es war eine Vision in bezug auf das Subjektive; in be- 
zug auf das Objektive war es die ungeheure Wirkung der Liebe, die 
er in der geschilderten Weise geauBert hatte, und die sich so auBerte, 
daB der Ort seiner Erscheinung in gewisser Weise nicht mehr an den 
auBeren physischen Raum gebunden war, an die auBeren physischen 
Raumverhaltnisse des menschlichen physischen Leibes gebunden war. 
Es wirkt ungeheuer stark zum Verstandnis der Jesus-Gestalt, dieses 
immer wieder und wiederum zu sehen, wie er unausloschlich bei den- 
jenigen ist, bei denen er einmal eingekehrt war, wie er gewissermaBen 
geistig bei ihnen blieb und wiederum zu ihnen zuriickkehrte. Unter 
denen er einmal war, die verloren ihn nicht wiederum aus ihren Her- 
zen heraus. 

Nun kam er bei dieser Wanderung auch in heidnische Gegenden, 
sagte ich, und in einer heidnischen Gegend machte er nun eine ganz 
besondere Erfahrung. Diese Erfahrung macht beim Akasha-Chronik- 
maBigen Hinblick auf diese Stelle der Menschheitsentwickelung einen 
ganz besonders tiefen Eindruck. Er kam in eine heidnische Gegend. 
Ich bemerke an dieser Stelle ausdrucklich : Wenn Sie mich fragen, wo 
das war, wo er da hinkam, so muB ich Ihnen heute noch sagen: Das 
weiB ich nicht. Vielleicht werden spatere Erforschungen ergeben, wo 
das war, aber den geographischen Ort aufzufinden ist mir noch nicht 
gelungen. Aber die Tatsache ist absolut klar. Es kann Grunde geben, 
warum man nicht auf den geographischen Ort kommen kann, warum 
aber die Tatsache selbst absolut klar sein kann. Ich mochte Ihnen 
namlich, gerade indem ich diese Dinge erzahle, in keinem Augenblick 
vorenthalten auch das Eingestandnis dessen, was in dieser Sache noch 
nicht erforscht ist, damit Sie sehen, daB es mir wirklich bei dieser 



Sache darum zu tun ist, in exakter Weise nur das rnitzuteilen, wofiir 
ich durchaus einzustehen in der Lage bin. 

Er kam also an einen heidnischen Ort. Da war eine verfallene Kult- 
statte. Die Priester dieses Ortes hatten langst den Ort verlassen; aber 
das Volk ringsumher war im tiefen Elend, von Krankheiten heim- 
gesucht. Gerade weil eine bose Krankheit dort wiitete, haben die 
heidnischen Priester aus diesen und anderen Griinden die Kultstatte 
verlassen. Das Volk fuhlte sich nicht nur krank, elend, muhselig und 
beladen, sondern auch verlassen von den Priestern, die die heidnischen 
Opfer vollbracht hatten, und litt furchtbare Qualen. Nun kam er her 
in diese Gegend. Es war das gegen sein vierundzwanzigstes Lebens- 
jahr. Es war damals schon in hohem Grade in ihm das der Fall, daB 
er durch sein bloBes Erscheinen einen ganz besonderen, einen gewal- 
tigen Eindruck machte, auch wenn er gar nicht einmal sprach, son- 
dern wenn man ihn nur herankommen sah. Es ist wirklich mit dieser 
Jesus-Erscheinung etwas ganz Besonderes fur die damaligen Menschen, 
unter denen er auftrat. Man fuhlte bei seinem Herannahen ganz Un- 
glaubliches. Man muB damit rechnen, daB man es ja mit Menschen 
eines ganz anderen Zeitalters und einer anderen Gegend zu tun hat. 
Wenn er herankam, so sieht man die Menschen fiihlen : Da ist etwas 
ganz Besonderes, da stromt aus von dieser Wesenheit etwas, was von 
keinem anderen Menschen ausstromt. - Das fuhlte sozusagen fast 
jeder; der eine fuhlte es sympathisch, der andere unsympathisch. Nun 
ist es nicht zu verwundern, daB sich da zeigte, daB gewissermaBen wie 
ein Lauffeuer sich verbreitete: Da kommt ein besonderes Wesen 
heran! - Und jene Menschen um den Opferaltar herum glaubten, 
irgendein alter Heidenpriester wiirde wiederum kommen oder er hatte 
einen anderen geschickt, damit der Opferdienst wieder verrichtet 
wiirde. Und immer zahlreicher wurde die Menge, die sich ansammelte ; 
derm wie ein Lauffeuer verbreitete sich, daB da eine ganz besondere 
Wesenheit angekommen sei. Jesus hatte, als er die Menge sah, mit ihr 
ein unendKches Erbarmen, aber er hatte nicht den Willen, obwohl 
man es sturmisch verlangte, das Opfer wieder zu verrichten, nicht den 
Willen, dieses heidnische Opfer zu verrichten. Aber dafiir, als er diese 
Menge sah, da lud sich auf seine Seele ebenso der Schmerz iiber das 



verfallene Heidentum, wie sich in den Jahren vom zwolften bis zum 
sechzehnten, achtzehnten Lebensjahre der Schmerz uber das verfallene 
Judentum abgeladen hatte. Und als er hinsah uber die Menge, da sah 
er unter der Menge uberall, und endlich auch an dem Opferaltar, an 
dem er stand, damonische elementarische Wesenheiten. Wie tot fiel er 
hin; aber dieses Hinfallen geschah nur aus dem Grunde, weil er in 
einen weltentriickten Zustand verfiel durch diesen schauervollen 
Anblick, den er gehabt hatte. 

Wahrend er so da lag, wie tot, ergriff das Volk Furcht. Die Men- 
schen fingen an zu fliehen. Er aber hatte, wahrend er in einem ande- 
ren Zustande da lag, die Erscheinung des Entriicktseins in jene gei- 
stige Welt, die ihm veranschaulichte, wie das uralte Heidentum war, 
als in den alten Mysterien in ihrer ursprunglichen heiligen Art die 
Urweisheit des Heidentums in den Opferhandlungen der Heiden noch 
vorhanden war. Ihm ofTenbarte sich, wie das Heidentum in der Urzeit 
war, wie es sich ihm friiher auf die andere Art geoffenbart hatte, wie 
das Judentum war. Aber wie das auf geistig-seelische, unsichtbare Art 
geschah, wie da aufstieg das, was an Inspiration, wie sie zu den alten 
Propheten gekommen war, zu ihm sprechen wollte, so muBte er auf 
andere Art die GroBe des Heidentums erfahren, muBte schauen das, 
was man nur so bezeichnen kann, daB man sagt: Er sah, wie er da lag, 
die heidnischen Opferstatten, die in ihrer Kulteinrichtung so waren, 
daB sie ein Ergebnis waren der ursprunglichen MysterienofFenbarun- 
gen, eigentlich waren wie die auBere Darstellung der Mysterienhand- 
lung. An diesen Opferstatten ergossen sich, wenn die Opfer verrichtet 
wurden, in die Gebete der Menschen hinein wahrend der alten Zeiten, 
wo das noch in richtiger Gestalt vorhanden war, da ergossen sich hin- 
ein die Machte jener geistigen Wesenheiten aus der Reihe der hoheren 
Hierarchien, zu denen die Heiden sich erheben konnten. Gleichsam 
stand visionar vor seiner Seele: Ja, wenn einstmals an einem solchen 
Altar, in den Zeiten, in denen das Heidentum in seiner alten Bliite 
stand, Opfer verrichtet wurden, dann stromten herab in die Opfer- 
handlungen hinein die Krafte der guten heidnischen Gotter. Aber 
jetzt - jetzt nicht durch eine Inspiration, sondern durch eine unmittel- 
bare Imagination - muBte er in groBer Lebendigkeit den Verfall des 



Heidentums erleben. Das muBte er nun erleben, auch des Heidentums 
Verf all ! Und statt wie friiher in die Opferhandlungen hineinstromten 
die guten Machte, lebten jetzt damonische elementarische Wesen- 
heiten auf, allerlei elementarische Sendlinge von Luzifer und Ahriman. 
Die schaute er jetzt, und das war die Art, wie ihm der Herabstieg des 
Heidentums vor das geistig-seelische Auge trat. 

Das war die zweite Art des groBen Schmerzes, daB er sich sagen 
konnte: Einstmals hatten die Heiden Kulthandlungen, welche die 
Menschheit verbanden mit den guten Wesenheiten gewisser Hier- 
archien. Das ist so in die Dekadenz, in die Korruption gekommen, 
daB es schon Statten gibt wie diese, wo alle guten Krafte sich in damo- 
nische Krafte verwandelt haben, daB es so weit gekommen ist, daB das 
Volk ringsherum verlassen war von den alten heidnischen Gottern. 
Also auf andere Art trat ihm der Verfall des Heidentums vor die 
Seele als beim Judentum, in innerlicher, viel anschaulicherer Weise. 

Man muB in der Tat ein wenig den Unterschied kennen im Fiihlen 
und Empfinden zwischen dem, wenn dieses Fiihlen und Empfinden 
der AusfluB ist eines solchen unmittelbaren imaginativen Erlebens 
oder eines theoretischen Erkennens. Man bekommt in der Tat durch 
das Hinrichten des Blickes an diesen Punkt der Akasha-Chronik den 
Eindruck eines unendlich bedeutungsvollen, aber unendlich schmerz- 
lichen Erlebens der Entwickelungsgeschichte der Menschheit, die sich 
wiederum in diesen imaginativen Augenblick zusammendrangt. 

Er wuBte jetzt: So lebten gottlich-geistige Krafte einstmals unter 
den Heiden; aber wenn sie auch jetzt lebten, es waren keine Menschen 
und keine Moglichkeiten da, daB die Menschen wirklich jenes alte 
Verhaltnis wiederum herstellten. Diesen Jammer der Menschheit, in 
eine kurze Erfahrung konzentriert, zusammengedrangt, das erlebte 
er jetzt. Und als er sich so erhob zum Wahrnehmen dessen, was einst- 
mals in den guten, in den besten alten Blutezeiten des Heidentums 
geoffenbart worden war, da horte er Worte - so kann man es sagen 
welche ihm sich erfiihlten wie das Geheimnis des ganzen Menschen- 
lebens auf Erden und seines Zusammenhanges mit den gottlich- 
geistigen Wesenheiten. Ich konnte nicht anders, als das, was da in 
die Seele hereinsprach des hingefallenen, wie toten Jesus, der anfing, 



gerade in diesem Moment wiederum zu sich zu kommen, ich konnte 
nicht anders, als das in der folgenden Weise in Worte unserer deut- 
schen Sprache zu bringen. Und ich muBte aus gewissen Gninden 
heraus diese Worte zuerst unseren damals versammelten Freunden 
mitteilen, als wir den Grundstein fur unseren Dornacher Bau legten. 
Das, was dazumal gehort wurde, wie Urweisheit wird es sich in deut- 
schen Worten so ausdriicken: 

Amen 

Es walten die libel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wille 

Indem der Mensch sich schied von Eurem Reiche 

Und vergaB Eure Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Sie sehen, meine lieben Freunde, es ist etwas Ahnliches wie ein um- 
gekehrtes Vaterunser, aber so muB man es haben : 

Amen 

Es walten die Ubel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wille 

Indem der Mensch sich schied von Eurem Reiche 

Und vergaB Eure Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Nachdem ihm dies erschienen war wie das Geheimnis des Menschen- 
seins auf Erden und seines Zusammenhanges mit dem gottlich-gei- 
stigen Sein, kam er wieder zuriick zu sich und sah noch die fliehenden 
Damonen und die fliehenden Menschen. Er hatte jetzt hinter sich einen 
groBen Lebensaugenblick. Er wuBte jetzt auch, wie es stand mit der 
Entwickelung der Menschheit in Beziehung auf das Heidentum. Er 



konnte sich sagen: Auch in den weiten Gebieten des Heidentums ist 
absteigende Entwickelung. - Er hatte diese Erkenntnis nicht durch 
auBere Beobachtung, sondern durch Beobachtung der Seele gewon- 
nen, diese Erkenntnis, die ihm zeigte: Heidentum wie Judentum 
bediirfen etwas ganz Neuem, eines ganz neuen Impulses ! 

Wir mussen festhalten, da8 er diese Erfahrungen machte. Er hatte 
zwar das Zarathustra-Ich in sich ; aber er wuBte nicht, daB er es in sich 
hatte, auch dazumal noch nicht. So daB er Erfahrungen machte als 
Erfahrung, da nicht ein Lehrer da war, der es ihm theoretisch hatte 
erklaren konnen; er machte diese Erfahrungen als Erfahrung. 

Bald nachdem er diese Erfahrung in bezug auf das Heidentum ge- 
macht hatte, trat er seine Heimreise an. Es war so um das vierund- 
zwanzigste Lebensjahr. Als er nach Hause kam, da war ungefahr die 
Zeit, in der sein Vater starb, und jetzt lebte er mit der Familie und 
mit der Stief- oder Ziehmutter wiederum in Nazareth. Das Eigentiim- 
liche stellte sich heraus, daB ihn ja die anderen alle immer weniger 
und weniger verstanden. Nur seine Stief- oder Ziehmutter hatte sich 
doch immer mehr und mehr heranerzogen zu einem gewissen Gemuts- 
oder Liebesverstandnis fur das Ungeheure - wenn es auch nicht be- 
sonders vollstandig war in der damaligen Zeit -, das in dieser Seele 
vorging. Und so konnte zuweilen, wenn auch die Mutter noch weit 
davon entfernt war, ihn intimer zu verstehen, doch immerhin manches 
Wort zwischen ihnen gewechselt werden, auch wenn es in bezug auf 
das, was der Jesus fiihlte, noch oberflachlich war, so daB die Mutter 
immer mehr und mehr heranwuchs zu dem, was in der Jesus- Seele lebte. 

Wahrend dieser Zeit machte er aber noch eine besondere Erfah- 
rung, die ihm das dritte groBe Leid brachte. In der Zeit zwischen 
seinem vierundzwanzigsten und so gegen das dreiBigste Jahr hin kam 
er immer mehr in Zusammenhang mit einer Gemeinschaft, die sich 
seit langerer Zeit schon gebildet hatte, mit der Essaergemeinschaft. 
Diese Essaergemeinschaft bestand aus Leuten, die erkannten, daB 
eine gewisse Krisis in der Menschheitsgeschichte da war, daB Juden- 
tum und Heidentum in ihrer absteigenden Entwickelung angekom- 
men waren auf einem Punkt, wo die Menschen einen neuen Weg 
suchen mussen, um wiederum die Vereinigung zu finden mit der 



gottlich-geistigen Welt. Und es war im Verhaltnis zu den alten Myste- 
rienmethoden im Grunde genommen doch etwas Neues, was in der 
Lebensweise lag, die die Essaer suchten, um wiederum hinaufzukom- 
men zur Vereinigung mit der gottlich-geistigen Welt. Besonders 
strenge Lebensregeln hatten diese Essaer, um nach einem entsagungs- 
vollen, hingebungsvollen Leben, nach einem Leben, das weit hinaus- 
ging iiber blofie seelische und intellektuelle Vervollkommnung, die 
Vereinigung mit dem Gottlich-Geistigen wiederum zu suchen. 

Diese Essaer waren im Grunde genommen sogar ziemlich zahlreich 
in jener Zeit. Ihren Hauptsitz hatten sie am Toten Meere. Aber sie 
hatten iiberall einzelne Niederlassungen in den Gegenden Vorder- 
asiens, und ihre Zahl vermehrte sich so, daB da und dort irgend jemand 
durch Verhaltnisse, die ja auf solchem Gebiete immer kommen, ergrif- 
fen wurde von der Essaeridee, von dem Essaerideale sich gedrangt 
fiihlte, sich zu den Essaern zu schlagen. Ein solcher muBte dann alles 
das, was sein Eigen war, hingeben an den Orden, und der Orden hatte 
fur seine Mitglieder strenge Regeln. Ein Einzeleigentum konnte der- 
jenige nicht behalten, der in dem Orden war. Nun hatte der eine da 
oder dort diese oder jene kleine Besitzung. Wenn er Essaer wurde, 
fiel diese Besitzung, die vielleicht weit weg war, den Essaern zu, so 
daB die Essaer solche Besitzungen iiberall hatten. Da schickten sie 
gewohnlich jungere Bruder hin, nicht denjenigen, von dem der Besitz 
stammte. Aus dem gemeinsamen Besitz konnte jeder jeden, der fur 
wiirdig erachtet werden muBte, unterstiitzen, eine MaBregel, der man 
am allerbesten ansieht, daB zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes der 
Menschheit frommt, weil eine solche MaBregel in unserer Zeit eine 
unendliche Harte ware. Eine solche gab es aber fur die Essaer. Die 
bestand darin, daB jeder befugt war, zu unterstiitzen aus dem gemein- 
samen Gut Menschen, die er fur wiirdig hielt, niemals aber solche, 
die mit ihm verwandt waren. Das war streng ausgeschlossen, nicht 
nachste und nicht feme Verwandte. In dem Orden selbst gab es ver- 
schiedene Grade. Der hochste Grad war ein sehr geheimer Grad. Man 
konnte sehr schwer zu ihm zugelassen werden. 

Es ist nun wirklich so, daB in dieser Zeit in bezug auf das Jesus- 
leben Jesus schon so war, daB in ungeheurem Grade das bei ihm vor- 



handen war, was ich geschildert habe als ein Fluidum, das von ihm 
ausging, das auf die Menschen wirkte wie die verkorperte Liebe sel- 
ber, mochte man sagen. Das wirkte auch auf die Essaer, und so kam 
es, daB er, ohne eigentlich formell Essaer zu sein, an die Essaer- 
gemeinschaft herangezogen wurde. Zwischen dem vierundzwanzig- 
sten und dreiBigsten Lebensjahre wurde er so sehr mit den Essaern 
bekannt, daB wir sagen konnen : Manches, was er mit ihnen erlebt und 
besprochen hat, was ihre tiefsten Geheimnisse waren, hatte er gelernt. 

Was einstmals das Gloriose des Judentums war, von dem erfuhr er 
zwischen dem zwolften und achtzehnten Lebensjahre; was das Ge- 
heimnis der Heiden war, das lernte er kennen zwischen dem acht- 
zehnten und vierundzwanzigsten Lebensjahr. So lernte er jetzt, indem 
er mit den Essaern unmittelbar umging, indem sie ihn teilnehmen 
lieBen an ihren Geheimnissen, das Geheimnis des Essaers kennen, wie 
er sich hinaufentwickelte zu einer gewissen Vereinigung mit der gott- 
lich-geistigen Welt. Da konnte er sich sagen : J a, da ist etwas wie ein 
Weg, um wiederum zuruckzufinden zu dem, was der Zusammenhang 
mit dem Gottlich-Geistigen ist. - Und man sieht wirklich, nachdem er 
zwiefach geplagt war, in bezug auf das Judentum und das Heidentum 
zwiefach geplagt war, wie ihm manchmal aufdammerte, wahrend er 
so unter den Essaern weilte, etwas wie die frohliche Zuversicht, man 
konne doch wiederum einen Weg finden da hinauf. Aber von dieser 
frohlichen Zuversicht sollte ihn die Erfahrung bald abbringen. 

Da erfuhr er etwas, was wiederum nicht theoretisch erfahren wurde, 
wiederum nicht als Lehre erfahren wurde, sondern in unmittelbarem 
Leben. Als er einstmals ging, nachdem er eben mit den Essaern ver- 
eint war, durch das Tor der Essaer, hatte er eine gewaltige, eine tief 
in seine Seele eingreifende Vision. In unmittelbarer Gegenwart sah er, 
wie vom Tore der Essaer wie fluchtartig weggingen zwei Gestalten, 
von denen ihm damals schon in gewisser Weise klar war : Luzifer und 
Ahriman sind es; sie rannten gleichsam weg vom Tore der Essaer. 
Diese Vision hatte er dann dfter, wenn er durch Essaertore ging. 
Essaer waren damals ja schon ziemlich zahlreich, und man muBte auf 
sie Rucksicht nehmen. Nun durften die Essaer - es hing das zusam- 
men mit der Art, wie sie ihre Seele pragen muBten - nicht durch die 



gebrauchlichen Tore gehen, die bemalt waren. Der Essaer durfte 
durch kein Tor gehen, das in der damaligen Weise bemalt war. Er 
durfte nur durch unbemalte Tore gehen. Ein solches Tor hatte man in 
Jerusalem, in anderen Stadten auch. Durch ein bemaltes Tor durfte 
der Essaer nicht gehen. Es ist das ein Beweis, daB die Essaer damals 
ziemlich zahlreich waren. Der Jesus kam an einzelne dieser Tore, 
und da wiederholte sich ihm sehr haufig die Erscheinung, Bilder sind 
nicht da, sagte er sich; aber statt der Bilder sah er Luzifer und Ahriman 
am Tore stehen. Da bildete sich in seiner Seele - was man eben nur 
unter dem Aspekt des geistig-seelischen Erlebens nehmen muB, urn es 
voll zu wiirdigen; indem ich es so sage, es theoretisch schildere, ist 
es natiirlich leicht hinzunehmen, aber man muB eben bedenken, wie 
das Gemiitserleben sich gestaltet, wenn man diese Dinge in unmittel- 
barer geistiger Wirklichkeit erlebt -, es bildete sich durch dieses Er- 
leben in ihm heraus, lassen Sie mich das Wort wiederholen, das ich 
schon gebraucht habe : die Erlebnisiiberzeugung, die nur so ausgespro- 
chen werden kann, daB er sich sagen konnte: Es scheint, als ob der 
Essaerweg derjenige ware, das hat sich mir verschiedentlich gezeigt, 
auf welchem man durch eine Vervollkommnung der individuellen 
Seele den Weg wiederum zuriickfinden konnte in die gottlich-gei- 
stigen Welten; aber das wird auf Kosten dessen erlangt, daB die Essaer 
ihre Lebensweise so einrichten, daB sie sich feme halten von allem, 
was in irgendeiner Weise Luzifer und Ahriman an sie herankommen 
lassen wiirde. - Sie richteten alles so ein, daB Luzifer und Ahriman 
nicht an sie herankommen konnten. So muBten Luzifer und Ahriman 
vor dem Tore stehen. Und jetzt wuBte er auch, indem er das Ganze 
geistig verfolgte, wohin Luzifer und Ahriman immer gingen. Zu den 
anderen Menschen drauBen gingen sie, die nicht den Essaerweg ma- 
chen konnten ! Das schlug furchtbar in sein Gemiit ein, ein starkeres 
Leid noch gebend als die anderen Erlebnisse. Es schlug furchtbar ein, 
daB er sich erlebend sagen muBte: Ja, der Essaerweg konnte Einzelne 
hinauffuhren, und zwar nur dann, wenn sich diese Einzelnen einem 
Leben widmen, das der ganzen Menschheit nicht zuteil werden kann, 
das nur moglich ist, wenn einzelne sich aussondern und Luzifer und 
Ahriman fliehen, die gerade dann zur groBen Menge hingehen. 



So lag es auf seiner Seele, wie wieder erleben konnten einzelne 
wenige, was die alten Propheten erlebt hatten aus der groBen Bath- 
Kol, das, was den Heiden erschienen ist beim alten Opfer. Wenn das, 
was die Nachkommen der Heiden und Juden nicht mehr erleben 
konnen, wenn das einzelne auf dem Essaerweg erlangen wiirden, 
dann ware die notwendige Folge diese, daB die groBe iibrige Masse 
um so mehr von Luzifer und Ahriman und ihren Damonen befallen 
wiirde. Denn die Essaer erkaufen sich ihre Vervollkommnung da- 
durch, daB sie Luzifer und Ahriman, die so fliehen, den anderen 
Menschen zuschicken. Auf Kosten der anderen erlangen sie ihre Voll- 
kommenheit, denn ihr Weg ist so, daB er nur von einem kleinen 
Hauflein eingeschlagen werden kann. Das war das, was Jesus jetzt 
erfuhr. Das war der dritte groBe Schmerz, der sich ihm noch besonders 
dadurch befestigte, daB er wie heraus aus seinen Essaererfahrungen, 
in der Lebensgemeinschaft der Essaer selber drinnen, etwas wie ein 
visionares Gesprach mit dem Buddha hatte, dessen Gemeinschaft, 
engere Gemeinschaft ja viel Ahnliches hatte mit dem Essaertum, nur 
um Jahrhunderte alter war -, daB ihm der Buddha damals ofTenbarte 
aus der geistigen Welt heraus : Eine solche Gemeinschaft kann doch 
eben nur da sein, wenn nicht alle Menschen, sondern nur ein kleines 
Hauflein an ihr teilnehmen. - Es nimmt sich wiederum fast primitiv 
aus, wenn man sagt: Der Buddha eroffnete dem Jesus, daB mit der 
Opferschale nur dann die Buddhamdnche herumgehen konnen, wenn 
nur wenige solche Monche da sind und die anderen es gewisser- 
maBen biiBen mit einem anderen Leben. Das nimmt sich primitiv 
aus, wenn man es so sagt. Aber etwas anderes ist es, wenn die ver- 
antwortliche geistige Macht, wie hier der Buddha, dieses in einer Lage 
offenbart, in der jetzt der Jesus von Nazareth war. 

Und so hatte in dem Leben zwischen dem zwolften und dem drei- 
Bigsten Lebensjahre dreifach im Leiden erlebt der Jesus von Nazareth 
die Entwickelung der Menschheit bis ins einzelne herein. Was jetzt 
in seiner Seele lebte, was sich zusammengedrangt hatte in dieser Seele, 
das konnte er so nach dem neunundzwanzigsten Jahre, nachdem die 
Stief- oder Ziehmutter nach und nach sich zum Verstandnis seines 
Wesens emporgerungen hatte, ihm nahegekommen war, in einem 



Gesprach mit dieser Mutter entwickeln. Und wichtig, unendlich wich- 
tig wurde nun ein Gesprach des Jesus von Nazareth so gegen sein 
dreifiigstes Lebensjahr mit seiner Stief- oder Ziehmutter, ein Ge- 
sprach, das gefuhrt worden war, in dem zum Ausdruck kam wirklich 
wie in wenige Stunden zusammengegossen alles das, was die Erleb- 
nisse dieser Jahre des Jesus von Nazareth waren, und das bedeutsam 
wurde dadurch, da3 es so war. Unter den geistigen Erfahrungen gibt 
es wenige, die so bedeutsam sind, wenigstens fur eine gewisse Stufe 
des geistigen Erlebens, als diese, die man hat, wenn man den Blick 
hinrichtet auf das, was nun der Jesus von Nazareth mit seiner Stief- 
oder Ziehmutter zu sprechen hatte. 



Stuttgart, 23. November 1913 
Zmiter Vortrag (Noti^en) 



Wit haben heute zunachst zu reden von dem Gesprach Jesu mit seiner 
Ziehmutter, die sich nach und nach zu einem Ver standnis ihres Sohnes 
durchgerungen hatte. Es war mit ihr eine gewaltige Veranderung vor- 
gegangen. In sie hatte sich hereingesenkt der Geist der anderen Maria, 
der leiblichen Mutter Jesu aus den geistigen Welten. Den trug sie nun 
in sich. Von tiefer Bedeutung erweist sich das Gesprach Jesu mit sei- 
ner Mutter fur das wirkliche Verstandnis des Mysteriums von Gol- 
gatha vom Standpunkt der geisteswissenschaftHchen Forschung. 
Immer besser und besser verstand die Mutter Jesus. Eine Art von 
Empfindungsverstandnis war es. Nun konnte Jesus sprechen iiber den 
dreifachen Schmerz, den er erfahren hatte. Was er sprach, war wie 
eine Art Zusammenfassung dessen, was seit dem zwolften Jahre in 
seiner Seele vorgegangen war. Er sprach zu seiner Mutter von seinen 
Erlebnissen vom zwolften bis achtzehnten Jahre. Er sprach von den 
groBen Lehren der Bath-Kol. Er sprach davon, wie niemand ihn 
hatte verstehen konnen, wie er nicht sprechen konnte von dem, was 
ihn drangte, es jemand mitzuteilen. Er sagte der Mutter, wenn die 
alten Lehren auch dagewesen waren, die Menschen hatten gefehlt, sie 
zu verstehen. 

Dann sprach er von der zweiten Art der schmerzlichen Erlebnisse. 
Er sprach von jenen Ereignissen vor dem verfallenen Opferaltar, er 
sprach davon, wie er eingedrungen war in die alten Mysterien, bei 
denen die gottlich-geistigen Wesenheiten unmittelbar herniedergestie- 
gen waren, wie auch in dieser Beziehung ein Herabstieg stattgefunden 
hatte. Statt der guten alten Heidengotter waren es Damonen, die teil- 
nahmen an den Opferfesten. Er sprach von den groBen kosmischen 
Ereignissen, von demgewissermaBenumgekehrten Vaterunser. Es war 
ein auBerordentliches Gesprach, das er da fiihrte mit seiner Mutter. 
Er sprach davon, wie er hatte erkennen miissen, wie Luzifer und 
Ahriman flohen vor den Toren der Essaer und zu den anderen Men- 



schen kamen, die die strengen Ordensregeln nicht mitmachen konn- 
ten. Von alldem sprach er. Es war wie ein Aufrollen seines bisherigen 
Lebens. Es war ein Gesprach, das dadurch seine Pragung bekam, daB 
die Worte nicht bloB Worte der Erzahlung, daB in den Worten nicht 
bloB lag, was sonst in Worten liegt, sondern was er sagte, war in 
Worte gepragtes innerstes Erlebnis, in Worte gedriickter Schmerz und 
Leid, umgewandelt in unendliche Liebe, Schmerz, der sich in Liebe 
und Wohlwollen verwandelt hatte. Wie Realitaten stromten diese 
Worte hiniiber zu der Mutter. Wie ein Stuck Seele selbst erschien es, 
was da von Jesus weg und zur Mutter iiberging. In wenigen Stunden 
drangte sich zusammen alles das, was mehr war als ein bloBes Er- 
lebnis. Ein kosmisches Erlebnis war es im wahrsten Sinne des Wortes. 
Es konnte Jesus von Nazareth nur Worte reden, aber es lag ein Teil 
seiner Seele in diesen Worten. Und vieles muBte man erzahlen, wenn 
man charakterisieren wollte, was die Akasha-Chronik gibt. So kam es 
im Verlaufe dieses Gesprachs, daB es klar vor Jesus' Seele stand, an 
welchem Punkte die Menschheitsentwickelung angelangt war. Jetzt 
dammerte in ihm auf ein immer deutlicheres BewuBtsein, daB die 
Zarathustra- Seele in ihm war. So fuhlte er, wie er als Zarathustra die 
damalige Menschheitsentwickelung mitgemacht hatte. Was ich jetzt 
zu Ihnen spreche, waren nicht die Worte, die Jesus zu seiner Mutter 
sprach, sondern er driickte sich so aus, wie es fur sie verstandlich war. 
Was er da fuhlte, machte ihm das Geheimnis der Menschheitsent- 
wickelung klar. Unvergleichlich ist der Eindruck, wie Jesus das inner- 
lich empfindet und erlebt, wahrend er mit seiner Mutter spricht. Er 
redet der Mutter davon, wie jedes Menschenalter seine bestimmten 
Krafte hat und daB dies von groBer Bedeutung ist. Es gab einmal ein 
Menschheitszeitalter, die uralt indische Kultur, wo die Menschen ganz 
besonders groB waren dadurch, daB das ganze Leben durchgluht war 
von den kindlich sonnenhaften Kraften des ersten Kindheitsalters. 
Etwas von diesen Kraften ist heute noch in uns von unserem ersten 
bis siebenten Lebens jahr. 

Dann kam eine zweite Periode, die uralt persische Zeit, die beseelt 
war von den Kraften, die heute beim Menschen wirken zwischen dem 
siebenten und vierzehnten Lebens jahr. 



Dann lenkte Jesus den Blick auf das dritte Zeitalter, die agyptische 
Zeit, in welcher die Krafte herrschten, die jetzt beim Menschen wirken 
vom vierzehnten bis einundzwanzigsten Jahre, da wo die Empfin- 
dungsseele eine groBe Rolle spielt in der einzelnen Entwickelung. In 
dieser agyptischen Zeit wurden die astronomischen und mathemati- 
schen Wissenschaften gepflegt. 

Und nun stieg in Jesu die Frage auf: In welchem Zeitalter leben 
wir jetzt, was kann der Mensch erleben zwischen dem einundzwanzig- 
sten und achtundzwanzigsten Lebensjahr ? Und er empfand, daB das, 
was das auBere Leben beherrschte, die Krafte waren, die ausgegossen 
waren iiber die griechisch-lateinische Kultur, daB das aber auch die 
letzten Krafte waren. Der Sinn des einzelnen menschlichen Lebens 
stand in seiner ganzen Wucht vor den Augen des Jesus von Nazareth. 
Vom achtundzwanzigsten bis funfunddreiBigsten Jahre iiberschreitet 
der Mensch dann die Mitte des Lebens und beginnt seinem Alter ent- 
gegenzuleben. Da sind keine neuen Lebenskrafte mehr vorhanden; 
die ererbten Krafte der Gotter sind erschopft. Die aufsteigenden 
Krafte sind bis hierher da, sie werden aufgezehrt bis zur Lebensmitte. 
Was nun? Es zeigte sich nirgends etwas Neues, woraus Krafte fur die 
Menschheit entstehen konnten. Die Menschheit miiBte verdorren, 
wenn nichts Neues geschieht. Diese Krisis muBte Jesus eine gewisse 
Zeit durchleben, und dann loste sich das Zarathustra-Ich, dessen Be- 
sitz ihm kurz vorher erst aufgeblitzt war. Er hatte sich gleichsam so 
identinziert mit der Menschheitsentwickelung, daB das Zarathustra- 
Ich wahrend seiner Worte an die Mutter wegging. Zuriick blieben nur 
die drei Hiillen, und Jesus wurde wieder das, was er mit zwolf Jahren 
gewesen war, aber mit alldem, was er durch die Erlebnisse des Zara- 
thustra hatte hereinsenken konnen. Nun war es wie ein Impuls, der 
ihn hinzog an den Jordan zu Johannes dem Taufer. Und dort senkte 
sich in den Jesus von Nazareth dasjenige, was verjungend in den 
MenschheitsprozeB einflieBen muBte, damit die Menschheit nicht ver- 
dorre : die Christus-Wesenheit. Dieser Christus-Impuls zog ein zu einer 
Zeit, als die Menschen zu seiner Aufnahme am schlechtesten vor- 
bereitet waren. Mit dem Gemute konnten die Menschen sich hin- 
gezogen fiihlen zu Christus, aber von den Weisheiten und Kraften der 



friiheren Zeitalter war nichts mehr vorhanden. So wirkte Christus 
zunachst nur als Kraft, nicht als Lehrer. Aber auch heute noch 
ist die Menschheit nicht besonders weit im Verstehen des Christus- 
Impulses. 

Die Wirksamkeit des Christus hing zunachst nicht ab von dem Ver- 
standnis, das ihm entgegengebracht wurde. Durch drei Jahre hin- 
durch senkte sich in den Jesus von Nazareth die Christus- Wesenheit. 
DaB ein Gott in einen menschlichen Leib einzog, das war nicht nur 
eine Angelegenheit der Menschen, das war zugleich eine Angelegen- 
heit der hoheren Hierarchien. Inkarniert sein in einem menschlichen 
Leibe, das hatte bis dahin kein Gott erlebt. Das ist das Erschutternde : 
das Leben eines Gottes im Menschenleibe wahrend dieser drei Jahre. 
Aber es war notig, damit wieder ein Aufwartskommen der Menschen 
moglich wurde. 

Erst war die Christus- Wesenheit nur lose verbunden mit dem Jesus 
von Nazareth, aber immer dichter und dichter verband sie sich mit 
seinem Leibe bis zum Kreuzestode hin in fortwahrender Entwicke- 
lung. An Verstandnis in bezug auf geistige Dinge, hat die Menschheit 
seither nicht zugenommen. Unmoglich ware sonst ein heutiges Vor- 
kommnis, wie es das Buch Maeterlincks «Vom Tode» ist. Das ist ein 
dummes Buch. Darin wird gesagt: Wenn der Mensch entkorpert sein 
wird, dann sei er ja Geist, dann konne er nicht mehr leiden. - Das ist 
gerade das Gegenteil von dem, was wahr ist. Leiden muB immer der 
Geist, nicht der Leib. In dem MaBe, als sich die Individualist steigert, 
steigern sich auch die Schmerzen, die Gefuhle. Unmoglich ist daher 
auch fur den heutigen Menschen das Verstandnis fur den erlittenen 
Schmerz des verkorperten Gottes. 

Eine der Frauen wollte Jesus im Grabe suchen. Ein Geistleib war 
er. Nicht mit physischen Sinnen war Christus zu suchen. Wie eine 
Wiederholung dieses Suchens waren die Kreuzziige im Mittelalter. 
Das war dasselbe vergebliche Suchen. Und gerade um diese Zeit der 
Kreuzziige standen die deutschen Mystiker auf, welche wieder in der 
rechten Weise eine Verbindung mit Christus suchten. Christus wirkte 
auch da, wo seine Lehre nicht war; er wirkte als Kraft in der ganzen 
Menschheit. 



Nach der Taufe am Jordan war der Christus noch lose gebunden an 
den Leib des Jesus. Der erste, der ihm begegnete, war Luzifer. Er 
lieB walten alle die Krafte, die man in einer Wesenheit in bezug auf 
Hervorrufen des Hochmuts entfalten kann. «Wenn du mich an- 
erkennst, will ich dir alle Reiche der Erde geben.» Rasch war diese 
Attacke zuriickgeschlagen. Bei der zweiten Versuchung kamen Luzi- 
fer und Ahriman zusammen, indem sie in den Worten «Stiirze dich 
hinab» bei Christus hervorrufen wollten Furcht und Angst. 

Beim drittenmal erschien Ahriman allein mit seiner Aufforderung : 
« Sprich, daB diese Steine Brot werden.» Diese Frage des Ahriman lieB 
einen ungelosten Rest zuriick; sie wurde nicht restlos beantwortet. 
DaB das nicht geschehen konnte, hangt zusammen mit den innersten 
Kraften der Erdentwickelung, insofern Menschen dazugehoren. 

Darin liegt etwas wie die Geldfrage. Diese hangt zusammen mit der 
ahrimanischen Frage. Ahriman behielt einen Teil seiner Gewalt iiber 
Christus Jesus. Das zeigte sich in dem Judas Ischariot. In dem Verrat 
des Judas wirkt diese ungeloste Frage nach. 

Dann wurde noch davon gesprochen, daB es nur in der Finsternis 
moglich war, daB der Christus-Impuls sich beim Kteuzestod der Erde 
mitteilen konnte. Ob es eine Sonnenfinsternis war oder ob die Finster- 
nis von etwas anderem herruhrt, kann heute noch nicht bestimmt ge- 
sagt werden. Zuletzt sehr dringende Bitte um Geheimhaltung dieser 
Enthiillungen. 



DAS FONFTE EVANGELIUM 



Munchen, 8. December 1913 
Erster Vortrag 

Es hat sich durch gewisse Pflichten, die einem aus der geistigen Welt 
heraus auferlegt werden, fiir mich die Notwendigkeit ergeben, in der 
letzten Zcit einiges zu erforschen in bezug auf das Leben des Christus 
Jesus. Sie wissen, daB es moglich ist, durch die sogenannte Akasha- 
Chronik-Forschung zu Ereignissen, die sich in der Vergangenheit 
vollzogen haben, Zugang zu gewinnen. So wurde denn versucht, 
einen Zugang zu gewinnen zu dem wichtigsten Ereignis der Erden- 
entwickelung, dem Ereignis, das zusammenhangt mit dem Mysterium 
von Golgatha. Mancherlei hat sich da ergeben, was erganzend wirken 
kann zu den mehr geisteswissenschaftlichen Ausfuhrungen, die Ihnen 
bei verschiedenen Gelegenheiten iiber das Mysterium von Golgatha 
gegeben wurden. Von anderer Art ist das, was jetzt aus der Akasha- 
Chronik-Forschung sich ergeben hat; es ist gewissermaBen mehr kon- 
kreter Art, eine Summe von Tatsachen, die sich auf das Leben des 
Christus Jesus beziehen. Es werden sich, wie zu hofifen ist, diese 
Tatsachen im Laufe der Zeit zusammenschlieBen zu einer Art von 
Funftem Evangelium, und wir werden am nachsten Zweigabend dar- 
iiber sprechen, warum es gerade in unserer Zeit notwendig ist, aus 
den okkulten Quellen heraus das zu holen, was man in gewisser 
Beziehung als ein Funftes Evangelium bezeichnen kann. 

Heute will ich zunachst einzelne Erzahlungen geben, welche sich 
beziehen auf die Jugend des Jesus von Nazareth und welche gipfeln 
sollen in einem wichtigen Gesprach, das er mit seiner Stief- oder 
Ziehmutter gefiihrt hat. Einiges von dem, was so als Funftes Evange- 
lium nunmehr zu besprechen sein wird, hat ja Fraulein Stinde einigen 
von Ihnen schon mitgeteilt; aber ich werde des Zusammenhanges 
wegen auch die Dinge kurz erwahnen miissen, welche so schon eini- 
gen von Ihnen vorgetragen worden sind. 

Beginnen mochte ich heute in meiner Erzahlung mit jenem Er- 
eignis, das ich Ihnen schon ofter charakterisieren durfte, mit dem 



Hiniibergehen des Zarathustra-Ichs in die leiblichen Hiillen jenes 
Jesusknaben, der abstammt aus der nathanischen Linie des Hauses 
David. Kurz erwahnen will ich, daB nach der Akasha-Chronik-For- 
schung zwei Jesusknaben ungefahr zu gleicher Zeit geboren worden 
sind. Der eine ist geboren worden aus dem, was wir nennen konnen 
die salomonische Linie des Hauses David, der andere aus der nathani- 
schen Linie des Hauses David. Sehr verschieden waren die beiden 
in bezug auf ihr ganzes Knabenleben. In dem Leibe, der abstammte 
aus der salomonischen Linie des Hauses David, war enthalten das- 
selbe Ich, das einstmals als Zarathustra iiber die Erde gegangen ist, 
und das war vorgeriickt zu einem Geiste, der allerdings, wie es in 
solchen Fallen vorkommt, in den ersten zwolf Jahren kindlich wirkte, 
aber mit den allerhochsten Gaben ausgestattet sich zeigte, der mit 
groBer Schnelligkeit alles lernte, was die menschliche Kulturentwicke- 
lung bis in jenes Zeitalter hervorgebracht hatte. Einen Knaben von 
hochster Begabung wiirden wir - nach dem, was sich ergibt aus der 
Akasha-Chronik - diesen Knaben aus der salomonischen Linie des 
Hauses David nennen konnen. Den anderen Jesusknaben aus der 
nathanischen Linie konnen wir nicht mit solchen Pradikaten an- 
sprechen. Er war im Grunde genommen das, was man unbegabt 
nennen mochte fur alles das, was man durch die Errungenschaften 
der Erdenwissenschaften und Kiinste des Menschen erlernen kann. 
Er erwies sich sogar ziemlich abgeneigt, irgend etwas von dem zu 
erlernen, was sich die Menschheit errungen hat. Dagegen zeigte dieser 
Jesusknabe im hochsten MaBe tiefe Genialitat des Herzens ; er strahlte 
schon im fruhesten Knabenalter die warmste Liebe aus, die sich 
denken laBt, nahm alles das auf an menschlich-irdischen Begriflfen, 
was dazu fiihren kann, ein Leben in Liebe zu entfalten. 

Wir wissen nun auch schon, daB, nachdem die beiden Knaben 
ungefahr zwolf Jahre alt geworden waren, das Ich des Zarathustra 
herausging, wie das ja in okkulten Vorgangen der irdischen Mensch- 
heitsentwickelung zuweilen vorkommt. Es ging heraus aus dem dar- 
nach absterbenden Leib des Jesusknaben aus der salomonischen Linie 
und ging hiniiber in die leiblichen Hiillen des anderen Jesusknaben. 
Das Lukas-Evangelium deutet das dadurch an, daB es erzahlt, wie 



dieser Jesusknabe dann unter den Schriftgelehrten saB und seine 
staunenswerten Antworten gab und von seinen eigenen Eltern kaum 
wiedererkannt wurde. So haben wir fortan heranwachsend vom zwolf- 
ten Lebensjahre an jenen Jesusknaben mit dem Genie des Herzens, 
der gleichsam die Summe aller menschlichen Gaben, die sich auf 
Gefiihl und Gemiit beziehen, in sich vereinigt hatte; wir haben die 
Vereinigung des Ich des Zarathustra mit diesem Jesusknaben, der 
aber in dieser Zeit ja noch nicht wuBte, was sich mit ihm vollzog : daB 
es das Ich des Zarathustra war, das den Leib des salomonischen 
Jesusknaben verlieB und in ihn einzog und in seinen leiblichen Hiillen 
schon wirkte, so daB beide Elemente sich in hochster Vollkommenheit 
nach und nach durchdrangen. 

Wir wissen auch, daB die leibliche Mutter des nathanischen Jesus- 
knaben bald starb, ebenso der Vater des salomonischen Jesusknaben, 
und wir wissen, daB eine Familie wurde aus den beiden Familien, 
denen die zwei Jesusknaben entsprossen waren, so daB der nathanische 
Jesus aus der anderen Familie heriiber Stiefgeschwister bekam und 
ihm die leibliche Mutter des salomonischen Jesusknaben zur Stief- 
oder Ziehmutter wurde. In dieser Familie wuchs er nun in Nazareth 
heran. Die auBerordentliche Begabung, die er gezeigt hatte, als er 
im Tempel unter den Schriftgelehrten jene groBen, gewaltigen Ant- 
worten gab, die alle in Erstaunen versetzte, das steigerte sich des 
weiteren. Es war etwas Wunderbares, was in der Seele dieses nathani- 
schen Jesusknaben, in dem das Ich des Zarathustra enthalten war, 
vorging vom zwdlften bis etwa zum achtzehnten Lebensjahre: Wie 
aus den untergriindigen Tiefen seines Seelenlebens herauf kam etwas, 
was ein anderer Mensch in der damaligen Zeit nicht hat erleben kon- 
nen; eine ungeheure Reife des geistigen Urteils neben einer tiefen 
Ursprunglichkeit seiner seelischen Fahigkeiten machte sich geltend. 
Zum Staunen seiner Umgebung sprach zu seiner Seele immer deut- 
licher und deutlicher jene gewaltige gottliche Stimme aus den geisti- 
gen Regionen, welche man in den hebraischen Geheimlehren die 
groBe Bath-Kol nannte. Aber anders als zu den Schriftgelehrten, in 
erhabener Weise sprach zu diesem heranwachsenden Knaben die groBe 
Bath-Kol. Wie eine innere, wundersame Erleuchtung kam es herauf. 



So kam es herauf, daB schon in dieser Jugend der Jesus von Nazareth 
sich in trauriger Stimmung sagen konnte : Was ist aus der hebraischen 
Menschheit geworden seit jenen Zeiten, seit diese Menschheit die 
alten Propheten vernommen hat, jene alten Propheten, welche noch 
selber durch ihre Inspirationen und Intuitionen die geistigen Geheim- 
nisse aus hoheren Welten herabbekommen haben? - Da ging diesem 
Jesus von Nazareth durch innere Erleuchtung auf, daB einstmals eine 
innige Kommunikation zwischen den alten hebraischen Propheten 
und den gottlich-geistigen Machten da war; daB die groBten Geheim- 
nisse sich den alten Propheten offenbarten durch die heilig-ernste 
Stimme der groBen Bath-Kol. Aber anders waren die Zeiten gewor- 
den bis zu der Gegenwart, in der damals Jesus von Nazareth lebte. 
Gelehrte, Schriftgelehrte waren da, auch einige Propheten, die nur 
Nachklange, schwache Nachklange erfassen konnten von dem, was 
einstmals die groBen Propheten als OrTenbarung erhalten hatten. Aber 
alles das, was in der Gegenwart erreicht werden konnte, war nur ein 
Schatten der alten Lehren. Was aber in den Schriften aufbewahrt 
war als Tradition, von dem fiihlte und spiirte Jesus - der es nun 
erhielt durch seine unmittelbare innere Inspiration, durch Lichter, 
die in ihm von Tag zu Tag immer mehr und mehr aufglanzten, daB 
es zwar da war, aber daB die Gegenwart nicht mehr geeignet war, es 
zu verstehen. Gewaltig war sein Leben in diesen Inspirationen. 

Es ist ein ungeheuer starker Eindruck, den man bekommt, wenn 
man den geistigen Blick hinlenkt auf diese Stelle der Erdenentwicke- 
lung, wenn man das, was in uralten Zeiten gleichsam den urvater- 
lichen Propheten geoffenbart war, wiederum auf leuchten sieht in der 
Seele des Jesus von Nazareth und sieht, wie einsam er dastand in der 
Menschheit, die ohne Verstandnis war fur das, was er erlebte. Er 
muBte sich sagen: Selbst wenn laut und vernehmlich die groBe Bath- 
Kol vom Himmel sprache, es sind keine Menschen da, die sie ver- 
stehen konnten. Was ist aus der Menschheit geworden? - Das legte 
sich als gewaltiger Schmerz auf seine Seele. So sehen wir den Knaben 
heranwachsen ins Jiinglingsalter hinein. Von Woche zu Woche stiegen 
ihm neue Erkenntnisse auf, aber jede neue Erkenntnis verkmipfte 
sich fur ihn mit einem immer mehr und mehr sich vergroBernden 



Leid, mit tiefem, tiefem Schmerz iiber das, was die Menschheit ver- 
lernt, vergessen hat, was sie jetzt nicht mehr verstehen kann. Der 
ganze Niederstieg der Menschheit lud sich ab auf die Seele des Jesus 
von Nazareth. Man lernt mancherlei von Schmerz und Leid kennen, 
das Menschen auf der Welt zu erdulden haben, wenn man den geisti- 
gen Black hinrichtet auf die Menschheitsevolution; aber ungeheuer 
ist der Eindruck, den man bekommt aus jener Seele heraus, die aus 
reinem Mitgefuhl mit der Menschheit den hochstgesteigerten Schmerz, 
den konzentriertesten Schmerz empfand iiber den Niederstieg der 
Menschheit, iiber das, was die Menschheit nicht mehr fahig war auf- 
zunehmen von dem, was fur sie aus geistigen Welten bereitet war. 
Dieser Schmerz steigerte sich um so mehr, als in der ganzen Um- 
gebung des Jesus von Nazareth zwischen seinem zwolften und acht- 
zehnten Lebensjahr niemand war, mit dem er irgendwie dariiber hatte 
sprechen konnen. Selbst die besten Schuler der groBen Gelehrten 
wie Hi Ik I verstanden das GroBe nicht, das sich in der Seele des Jesus 
von Nazareth offenbarte. Er war allein mit seinen Offenbarungen und 
allein mit seinem unendlichen, die Menschheit in grenzenlosem Mit- 
gefuhl umfassenden Schmerz. Diese Seelenstimmung mochte ich Ihnen 
vor alien Dingen charakterisieren in Jesus von Nazareth. Wahrend 
er das alles innerlich durchlebte, wahrend Welten sich abspielten in 
seinem Inneren, arbeitete er auBerhch anspruchslos im Geschafte 
seines Vaters, das eine Art Schreinerhandwerk, Zimmermannshand- 
werk war. Und so reifte er heran bis zu seinem achtzehnten Lebens- 
jahre. Dann sollte er nach dem Willen der Familie eine Art Wanderung 
durch die Welt machen, von Ort zu Ort Ziehen, um da und dort eine 
Zeidang zu arbeiten. So tat er es auch. Und damit kommen wir zu 
einer zweiten Epoche in der Jugend des Jesus von Nazareth, die etwa 
vom achtzehnten bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahre dauerte. 

Er zog herum an mancherlei Orten, Orten inner- und auBerhalb 
Palastinas. In allerlei Gegenden der Heiden kam er; Juden und Heiden 
suchte er schon dazumal auf. Ein Eigenartiges konnte man bemerken 
in dieser Personlichkeit, das immer zum Lehrreichsten gehoren wird, 
wenn man versucht, die Geheimnisse der menschlichen Tiefen zu er- 
forschen: Man konnte bemerken, daB der ungeheure Schmerz, den 



er in seiner Seele durchlebt hatte, sich verwandelte in ungeheure 
Liebe, wie er so oft es tut, wenn er selbstlos ist, in eine Liebe, die nicht 
nur durch Worte, sondern schon durch die bloBe Gegenwart wirkt. 
Wenn er in die Familien eintrat, in deren Mitte er arbeiten sollte, so wuBte 
man durch die Art, wie er sich gab, durch die Art, wie er eben war, 
daB die Liebe, die iiberhaupt nur aus einem Menschen kommen kann, 
aus dieser Seele herausstrahlte ; eine Liebe, die alien wohl tat, in deren 
Atmosphare alle leben wollten, die sie gewahrten. Und diese Liebe 
war verwandelter Schmerz, war die Metamorphose des Schmerzes. 
Vieles trug sich zu, was bei den Leuten, in deren Mitte er lebte, den 
Eindruck hervorrief, daB man es mit einem Menschen zu tun habe, 
wie er noch niemals iiber die Erde gewandelt war. Bei Tag arbeitete 
er; abends versammelten sich die Familien an den Orten, wo er ar- 
beitete und da war er unter ihnen. Alles was von seiner Liebe aus- 
strahlen konnte, lebte in solchen Familien. Man glaubte mehr als 
einen bloBen Menschen vor sich zu haben, wenn er seine einfachen 
Worte sprach, die aber durchtrankt waren von dem, was er vom 
zwolften bis zum achtzehnten Lebensjahre durchlebt hatte. Und dann, 
wenn er wiederum weggezogen war von dem Orte, dann war es in 
diesen Familien, wenn sie sich zusammensetzten, so als ob sie ihn 
noch unter sich fuhlten, wie wenn er gar nicht weg ware. Man fiihlte 
seine Gegenwart noch immer. Ja, es kam immer wieder und wiederum 
vor, daB alle zusammen eine reale Vision hatten: Wahrend sie von 
dem sprachen, was er gesagt hatte, wahrend sie innerlich frohlockten 
in dem, was sie nachfuhlten von seiner Gegenwart, sahen sie, wie er 
zur Ture hereinkam, sich unter ihnen niedersetzte, fuhlten seine liebe 
Gegenwart, horten ihn sprechen. Er war nicht da in physischer 
Gegenwart, aber eine alien gemeinsame Vision war da. 

So bildete sich allmahlich in vielen Gegenden eine Gemeinsamkeit 
heraus zwischen Jesus von Nazareth und den Leuten, mit denen er 
in Beriihrung kam im Laufe der Jahre. Und iiberall erzahlte man von 
dem Manne der groBen Liebe. Mancherlei bezog man auf ihn, was 
in den heiligen Schriften stand. Die Schriften verstand man zwar 
nicht, auch ihn verstand man wenig mit dem Verstand; aber mit dem 
Herzen erfiihlte man um so inniger seine Liebe, das AuBerordentliche 



seines Daseins und seiner Wirkung. Er kam nicht nur in hebraische, 
sondern auch in heidnische Gegenden, auch auBerhalb Palastinas. Sein 
Weg fiihrte ihn merkwiirdigerweise auch in solche heidnische Gegen- 
den, wo die heidnischen Lehren in den Nieder gang gekommen waren. 
Manche heidnische Orte lernte er kennen, deren alte Kultstatten ver- 
fallen waren. 

Und da kam er eines Tages in einen Ort, der besonders unter dem 
Verfall der alten heidnischen Kultstatten, der alten heidnischen Prie- 
sterschaft gelitten hatte. Die heidnischen Kultstatten waren ja ein 
auBerer Abdruck dessen, was da oder dort in den Mysterien gepflegt 
worden war. Die Zeremonien in den Kultstatten waren Abbilder der 
Mysteriengeheimnisse. Aber das alles war im Niedergang begriffen, 
war in vielen Gegenden verfallen. Da kam denn Jesus von Nazareth 
an eine Kultstatte, wo auch die auBeren Bauanlagen aus ihm un- 
bekannten Griinden in Verfall geraten waren. Ich weiB heute noch 
nicht, an welchem Orte diese Kultstatte war. Leider ist es nicht mog- 
Hch gewesen, den Ort nach genauer Lage und Namen in der Akasha- 
Chronik zu ermitteln; aus irgendeinem Grunde ist der Eindruck des 
Ortes sozusagen auf der Landkarte der Erde verwischt. Was ich Ihnen 
erzahle, ist absolut richtig beobachtet, wie ich meine, nur ist es nicht 
moglich, den Ort anzugeben; aus irgendwelchem Grunde ist er nicht 
aufzufinden. Aber es war ein heidnischer Ort, eine verfallene Kult- 
statte, ringsherum das Volk traurig und krank und mit allerlei Krank- 
heiten und Miihsalen beladen. Weil es beladen war mit solchen Krank- 
heiten und Miihsalen, war die Priesterschaft fortgezogen, war ge- 
flohen. Die Kultstatte war verfallen. Das Volk fiihlte sich ungliick- 
lich, weil seine Priester es verlassen hatten. Ein ungeheures Elend 
war da, als Jesus in dieser heidnischen Kultstatte einzog. Als er heran- 
nahte, wurde er von einigen bemerkt und gleich ging es wie ein Lauf- 
feuer durch das Volk: Da zieht einer heran, der uns helfen kannl - 
Denn durch das, was als Kraft von seiner Liebe, die schon zu einer 
Art heiligender Liebe geworden war, ausstrahlte, fuhlten die Men- 
schen, wie wenn jemand Besonderer herankame, wie wenn ihnen der 
Himmel selber geschickt hatte wiederum einen ihrer Kultpriester. In 
groBen Scharen stromten sie zusammen; sie hofften, daB nun wieder- 



um ihr Kult verrichtet werden konne. Jesus von Nazareth war nicht 
geneigt, den heidnischen Kult zu verrichten, wie das ja begreiflich 
ist; aber als er sich die Leute ansah mit seinem jetzt schon bis zu 
einer Art von Hellsehertum gesteigerten Blick, der aus Schmerz und 
Liebe geboren war, ging ihm schon etwas auf von dem Wesen des 
Verfalls des Heidenturns. Da lernte er eben das Folgende erkennen. 
Er wuBte: In uralten Zeiten, in denen einstmals die noch guten Prie- 
ster gedient und geopfert haben, da neigten sich an diesen Kultstatten 
herab zu den heidnischen Opfern und Kulthandlungen gute geistige 
Wesenheiten aus der Sphare der hoheren Hierarchien. Aber nach und 
nach - das ging ihm auf - war das Heidentum verfallen. Wahrend fruher 
die Strome der Barmherzigkeit und Gnade der guten, von den Heiden 
verehrten Gotter auf die Opferaltare herabgesendet wurden und sich 
verbanden mit dem Opfer, waren jetzt Damonen, Sendlinge von 
Ahriman und Luzifer herabgekommen. Die schaute er unter dem 
Volke und er erkannte, dafi diese damonischen Wesenheiten eigent- 
Hch die Ursache der bosen Krankheiten waren, die unter dem Volke 
wiiteten, das ihn jetzt in tiefster Seele erbarmte. Und als er diese 
geheimnisvollen Zusammenhange wahrgenommen, als er so hinter 
das Geheimnis des niedergehenden Heidenturns kam, fiel er wie tot 
hin. Furchtbar wirkte dieser Vorgang auf das Volk, das glaubte, ein 
vom Himmel gekommener Priester sei da. Es sah nun den Menschen 
hinfallen und floh, floh verstort hinweg von dem Orte, zu dem es 
noch eben hingestromt war. Mit dem letzten Blicke, den er noch in 
seinem gewohnlichen BewuBtsein hinrichtete auf das fliehende Volk, 
sah Jesus von Nazareth mit dem Volke fliehen die Damonen; aber 
noch immer umgaben ihn andere Damonen. Dann trat das alltagliche 
BewuBtsein zuriick und er fuhlte sich wie hinauf entriickt in eine 
hohere geistige Welt, aus der einstmals der Gnadesegen der Heiden- 
gotter geflossen war, die mit den Opfern sich vereinigt hatten. Und 
so, wie er sonst die Stimme der groBen Bath-Kol vernommen hatte, so 
vernahm er jetzt die Klange aus den gottlich-geistigen Reichen, aus 
jenen Hierarchien, welchen die heidnischen guten Gotter angehorten. 
Menschliche UrofFenbarung vernahm er in diesem entriickten Zustand. 
Ich habe versucht, in deutsche Worte zusammenzufassen, was er 



da horte; so gut es mir moglich war, das wiederzugeben, was er ge- 
hort hat. Und charakteristisch ist es : Es war mir moglich, diese Worte 
zuerst bei der Grundsteinlegung unseres Dornacher Baues mitzu- 
teilen. Es ist wie das umgekehrte christliche Vaterunser, das er dann 
erst viel spater selber zu offenbaren hatte in der bekannten Art. Jetzt 
aber wirkte es auf ihn so, wie es einstmals vor dem Beginne der 
Erdenentwickelung hatte geofFenbart werden konnen als kosmisches 
Vaterunser. So klingt es, wenn man es in deutsche Worte ubertragt: 

Amen 

Es waken die Ubel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wille 

In dem der Mensch sich schied von Eurem Reich 

Und vergaB Euren Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Also so: 

Amen 

Es walten die Ubel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wille 

In dem der Mensch sich schied von Eurem Reich 

Und vergaB Euren Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Was so aus den Regionen, aus denen einstmals die Gotter der 
Heiden gewirkt hatten, zu ihm sprach, war ihm wie eine groBe, ge- 
waltige Offenbarung. Diese Worte, die sich zunachst einfach anhoren, 
enthalten in der Tat das Geheimnis des ganzen Eingekorpertseins 
des Menschen in die physisch-irdische Leiblichkeit, das Verbunden- 
sein mit der physischen Erdenleiblichkeit. Dieses Geheimnis enthalten 
sie. Man kommt immer mehr und mehr darauf, wie ich mich selbst 



iiberzeugt habe durch nach und nach erfolgende Meditation dieser 
Worte, zu erleben, welch ungeheure Tiefen in diesen Worten ent- 
halten sind. Man mochte sagen, der ganze uralte heidnische Himmel, 
der sich in diesem Geheimnis der Menschheitwerdung wie in einem 
makrokosmischen Vaterunser aussprach, wirkte dazumal auf den hin- 
gefallenen Jesus von Nazareth, der in einem entriickten Zustand war. 
Und als er wieder zu sich kam, da sah er noch die letzten entfliehenden 
Damonen, die an die Stelle der alten guten heidnischen Gotter getreten 
waren, sah in weiter Feme das Volk fliehen. Er aber hatte zu dem 
Schmerz, den er erlkten hatte durch die Offenbarungen der Bath-Kol, 
fur die die Menschheit nicht mehr reif war, nun den zweiten Schmerz 
erlitten dadurch, daB er erkennen muBte: Auch das, was einstmals 
zu dem Heidentum gesprochen hatte, auch das, was gottlich-geistige 
OfFenbarungen fur das Heidentum waren, ist im Niedergang begriffen. 
Wenn auch alle Stimmen der Himmel heute ertonen wiirden: die 
Menschheit hatte nicht die Fahigkeit, sie aufzunehmen. - So muBte 
er sich sagen. 

Es ist ein ungeheurer Eindruck, zu sehen, wieviel Schmerz not- 
wendig war, der aufgehauft werden muBte in einer Seele, damit das 
Mysterium von Golgatha vorbereitet werden konnte. Der Eindruck ist 
ein ungeheurer, zu erkennen durch dieseDinge, welch ein Schmerz ein- 
flieBen muBte in jenen Impuls, den wir den Christus-Impuls fur die wei- 
tergehende Erdenentwickelung nennen. So hatte Jesus auch das We- 
sen des Heidentums und das Wesen seines Verfalls kennengelernt. 

Als er etwa vierundzwanzig Jahre alt geworden war, begab er sich 
nach Hause ; es war ungefahr um dieselbe Zeit, da sein leiblicher Vater 
starb. Mit seinen Geschwistern, die alle seine Stiefgeschwister waren, 
und seiner Zieh- oder Stiefmutter war er nun allein. Jetzt stellte sich 
etwas Eigentumliches ein: Nach und nach entflammte die Liebe und 
das Verstandnis der Stief- oder Ziehmutter fur ihn immer mehr und 
mehr, wahrend die Geschwister ihn nicht verstanden. Es keimte in 
ihr etwas wie ein Genie des Herzens auf. Sie konnte mit ihrem Gemiit 
den Einsamen, der das Leid der Menschheit in sich trug, nach und 
nach - wenn auch nur nach und nach - verstehen, wahrend sich die 
Briider nicht daran kehrten. 



Zunachst aber sollte er noch etwas anderes kennenlernen : die Ge- 
meinschaft, die ihm sozusagen den dritten Aspekt des Verfalls der 
Menschheit zeigte. Er sollte kennenlernen die Essaergemeinschaft. 
Diese Essaergemeinschaft, die ihren Hauptsitz am Toten Meer hatte, 
war damals in der Welt weit verbreitet. Sie war ein strenger, in sich 
geschlossener Orden, der anstrebte, durch ein gewisses geregeltes, 
entsagungsvolles Leben wieder hinaufzudringen zu jenen Stufen, iiber 
die die Menschheit bei ihrem Verfalle herabgestiegen war; durch 
Ubungen der Seele hinaufzukommen zu jener Seelenhohe, auf der 
wiederum etwas vernommen werden konnte von - gleichgiiltig, ob 
man es nun im judischen Sinne nennt die groBe Bath-Kol oder im 
heidnischen Sinne die alte OrTenbarung. Durch strenge Trainierung 
der Seele und Abgeschlossenheit von dem, was sonst die Menschheit 
pflegte, wollten die Essaer das erreichen. Was sie erstrebten, hatte 
viele angezogen. Sie hatten mancherlei Besitzungen weithin iiber das 
Land. Wer Essaer werden wollte, muBte das, was er ererbt hatte oder 
noch ererben konnte, dem gemeinschaftlichen Besitz iibergeben. Nie- 
mand durfte Eigentum fur sich behalten. Viele Essaer hatten da oder 
dort ein Haus oder Landgut, das sie dem Orden verschrieben. Der 
hatte dadurch iiberall seine Niederlassungen zerstreut in den vorder- 
asiatischen Gegenden, namentlich in Palastina, auch in Nazareth. Alles 
muBte Gemeingut sein. GroBe Wohltaten verrichtete der Essaerorden. 
Niemand besaB etwas fur sich. Jeder durfte von dem gemeinsamen 
Besitz weggeben an jeden, den er fur einen armen oder bresthaften 
Menschen hielt. Durch Ubungen der Seele kam man zu einer ge- 
wissen Heilkraft, die ungeheuer wohltatig wirkte. Einen Grundsatz 
hatten sie, der heutzutage unmoglich ware, der aber damals streng 
innegehalten wurde: Jeder konnte aus dem gemeinsamen Vermogen 
die Menschen, die er fur wiirdig hielt, unterstiitzen, niemals aber seine 
Verwandten. Losgetrennt muBte er sich haben von all den Sinnes- 
banden, die mit der auBeren Welt zusammenhangen. 

Jesus von Nazareth war wie Johannes, den er bei den Essaern 
fluchtig kennenlernte, nicht eigentlich ein Essaer geworden; aber 
durch das Ungeheure, was seine Seele barg, behandelte man ihn in 
dem Orden mit groBem Vertrauen. Vieles was sonst nur Angehorigen 



der hoheren Grade eigen war, besprach man mit ihm im Vertrauen 
auf die Art, wie seine Seele wirkte. So lernte er erkennen, wie sie 
auf einem steilen Wege wiederum hinaufstrebten zu den Hohen, aus 
denen die Menschen herabgestiegen waren. So konnte es ihm oftmals 
scheinen, als ob er sich hatte sagen konnen : J a, es gibt noch Menschen 
unter uns, die wiederum hinaufsteigen zu dem, was einstmals der 
Menschheit in Urzeiten geoffenbart worden war, was aber die Mensch- 
heit im allgemeinen heute nicht versteht. 

Da hatte er einstmals, nachdem er eben ein tiefgehendes Gesprach 
iiber die Weltengeheimnisse innerhalb der Essaergemeinschaft gehabt 
hatte, einen groBen, gewaltigen Eindruck. Als er wegging durch das 
Tor hinaus, da sah er in einer Vision zwei Gestalten. Als Ahriman 
und Luzifer erkannte er sie und er sah sie von den Essaertoren hin- 
wegfliehen. In die iibrige Menschheit hinein, wuBte er, fliehen sie. 
Solch einen Anblick hatte er nunmehr offers. Es war bei den Essaern 
der Brauch, daB sie nicht durch die gewohnlichen Tore einer Stadt 
oder eines Hauses der damaligen Zeit gehen durften, die irgendwie 
mit Bildwerken geschmuckt waren. Vor solchen Toren muBten sie 
wieder umkehren. Da aber die Essaer in groBer Zahl waren - es 
lebten so viele Essaer wie Pharisaer damals in Palastina -, so hatte 
man Riicksicht auf sie genommen und ihnen eigene, ganz einfache 
Tore gebaut. Die Essaer durften also durch kein Tor gehen, das 
irgendwelche Bildnisse aufwies. Das hing mit ihrer ganzen Seelen- 
entwickelung zusammen. Daher gab es eben besondere Essaertore 
in den Stadten. Jesus von Nazareth war des ofteren durch solche 
Essaertore gegangen. Immer sah er, wie da Luzifer und Ahriman in 
einer die Menschheit besonders bedrohenden Weise sich von den 
Toren entfernten. Ja, sehen Sie, wenn man solche Dinge theoretisch 
kennenlernt, machen sie gewiB schon Eindruck; wenn man sie aber 
so kennenlernt, wie man sie kennenlernen kann durch den Blick in 
die Akasha-Chronik, wenn man wirklich die Gestalten des Luzifer 
und Ahriman unter solchen Bedingungen sieht, wie sie Jesus von 
Nazareth gesehen hat, dann macht das noch einen ganz anderen Ein- 
druck. Dann beginnt man, nicht nur mit dem bloBen Intellekt, mit 
dem Verstand, sondern mit der ganzen Seele tiefste Geheimnisse zu 



erfassen, die man nicht nur weiB, die man erlebt, mit denen man 
ems ist. 

Ich kann nut mit armen Worten stammeln, was sich jetzt als ein 
dritter groBer Schmerz auf die Seele des Jesus ablud: Er erkannte, 
daB es in seiner Zeit fur einzelne Individuen zwar moglich war, sich 
abzusondern und hochste Einsicht zu erreichen, aber nur, wenn die 
iibrige Menschheit um so mehr abgeschnitten wird von aller Ent- 
wickelung der Seele. Auf Kosten der ubrigen Menschheit suchen 
solche Menschen, so sagte er sich, die Vervollkommnung ihrer Seele, 
und weil sie eine solche Entwickelung anstreben, durch die Luzifer 
und Ahriman nicht an sie herankommen kdnnen, so miissen diese 
fliehen. Aber indem diese einzelnen Menschen loskommen, fliehen 
Luzifer und Ahriman zu den anderen Menschen hin. Diese werden 
um so mehr in die Dekadenz gestiirzt, je mehr solche Menschen in 
ihrer Absonderung hoch hinaufkommen. Das war allerdings ein 
furchtbarer Eindruck fur Jesus von Nazareth, der ungeteiltes Mitleid 
mit alien Menschen fiihlte, der nicht ohne den tiefsten, allertiefsten 
Schmerz empfinden konnte, daB einzelne in ihrer Seelenentwickelung 
steigen sollten auf Kosten der allgemeinen Menschheit. So bildete 
sich ihm die Vorstellung: Luzifer und Ahriman erhalten in der all- 
gemeinen Menschheit eine immer groBere Macht gerade dadurch, daB 
einzelne die Reinen, die Essaer sein wollen. Das war der dritte groBe 
Schmerz, sogar der furchtbarste Schmerz; denn jetzt entlud sich in 
seiner Seele manchmal etwas wie Verzweif lung an dem Schicksal der 
Erdenmenschheit. Das Geheimnis dieses Schicksals der Erdenmensch- 
heit kam furchtbar iiber ihn. Er trug dieses Schicksal der Welt zu- 
sammengedrangt in seiner eigenen Seele. 

So war es etwa in seinem neunundzwanzigsten, dreiBigsten Lebens- 
jahre, so war es, nachdem die Mutter, die seine Stief- oder Zieh- 
mutter war, immer mehr und mehr ein Gemutsverstandnis fur ihn 
erlangt hatte, daB er einmal, als sie gegenseitig fuhlten, daB die Seelen 
sich verstehen konnten, in ein Gesprach mit dieser Stief- oder Zieh- 
mutter kam, in jenes, fur die Entwickelung der Menschheit so un- 
endlich bedeutungsvolle Gesprach. Jetzt, wahrend dieses Gespraches, 
wurde Jesus von Nazareth gewahr, wie er wirklich in das Herz der 



Stiefmutter hineingieBen konnte, was er seit seinem zwolften Lebens- 
jahre erlebt hatte. Jetzt konnte er allmahlich ihr gegeniiber in Worte 
fassen, was er durchgemacht hatte. Und er tat es. Er erzahlte, was er 
gegeniiber dem Verfalle des Juden- und des Heidentums, gegen- 
iiber den Essaern, gegeniiber der Einsiedelei der Essaer gefiihlt hatte. 
Und es war so, daB diese Worte, die aus der Seele des Jesus zur Seele 
der Stief- oder Ziehmutter hiniibergingen, nicht wirkten wie gewohn- 
liche Worte, sondern so, als ob er jedem seiner Worte etwas hatte 
von der ganzen Kraft seiner Seele mitgeben konnen. Sie waren be- 
fliigelt von dem, was er gelitten hatte, was unmittelbar aus seinem 
Leid an Liebe, an Heiligkeit der Seele geworden war. Verbunden 
war er selbst mit diesem seinem Leid, seiner Liebe, so daB etwas von 
seinem Selbst auf den Fliigeln seiner Worte hinuberschwebte in das 
Herz, in die Seele dieser Stief- oder Ziehmutter. 

Und dann, nachdem er erzahlt hatte das, was er so durchlebt hatte, da 
brachte er noch etwas vor, was sich ihm als Erkenntnis ergeben 
hatte und was ich jetzt zusammenfassen will in Worte, die wir in der 
Geisteswissenschaft gewonnen haben. Es wird dadurch allerdings das, 
was Jesus von Nazareth zu seiner Stief- oder Ziehmutter gesagt hat, 
nur seinem eigentlichen Sinne nach getreu gesagt werden, die Worte 
werde ich aber so wahlen, daB Sie sie leichter verstehen konnen, als 
wenn ich unmittelbar in deutschen Worten stammle, was sich mir 
aus Bildern der Akasha-Chronik ergab. Jesus von Nazareth sprach 
zu seiner Stief- oder Ziehmutter, wie ihm an all seinem Schmerz auf- 
gegangen war das Geheimnis der Menschheitsentwickelung, wie die 
Menschheit sich entwickelt hatte. So sagte er zu ihr: Ich habe erkannt, 
daB einstmals die Menschheit durchgemacht hat eine uralte Epoche, 
in der sie, ihr unbewuBt, in frischester Kindeskraft die hochsten 
Weisheiten empfangen hat. - Er deutete mit diesen Worten an, was 
wir in der Geisteswissenschaft bezeichnen als die erste nachatlantische 
Kulturepoche, wo die heiligen Rishis des alten indischen Volkes ihre 
groBen, gewaltigen Weis turner an die Menschheit heranbringen konn- 
ten. Aber diese Weistiimer, sie sah Jesus von Nazareth so, daB er 
sich sagen konnte: Wie waren diese Weistiimer von den heiligen 
Rishis aufgenommen worden, welche Krafte waren in den Seelen der 



Rishis und im ganzen uralt indischen Volk tatig? Es waren Krafte, 
die sonst nur in der Kindheit, zwischen der Geburt und dem sieben- 
ten Jahre im Kinde waken, die dann absterben fur die Einzelmenschen, 
damals aber ergossen waren iiber die gesamten menschlichen Alters- 
stufen. Dadurch, daB ausgebreitet waren iiber das gesamte mensch- 
liche Alter die Kindheitskrafte, dadurch flossen inspirierend, intuitie- 
rend diese uralten heiligen gottlichen Wahrheiten hernieder in das 
menschliche Germit. Aber mit dieser ersten Epoche der Menschheit 
in der nachatlantischen Zeit, die wir als die altindische Kulturepoche 
bezeichnen, die Jesus von Nazareth seiner Mutter gegenuber verglich 
mit dem ersten Kindesalter, mit dem Voriibergehen dieser Epoche 
war auch die Moglichkeit voriibergegangen, die Krafte der Kindheit 
bis ins spatere Alter hinauf noch zu bewahren. Sie schwanden dahin 
und daher war die Menschheit nicht mehr imstande, das was ihr einst- 
mals geoffenbart worden war, jetzt in sich aufzunehmen und sich das 
zu erhalten. Weiter sprach Jesus von Nazareth davon, daB dann eine 
Epoche folgte, welche sich vergleichen lasse mit dem menschlichen 
Alter vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr, wo aber die 
Krafte, die sonst nur vom siebenten bis zum vierzehnten Lebens- 
jahre da sind, iiber das ganze Menschenleben ausgegossen waren, so 
daB die Menschen sie noch als Greise erlebten. Dadurch daB das der 
Fall war, daB noch spatere Altersstufen von diesen Kraften durch- 
setzt sein konnten, war es moglich in dieser zweiten, der urpersischen 
Epoche, jene Weistiimer zu erlangen, die wir als die Zarathustra- 
Weistiimer anerkennen, die Jesus von Nazareth jetzt von der Mensch- 
heit durch Unverstandnis zuriickgewiesen sah. Uber die dritte Epoche, 
in die Jesus von Nazareth zuriickblicken konnte und von der er jetzt 
zu seiner Mutter sprach, war ausgegossen iiber alle Menschenalter 
das, was sonst zwischen dem vierzehnten und dem einundzwanzigsten 
Jahre erlebt wird, so daB die Menschen noch mit funfzig, sechzig 
Jahren die Krafte hatten, die sonst nur bis zum einundzwanzigsten 
Lebensjahre wirken. Dadurch waren erlangbar fiir diese dritte Epoche 
jene bedeutenden Wissenschaften vom "Wirken der Natur, die wir so 
bewundern, wenn wir eindringen in die agyptische, in die uralt chal- 
daische Wissenschaft, eindringen in die wahren Grundlagen ihres 



astrologischen Wissens, jenes tiefen Wissens, das nicht bloB von der 
Erde, sondern von den Weltgeheimnissen handelt in ihrer Wirkung 
auf die Menschen, und wovon die spatere Menschheit nur noch wenig 
verstehen konnte. Aber auch das dritte Zeitalter erblickte Jesus von 
Nazareth dahinschwindend. So wie der einzelne Mensch alt wird, 
sagte er, so ist die Menschheit alter geworden. 

Die gewaltigsten Impulse hat die griechische Kultur durch die 
Mysterienweisheit erhalten, die in ihr eine Hochbliite des philosophi- 
schen Denkens und der Kunst hervorrief, aber auch den Ubergang 
in die vierte Kulturperiode bewirkte, in der wir selbst leben, die schon 
an die Selbstandigkeit des Menschen appelliert und neue soziale Ge- 
bilde scharTt, die mit der Abhangigkeit vom alten Mysterienwesen 
brechen. Der Verfall der alten Mysterien beginnt mit dem Aufstieg 
der neuen Staatenwesen und deren Rivalitaten untereinander; aber 
auch der schnelle intellektuelle Aufstieg ist damit verbunden. Die 
Krafte, die nur Geringstes erfassen konnen, wenn sie iiber das ganze 
Menschenalter ausgegossen sind, sind jetzt da. Wir leben innerhalb 
einer Menschheit, die nur noch begreifen kann mit den Kraften, die 
der Menschheit eigen sind zwischen dem einundzwanzigsten und acht- 
undzwanzigsten Lebensjahre. Aber wenn diese Kulturperiode hm- 
geschwunden sein wird, dann wird die Menschheit ihr mittleres Zeit- 
alter erreicht haben; damit ist ein gewisser Hohepunkt erreicht, der 
nicht weiter gehalten werden kann. Der Abstieg muB, wenn auch 
zuerst langsam, beginnen. Die Menschheit tritt in ein Zeitalter ein, 
wo die Krafte ersterben, in einer ahnlichen Weise, wie der einzelne 
Mensch in den DreiBigerjahren das Lebensalter erreicht, von dem an 
der Abstieg beginnt. Der Abstieg der ganzen Menschheit beginnt mit 
dem nachsten Zeitalter schon, so sagte Jesus von Nazareth, indem 
der ganze Schmerz iiber diesen kiinftigen Niedergang der Menschheit 
durch seine Seele zog. Die Menschheit selbst, sagte er, tritt in das 
Zeitalter ein, wo die ursprunglichen Krafte erstorben sind. Wahrend 
aber fur den einzelnen Menschen gleichsam noch die Jugendkrafte 
weiterwirken konnen, kann das fur die gesamte Menschheit nicht der 
Fall sein. Sie muB in ein unbesiegbares Greisenalter hineingehen, wenn 
keine neuen Krafte in sie kommen. Verodet sah er im voraus die 



Erdenkultur, wenn keine jungen Krafte hineinkommen. Versiegt sind 
die natiirlichen Krafte, wenn die Menschheit in das Zeitalter eintritt, 
das fur den einzelnen Menschen ablauft vom achtundzwanzigsten bis 
zum fiinfunddreiBigsten Lebensjahre. Wenn sich dann keine anderen 
Quellen offnen, so wiirde die Menschheit vergreisen. 

Solches zusammenfassend sprach Jesus von Nazareth zu seiner 
Mutter: Was soli aus der ganzen Menschheit werden, wenn sie dem 
Schicksal des einzelnen Menschen verfallen ist? - Vor der Wucht 
dieser Frage fiihlte denn Jesus und mit ihm die Stiefmutter die Not- 
wendigkeit eines neuen geistigen Impulses. Etwas miiBte kommen, 
was nur von auBen kommen konnte, was in der Menschheit selber 
nicht war, weil in dem Menschen etwas Neues an innermenschlichen, 
nicht mit der Sinneswelt zusammenhangenden Kraften nach diesem 
mittleren Lebensalter nicht mehr sich frei entfalten konnte. Es muBte 
etwas von auBen erwartet werden, was sonst in der Zeit zwischen 
dem achtundzwanzigsten und fiinfunddreiBigsten Lebensjahre aus 
dem Inneren wachst. Und mit einer ungeheuren Gewalt, die mit 
nichts zu vergleichen ist, entrang sich der Seele des Jesus von Naza- 
reth der Schmerz dariiber, daB nichts in der Umwelt vorhanden sei, 
was Krafte der Erneuerung in die verfallende Menschheit hinein- 
gieBen konne. 

So war dieses Gesprach vor sich gegangen und mit jedem Wort 
floB etwas wie vom eigenen Selbst hiniiber in die Stief- oder Zieh- 
mutter. Die Worte hatten Fliigel und in ihnen driickte sich aus, daB 
sie nicht bloB Worte waren, sondern daB sich etwas herausrang aus 
der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth, was eben wie sein Selbst 
war, was eins geworden war mit seinem Schmerz und seiner Liebe- 
macht. In diesem Augenblick, da sein Selbst sich losrang, leuchtete 
in ihm fur einen Augenblick auf, was dieses Selbst in Wahrheit war: 
das BewuBtsein von dem eigenen Ich als dem des Zarathustra. Er- 
glanzend, wie einen Augenblick erglanzend fiihlte er sich als Ich des 
Zarathustra. Doch war es ihm so, als ob dieses Ich aus ihm heraus- 
ginge und ihn wieder allein HeBe, so daB er wieder derjenige war, 
nur groBer, gewachsen, der er in seinem zwolften Lebensjahre ge- 
wesen war. 



Auch mit der Mutter war eine ungeheure Veranderung vor sich 
gegangen. Wenn man in der Akasha-Chronik forscht, was sich da 
zutragt, so kommt man darauf, dafi bald nachdem Jesus aus der 
nathanischen Linie das zwolfte Jahr erreicht hatte und in ihm das 
Zarathustra-Ich innewohnend geworden war, die Seele seiner leiblichen 
Mutter in die geistigen Regionen hinaufgestiegen war. Nun senkte 
sie sich als Seele wieder herab und beseelte seine Stiefmutter, die da- 
durch wie verjiingt wurde. So war nun durchgeistigt von der Seele 
seiner eigenen Mutter die Stief- oder Ziehmutter, die die leibliche 
Mutter des salomonischen Jesusknaben war. So wandelte von jetzt ab 
auch wiederum auf der Erde in einem physischen Leibe herum, im 
Leibe der Mutter des salomonischen Jesusknaben, die Seele der leib- 
lichen Mutter des nathanischen Jesusknaben. Er selber aber war wie 
allein mit seinen drei Leibern, aber von all den Erlebnissen aufs 
hochste durchgeistigt, allein mit seinem physischen, atherischen und 
astralischen Leibe; das Selbst jedoch war weggegangen. Es wohnte ja 
in diesem physischen, Ather- und Astralleib alles das, was aus dem Ich 
des Zarathustra stammte. Obwohl das Zarathustra-Ich sich heraus- 
gezogen hatte, waren alle seine Eindriicke zuruckgeblieben. Das be- 
wirkte, daB in dieser merkwurdigen Personlichkeit, die Jesus von 
Nazareth jetzt war, nachdem das Ich des Zarathustra von ihm ge- 
wichen, etwas ganz Besonderes war. Und was da in ihr war, das stellte 
sich mir, als ich in diesem Funften Evangelium den weiteren Fort- 
gang erblicken konnte, so dar wie ich es schildere. 

Nachdem das Gesprach mit der Mutter stattgefunden hatte, regte 
sich jetzt in Jesus von Nazareth, aus dem das Ich des Zarathustra fort 
war, etwas wie ein Drang, der sich wie ein machtiger kosmischer Trieb 
ausnahm, der das, was jetzt von ihm da war, zu den Ufern des Jordan 
hindrangte, zu Johannes dem Taufer. Auf dem Wege dahin begegnete 
dieses merkwiirdige Wesen - denn ein solches war jetzt der Jesus von 
Nazareth, ein Wesen, das hochste Menschlichkeit, wie sie sonst nur 
vereinbar ist bei voll entwickelten vier menschlichen Gliedern, nur in 
drei menschlichen Hullen hintrug iiber den Erdboden, ein Wesen, das 
sich innerlich anders erfuhlte als ein Mensch, das aber auBerlich die 
menschliche Gestalt hatte -, es begegnete dieses Wesen nach dem Ge- 



sprach mit der Mutter, nachdem es den Drang in sich verspiirt hatte, 
zum Jordan hin zu Johannes dem Taufer zu gehen, zwei Essaern, 
zwei von jenen Essaern, die Jesus gut kannten. Sonderbar kam ihnen 
freilich vor, was da aus seinen Ziigen sprach; aber sie erkannten ihn 
doch an der auBeren Gestalt, die sich nicht verandert hatte, die deut- 
lich zu erkennen war. Aber sonderbar empfanden sie ihn. Durch die 
Veranderung, die mit ihm vorgegangen war, hatten seine Augen einen 
ganz besonderen Ausdruck bekommen. Es sprach etwas aus diesen 
Augen wie inneres Licht, das milde glanzte, wie die im Licht ver- 
korperte, nicht irdische, sondern himmlische Menschenliebe. Einen 
alten Bekannten sahen die beiden Essaer in ihm. So empfanden sie ihn, 
da6 sie sich nicht entziehen konnten dem ungeheuer milden, dem bis ins 
Unendliche gesteigerten milden Blick des Jesus, wie er jetzt war. Dann 
aber wiederum, wenn sie in diese Augen schauten, fuhlten sie zugleich 
etwas wie einen Vorwurf, der nicht von ihm kam, der etwas war wie eine 
Kraft, die in ihrer eigenen Seele erquoll, hineinstrahlte in sein Auge und 
zuriickstrahlte, gleichsam wie mildes Mondenlicht, aber wie ein un- 
geheurer Vorwurf iiber ihr eigenes Wesen, uber das, was sie waren. 

Nur mit solchen Worten kann ich schildern, was konstatierbar ist 
durch den Blick in die Akasha-Chronik, was diese Essaer in der Seele 
des Jesus von Nazareth sahen, die sie durch seinen Leib, also durch 
seinen physischen, atherischen und astralischen Leib erfiihlten, die 
sie auf sich blicken sahen, die sie vernahmen. Schwer war fur sie seine 
Nahe auszuhalten; denn es wirkte unendliche Liebe, die aber doch 
gleichzeitig etwas wie ein Vorwurf fur sie war. Tief anziehend emp- 
fanden sie seine Nahe, von der sie doch wiederum zugleich den Drang 
hatten, wegzukommen. Einer von ihnen raffte sich aber auf, da sie 
beide ihn aus vielen Gesprachen, die sie mit ihm gehabt hatten, kann- 
ten, und frug ihn: Wohin geht dein Weg, Jesus von Nazareth? - Die 
Worte, die Jesus dann sprach, konnte ich etwa so in Worte der deut- 
schen Sprache iibersetzen: Dahin, wohin Seelen eurer Art nicht blicken 
wollen, wo der Schmerz der Menschhek die Strahlen des vergessenen 
Lichtes finden kann! - Sie verstanden seine Rede nicht und merkten, 
daB er sie nicht erkannte, daB er nicht wuBte, wer sie waren. An der 
befremdlichen Art seines Blickes, der gar nicht war wie ein Blick, der 



die Menschen anschaut, die er kennt, aus seinem ganzen Verhalten und 
aus der Art, wie er die Worte sprach, merkten sie, daB er sie nicht er- 
kannte. Und da raffte sich noch einmal einer der Essaer auf und sprach : 
Jesus von Nazareth, erkennst du uns nicht? - Und dieser gab zur Ant- 
wort etwas, was ich eben nur in folgenden Worten der deutschen 
Sprache wiedergeben kann: Was seid ihr fur Seelen? Wo ist eure 
Welt? Warum umhullt ihr euch mit tauschenden Hiillen? Warum 
brennt in eurem Innern ein Feuer, das in meines Vaters Hause nicht 
entfacht ist? - Sie wuBten nicht, wie ihnen geschah, wuBten nicht, 
was mit ihm los war. Noch einmal rafFte sich einer der beiden Essaer 
auf und fragte : Jesus von Nazareth, kennst du uns denn nicht? - Jesus 
antwortete: Ihr seid wie verirrte Lammer; ich aber war des Hirten 
Sohn, dem ihr entlaufen seid. Wenn ihr mich recht erkennet, werdet 
ihr alsbald von neuem entlaufen. Es ist so lange her, daB ihr von mir 
in die Welt entflohen seid. - Und sie wuBten nicht, was sie von ihm 
halten sollten. Dann sprach er weiter: Ihr habt des Versuchers Mai 
an euch ! Er hat mit seinem Feuer eure Wolle gleiBend gemacht. Die 
Haare dieser Wolle stechen meinen Blick ! - Und sie empfanden, daB 
diese seine Worte etwas waren wie der Widerhall ihres eigenen Wesens 
aus seinem Wesen. Und dann sprach Jesus weiter : Der Versucher traf 
euch nach eurer Flucht. Er hat eure Seelen mit Hochmut durch- 
trankt ! - Da ermannte sich einer der Essaer, denn er fiihlte etwas Be- 
kanntes, und sprach: Haben wir nicht dem Versucher die Tiire ge- 
wiesen? Er hat kein Teil mehr an uns. - Darauf sprach Jesus von 
Nazareth : Wohl wieset ihr ihm die Tiire ; doch er lief hin zu den ande- 
ren Menschen und kam iiber sie. So ist er nicht um euch, so ist er in 
den anderen Menschen! Ihr schaut ihn uberall. Glaubt ihr, daB ihr 
euch erhoht habt, indem ihr ihn aus euren Toren wieset? Ihr seid so 
hoch geblieben, wie ihr waret. Hoch scheint ihr euch geworden, weil 
ihr die anderen erniedrigt habt. In dem Verkleinern der anderen seid 
ihr scheinbar hoch gekommen. 

Da erschraken die Essaer. In diesem Augenblick aber, wo unend- 
liche Furcht iiber sie kam, war ihnen, wie wenn Jesus von Nazareth 
sich in Nebel aufgelost hatte und vor ihren Augen verschwunden 
ware. Dann aber waren ihre Augen gebannt von diesem verschwin- 



denden Wesen des Jesus von Nazareth und sie konnten ihre Blicke 
nicht abwenden von dort, wohin sie gerichtet waren. Da fiel ihr Blick 
wie in kosmischer Feme auf eine riesengroBe Erscheinung, die wie 
das ins MaBlose vergroBerte Gesicht des Jesus von Nazareth war, das 
sie eben noch gesehen hatten. Was aus seinen Zugen zu ihnen ge- 
sprochen hatte, das sprach jetzt mit RiesengroBe aus diesen ver- 
grbBerten Ziigen, die sie wie bannten. Sie konnten den Blick nicht ab- 
wenden von der Erscheinung, deren Blick wie aus weiter Feme auf 
sie gerichtet war. Dadurch senkte sich in ihre Seelen etwas wie ein 
Vorwurf, was ihnen vorkam wie verdient auf der einen Seite, aber wie 
unertraglich auf der anderen Seite. Wie in eine Fata Morgana am 
fernen Himmel verwandelt, so erschien diesen beiden Essaern riesen- 
haft vergroBert der Jesus, und auch die Verhaltnisse, die in den Wor- 
ten lagen, erschienen ins Riesenhafte vergroBert. Aus dieser Vision 
heraus, aus diesem Gesicht, ertonten die Worte, die etwa in der folgen- 
den Weise in deutscher Sprache wiedergegeben werden konnen : Eitel 
ist euer Streben, weil leer ist euer Herz, das ihr euch erfiillet habt mit 
dem Geiste, der den Stolz in die Hiille der Demut tauschend birgt. 

Das hatte das Wesen gesprochen zu den ihm begegnenden Essaern, 
nachdem das Ich des Zarathustra sich aus den leiblichen Hiillen des 
Jesus herausgelost hatte und Jesus wiederum das geworden war, nur 
erwachsen, was er in seinem zwolften Jahre gewesen war, aber jetzt 
durchdrungen mit alledem, was das Ich des Zarathustra und alles das 
Erlebte, von dem ich erzahlt habe, hineinsenken konnten in diesen 
eigenartigen Korper, der seine Eigenart schon dadurch angekiindigt 
hatte, daB er gleich nach seiner Geburt wunderbare Worte der Weis- 
heit sprechen konnte, in einer nur dem Gefuhl der Mutter verstand- 
lichen Sprache. 

Das ist das, was ich Ihnen heute geben wollte in einer einfachen 
Erzahlung, die zunachst bis zu dem Wege geht, den Jesus von Naza- 
reth nach dem Gesprach mit seiner Mutter zu Johannes dem Taufer, 
zum Jordan hin nahm. Ubermorgen wollen wir dann in der Erzah- 
lung fortfahren und versuchen, die Briicke zu schlagen zu dem, was 
wir versucht haben zu begreifen als die Bedeutung des Mysteriums 
von Golgatha. 



Munchen, 10. December 1913 
Zweiter Vortrag 



Bevor ich fortfahren werde, Ihnen einiges Weitere aus dem Fiinften 
Evangelium mitzuteilen, gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu 
machen, die zusammenhangen mit der Bekanntgabe dieses Fiinften 
Evangeliums. Es wird keineswegs im weiteren Kreise der Gegenwart 
schon die Bedeutung desjenigen erfaBt, was durch den Okkultismus, 
die Geisteswissenschaft an unsere Zeit herangebracht werden soil, 
denn es ist noch alLzuwenig Neigung vorhanden in weiteren Krei- 
sen, sich zu befassen mit denjenigen Kulturelementen unserer Zeit, 
namentlkh den geistigen Kulturelementen und denen, die einen 
Aufstieg bedeuten und gewissermafien der Anfang sind zu einer Er- 
neuerung unseres geistigen Lebens, und die doch keine andere Ge- 
stalt annehmen konnen als die, welche zu einer, wenn auch heute noch 
so sehr verponten Bekanntschaft mit den Tatsachen der konkreten 
okkulten Forschung fiihren. 

Die Bitte vor alien Dingen mochte ich an Sie richten, im Zusam- 
menhang mit dem eben Gesagten zu bedenken, daB solche Mitteilun- 
gen aus konkreter okkulter Forschung heute noch mit einer gewissen 
Pietat behandelt werden miissen. Unsere Zeit ist ganz und gar nicht 
geneigt, ohne weiteres solche Dinge aufzunehmen und nur das Mit- 
leben, das Mit-ihnen-Empfinden aus Lebensimpulsen, die wir in uns 
aufnehmen in unserem anthroposophischen Zusammensein, macht 
unsere Seelen geeignet, diese Dinge im rechten Licht zu sehen. Wenn 
sie aber an Unvorbereitete iibertragen werden, dann zeigt schon das, 
was durch den Druck der Offentlichkeit iibergeben werden muBte 
iiber die beiden Jesusknaben, wie wild auch die Gutmeinendsten wur- 
den. Ich will ganz absehen von den zahlreichen torichten Angriffen, 
die gegen solche Dinge gerichtet werden. Wie wild und leidenschaft- 
lich sind solche Dinge aufgenommen worden! Man kann sich heute 
nicht denken, daB aus der geistigen Welt heraus Erkenntnisse, die 
weniger einen abstrakten, die einen so konkreten Charakter haben wie 



die Forschungsergebnisse, die vorgestern mitgeteilt worden sind, 
wirklich als Erkenntnisse herausgeholt werden konnen. Das hangt zu- 
sammen - wenn es auch nicht ohne weiteres erkennbar ist, daB es 
zusammenhangt - mit jener griindlichen Oberflachlichkeit nament- 
lich auch des Denkens und Vorstellens, welche unsere zeitgenossische 
Weltanschauungsliteratur ergriffen hat. 

Nicht urn uberfiussigerweise kritisch zu sein, erwahne ich gerade 
innerhalb unserer Zweige das eine oder das andere, sondern um unsere 
Freunde aufmerksam zu machen, wie jammerlich es steht auch mit 
der reinen Denklogik in unserer Zeit. Es ist in unserer Zeit nicht vor- 
handen Unterscheidungsvermogen. Man nimmt, mehr als man glaubt 
- namentlich da man immer schreit iiber das sich Emanzipieren von 
jeglicher Autoritat -, gern und willig alles auf Autoritat hin an, be- 
sonders in den Kreisen, die sich heute oft fur die gebildetsten halten. 
Man erlebt solche Dinge immer wieder, die - selbst wenn es nur durch 
Inanspruchnahme der Zeit geschehen kann, die sonst besser zu ver- 
wenden ware - erwahnt werden miissen, Dinge wie ich sie in Berlin 
erleben muBte bei einem Vortrag, den ich in einem Weltanschauungs- 
bund iiber Giordano Bruno hielt und wo ich zu erwahnen hatte - es ist 
das lange her -, wie wenig unsere Zeit geeignet ist, sich in das Ge- 
dankengefuge groBer Personlichkeiten wie Giordano Bruno wirklich 
hineinzufinden. Ich machte damals aufmerksam auf die Denk- 
verirrung, die mit einer Empfindungsverirrung zusammenhangt, in 
einem damals beriihmten Buch, in Harnacks «Wesen des Christen- 
tums». 

Ich habe gestern im ofFentlichen Vortrag bemerkt, dafi ich, wenn 
ich etwas erwahne, um es zu bekampfen, nicht damit sagen will, daB 
die Kapazitat, die Wissenschaftlichkeit dieser Personlichkeit damit ab- 
fallig beurteilt werden soli. Ich will damit gerade zeigen, wie das Be- 
deutende zu gleicher Zeit verheerend wirkt durch die suggestive Wir- 
kung. So muBte man dazumal die Erfahrung machen, daB diese 
Schrift, «Wesen des Christentums », von einem der beruhmtesten Theo- 
logen der Gegenwart als etwas sehr Bedeutendes angesehen worden 
ist. Da geht man nicht ein auf Einzelheiten. Da wird in dieser Schrift 
vertreten zum Beispiel die Anschauung iiber die Auferstehung des 



Christus Jesus, die etwa so lautet: Was auch geschehen sein mag 
damals in Palastina, das konnen wir heute nicht mehr wissen, so 
daB man den Auferstehungsbegriff nicht zu rekonstruieren braucht; 
aber ausgegangen ist von dieser Tatsache in Palastina der Glaube 
an die Auferstehung. An diesen Glauben halte man sich, gleichgiil- 
tig was geschehen sein mag, das zu diesem Glauben gefuhrt haben 
konne. 

Der Vorsitzende dieses Weltanschauungsbundes sagte mir nach 
dem Vortrag, er habe Harnacks «Wesen des Christentums» genau ge- 
lesen, aber er habe diese Stelle in dem Buche nicht gefunden. Das 
ware ja eine katholische Anschauung. Die Katholiken sagen: Es 
kommt nicht darauf an, ob das in Trier der Heilige Rock sei, sondern 
auf den Glauben, daB es der Rock sei. Er wandte sich zwar dagegen, 
erklarte aber, es stande nicht in dem Buch. Am nachsten Tag schrieb 
ich ihm die Seite, wo es selbstverstandlich steht. Der gelehrte Herr 
liest einfach dariiber hinweg. So verheerend ist heute alles das, was 
als Autoritat suggestiv wirkt, daB man es nicht bemerkt, aber die- 
jenigen, die sich im wahren Sinne Anthroposophen nennen, miissen 
so etwas merken, denn es ist das Allerverheerendste in der heutigen 
Geisteskultur. 

Der Name Eucken ist bekannt als der des Wiederherstellers des 
Idealismus. Eine beruhmte Preisstiftung ist ihm zuteil geworden. Er 
soil darum nicht beneidet werden. Er schrieb ein Buch unter dem 
Titel: « Konnen wir noch Christen sein?» Da findet sich, daB auf 
einer Seite gesagt wird: Solche Dinge konnen wir als Gebildete der 
Gegenwart nicht mehr hinnehmen, daB Leute von Damonen spre- 
chen, wie zur Zeit als Christus auf der Erde wandelte. An Damonen 
kann kein gebildeter Mensch der Gegenwart mehr glauben. 

Wenn der « gebildete » Mensch der Gegenwart das liest, so fuhlt er 
sich sehr geschmeichelt. Der ihm das Kompliment macht, ist sein 
Mann. Ob dieser Gebildete merkt, daB sich einige Seiten weiter in 
demselben Buche ein anderer Satz findet «Die Beriihrung von Gott- 
lichem und MenschKchem erzeugt damonische Machte»? Das wird 
so hiibsch hingenommen. Wenn man das anfiihrt als Unsinn, hort 
man die Antwort: Das meint er nicht im Sinne des Damonischen. - 



Wenn man diese Antwort hort, muB man besonders betriibt sein, 
denn aus dieser Antwort wird vollstandig klar, da8 man heute die 
Worte in gewissenloser Weise braucht, ohne daran zu denken, ihnen 
den Sinn zu geben, den sie haben sollen. Das ist das Furchtbare. 

Daher kann es audi nur kommen, daB eine so betriibende Erschei- 
nung zutage getreten ist wie das Buch, das jetzt schon, trotzdem es 
drei dicke Bande umfaBt, eine zweite Auflage erlebt, das Buch «Kri- 
tik der Sprache» von Frit^ Mauthner, der durch die Verfassung eines 
groBen philosophischen Wtirterbuches der Mann fur viele geworden 
ist. Solche Erscheinungen miissen heute besprochen werden, wenn 
es auch nicht angenehm ist. Die «Kritik der Sprache» soil die letzte 
bedeutende Kritik alles philosophischen Weltanschauungsstrebens 
sein. Ganz bedeutend ist das Buch im Sinne der auBeren Gescheitheit 
der Gegenwart. Nicht bestritten soil werden, daB es ein bedeutendes 
Buch ist, voller geistreicher Apercus. Abgekanzelt wird da die ganze 
Weltanschauungsvergangenheit der Menschheit. Bei der Abkanze- 
lung einer Weltanschauungsstromung, die mir auch nicht sympathisch 
sein kann, gebraucht der Kritiker ganz ernsthaft folgendes Bild : Der 
da von dieser Weltanschauung spricht, ist wie ein Clown, der auf eine 
freistehende Leiter steigt und sie dann, oben angekommen, zu sich 
hinaufziehen wollte. Er wird herunterpurzeln. - Aber ich bitte Sie: 
Wie macht man das, wenn man eine Leiter senkrecht aufgestellt hat 
und hinaufgestiegen ist und dann oben sie zu sich hinaufzieht und 
dann herunterpurzelt? Wie vollzieht man einen solchen Gedanken, 
ohne gedankenlos zu sein? Diesen hohlen Gedanken bemerken die 
meisten Leute nicht, weil heute wenig Ubung in der Logik da ist. 
Sonst wiirde man bemerken, daB heute in jedem zweiten Buch auf 
jeder zwanzigsten Seite solche Ungedanken sich finden. Das muB auch 
einmal erwahnt werden, weil es charakteristisch ist dafiir, wie heute 
gedacht wird, wie das Denken suggestiv beeinfluBt wird. Ich habe 
dieses Beispiel nicht ohne Bedeutung angefuhrt, denn fur den der 
denken kann, ist das ganze Buch mit derselben Logik geschrieben, 
aber man merkt es nicht. Viele werden nicht einmal die Unmoglich- 
keit dieses Gedankens bemerken, sondern so, wie das Geistesleben 
heute nun einmal ist, wird eine solche literarische Erscheinung als 



etwas ungeheuer Bedeutendes ausposaunt und viele glauben, daB das 
so ist, studieren es, und aus der Summe derer, die in einer solchen 
Weise denken konnen, rekrutieren sich die Gegner der Geisteswissen- 
schaft. 

Ich finde es brutal, daB ich dieses zu sagen genotigt bin, aber es 
muB schon einmal gesagt werden, weil Sie nicht ungewarnt sein sol- 
len vor dem, was heute passiert. Wenn auch nicht viele das Buch 
lesen werden, aber das, was davon abstammt, wandert in viele Biicher 
und Vortrage und figuriert als Logik. Daher kommt es ja, daB es so 
unendlich schwierig ist gegemiber dem unreifen Denken unserer Zeit, 
nicht nur mit geisteswissenschaftlichen Gedanken zu kommen, son- 
dern mit den poskiven Resultaten der Akasha-Forschung, von denen 
ich das letzte Mai sprach. Das notigte mich zum Aussprechen der 
Worte, die eben gebraucht worden sind, daB wirklich von unseren 
Freunden empfunden werden sollte die Notwendigkeit, sich griind- 
lich und tief zu durchdringen - gerade dann, wenn es sich darum 
handelt, Dinge zu behandeln, bei denen das gewohnliche Denken 
nicht mehr ausreichen kann - mit der Anschauung von der Notwen- 
digkeit eines streng geschulten Denkens. Sonst wird es selbstver- 
standlich noch lange dauern, bis wir dahin kommen, daB wir gegen- 
iiber dem Denknebel unserer Zeit, der sich so kritisch gebardet, mit 
positiver okkulter Forschung durchkommen. Selbstverstandlich kann 
diese nur einer aufnehmen, der seine Seele durch die Ergebnisse der 
Geisteswissenschaft, die mehr in Gedanken gepragt werden konnen, 
erst vorbereitet hat. Zu solchen nur kann man sprechen von Dingen, 
in die man mit bloBen Gedanken nicht mehr hineinkommen kann, 
sondern die erzahlt werden mxissen, wie sie sich ergeben aus der 
Akasha-Forschung. Nicht unzusammenhangend - trotzdem es nur 
Erzahlungen sind, was ich als Fiinftes Evangelium gab - sind sie mit 
dem, was in strengem Gedankengefuge auch die Geistesforschung zu 
geben hat, wenn es auch nicht sogleich so erscheint. 

Die Ablehnung dieser konkreten Forschungsresultate riihrt von 
nichts anderem her als davon, daB das moderne Denken zu stumpf ist, 
um wirklich in die Ergebnisse der Geistesforschung einzudringen. 
Erkennen sollte man, daB es naturlich ist, daB ein Mensch, der solche 



Gedanken formen kann wie sie angefiihrt wurden, gar nicht in der 
Lage ist, in die Geisteswissenschaft wirklich einzudringen. Das ergibt 
die Richtlinie, die wir einhalten sollen gegeniiber dem, was sich heute 
vielfach als philosophische Weltanschauungsliteratur briistet. Das 
macht notwendig, daB wir uns gerade bei Besprechung solcher Dinge 
durchdringen mit dem Gedanken von der Notwendigkeit, daB solche 
Dinge gegenwartig wenigstens an einige Seelen herankommen, damit 
sie allmahlich in der richtigen Weise in das Geistesleben der Gegen- 
wart einflieBen. 

Nun habe ich ofter auf das Mysterium von Golgatha hingewiesen, 
auf die Momente davon, welche durchaus einem strengen Denken 
begreif lich sein miissen, wenn dieses einsetzen will in der Betrachtung 
der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Eine wirkliche 
Betrachtung der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit haben 
wir im Grunde genommen gar nicht. Wir haben heute keine Ge- 
schichte, kein verstandnis voiles Eindringen in das, was geschehen ist. 
Haben wir das einmal, dann wird man erkennen, wie in der Zeit vor 
dem Mysterium von Golgatha in der Tat die Menschheitsentwicke- 
lung eine absteigende war, und wie durch Golgatha ein Impuls ein- 
trat, wodurch der Menschheit jene Verjiingung gegeben wurde, die 
die alt gewordenen Kulturkrafte influenzierte. Durch die Betrach- 
tung der konkreten Ereignisse, die sich in Palastina abspielten, wird 
wahrhaftig dieser allgemeine Gedanke nicht herabgestimmt, er wird 
im Gegenteil erhoht durch Erkennen des Konkreten, das sich zu- 
getragen hat. 

Vorgestern bin ich in der Erzahlung gekommen bis dahin, wo der 
Jesus von Nazareth nach dem Gesprach, das er mit seiner Ziehmutter 
hatte und wo das Ich des Zarathustra sich losgelost hatte von den 
drei Leibern, die dann in einer eigenartigen Zusammenfugung ohne 
ein menschliches Erden-Ich waren, den zwei Essaern begegnete. Ich 
habe versucht, diese Szene zu schildern; geschildert habe ich sie bis 
zu dem Punkte, wo Jesus, nachdem er mit ihnen sprach, ihnen gegen- 
uberstand, wie wenn er sich auf loste, und sie ihn erblickten wie eine 
Fata Morgana, aus der die Worte ertonten: Eitel ist euer Streben, weil 
leer ist euer Herz, weil ihr euch erfullt habt mit dem Geiste, der den 



Stolz in der Hiille der Demut tauschend birgt. - Als sie das gehort 
hatten, diese zwei Essaer, waren ihre Augen fur eine Weile wie ge- 
triibt. Sie sahen ihn dann erst wieder, als er schon eine Strecke weiter- 
gegangen war. Ich konnte aus der Akasha-Chronik konstatieren, daB 
die beiden Essaer tief betroffen waren von dem, was sie erlebt hatten, 
und schweigsam wurden von diesemTage an und den anderen Essaern 
nichts erzahlten. 

Als Jesus eine Strecke weitergegangen war, begegnete er einem 
Menschen, der den Eindruck machte des tiefsten Leides, des GepreBt- 
seins, des Bedriicktseins. Gesenkten Hauptes, auch physisch bedriick- 
ten Leibes ging der BetrefTende dem Jesus entgegen. Da vernahm er, 
wie jene Wesenheit, die ich vorgestern gerade als den Jesus zu dieser 
Zeit charakterisierte, Worte zu ihm sprach, die wie aus tief stem Quell 
dieser Wesenheit heraus tonten. Dieser gepreBte Mann horte, daB 
Jesus sprach: Wozu hat deine Seele ihr Weg gefiihrt? Ich kannte dich 
einst vor Jahrtausenden, vor vielen Jahrtausenden, da warst du anders. - 
Es fuhlte sich dieser gepreBte Mensch gedrangt, gewisse Dinge aus- 
zusprechen vor dieser Erscheinung, denn als Erdenmenschen konnen 
wir eine solche Wesenheit, die nur aus dem physischen Leib, Ather- 
leib und Astralleib bestand, mit der Nachwirkung des Zarathustra- 
Ichs in diesen drei Leibern, nicht bezeichnen. Wir konnen sie nur 
eine Wesenheit nennen. Der in Verzweiflung befindliche Mensch 
fuhlte sich gedrangt zu dieser Wesenheit zu sagen: Ich bin in 
meinem Leben zu hohen Wurden gekommen, und stets, wenn ich 
zu neuen Wurden gestiegen, fuhlte ich mich so recht in meinem Ele- 
ment, und oft iiberkam mich die Empfindung : Was bist du doch fur 
ein seltener Mensch, daB deine Mitmenschen dich so erhohen, daB 
du es auf der Erde so weit bringen konntest. Was bist du fur ein sel- 
tener Mensch! Ich war iiber alles gliicklich. Dann aber ist es schnell 
gegangen, daB ich dieses Gluck verlor. In einer Nacht ist das gekom- 
men. Und eben als ich einmal eingeschlafen war, kam ein Traum so 
iiber mich, daB ich in den Traum das Gefiihl hineinbrachte, daB ich 
mich vor mir selbst schamte, so etwas zu traumen. Ich traumte, daB 
ein Wesen vor mir stand, das mich fragte: Wer hat dich so groB ge- 
macht, dich zu so hohen Wurden gebracht? - Daruber schamte ich 



mich, daB iiberhaupt im Traum eine solche Frage an mich gerichtet 
werden konnte, denn es war mir so klar, daB ich eben ein seltener 
Mensch war und daB ich selbstverstandlich durch meine groBen 
Tugenden zu diesen Wiirden gekommen war. Und als das Wesen so 
zu mir gesprochen hatte, war ich im Traum ganz ergriffen von einem 
immer groBer werdenden Schamgefuhl vor mir selbst, im Traum -, 
so sagte dieser sich in Verzweiflung befindliche Mensch. Da ergrifT 
ich die Flucht, aber kaum war ich entflohen, so stand die Erscheinung 
in veranderter Gestalt wieder vor mir und sagte: Ich habe dich er- 
hoht, dich zu Wiirden gebracht. - Da erkannte ich in ihm den Ver- 
sucher, von dem die Schrift erzahlt, daB er im Paradiese schon der 
Versucher war. Da wachte ich auf und seit dem Augenblick habe ich 
keine Ruhe mehr. Ich verlieB meine Wiirden, den Wohnort, alles, und 
irre seitdem tatenlos in der Welt umher. Und jetzt fiihrt mich, irren- 
den Menschen, der ich mich durch Betteln ernahre, mein Weg vor 
dich. - Und in dem Augenblicke, wo der Mann das gesprochen hatte - 
so ergibt es die Akasha-Chronik -, da war die Erscheinung wieder 
vor ihm, stellte sich vor Jesus von Nazareth, der in dem Augenblicke 
wieder vor seinen Augen verschwand. Dann loste sich die Erschei- 
nung auf, und der Mann war seinem Schicksal uberlassen. 

Jesus fuhrte sein Trieb weiter. Er traf dann einen Aussatzigen und 
muBte, als der an ihn herantrat, die Worte sagen: Wozu hat deine 
Seele ihr Weg gefuhrt? Ich habe dich vor Jahrtausenden, vor vielen 
Jahrtausenden anders gesehen. Ja, damals warst du anders. - Der Aus- 
satzige sagte: Mich haben die Menschen uberall w T egen meines Aus- 
satzes verstoBen. Daher muBte ich in der Welt umherirren und nie- 
mand nahm mich auf. Froh war ich, wenn man mir Abfalle zur Tiir 
oder zum Fenster herauswarf, die mich notdiirftig nahrten. Aber ich 
konnte nirgends stille sitzen, ich muBte von Ort zu Ort irren. Da kam 
ich einmal nachts in einen Wald. Da war es, wie wenn von feme mir 
ein Baum, der wie eine Flamme war, entgegenleuchtete. Das Licht 
zog mich an. Als ich immer naher kam, trat aus dem leuchtenden 
Baum eine Gestalt in Form eines Gerippes und sprach zu mir die 
furchtbaren Worte: Ich bin du! Ich zehre an dir. - Da ubermannte 
mich furchtbarste Angst; und da sie mich so durchschauerte, daB ich 



an mir spiirte, wie die Aussatzschorfe aneinander stieBen und wie an- 
einander knisterten, da fuhlte das Wesen, was in mir vorging und 
sagte: Warum fiirchtest du dich so vor mir? Du hast so manches 
Leben friiher durchlebt, da liebtest du den LebensgenuB, vieles, was 
dir Begierde in deinem Leben schuf, was dir Freuden des Alltags 
brachte, da konntest du schwelgen in den Freuden des Alltags; da 
liebtest du mich, mich liebtest du, tief liebtest du mich. Du wuBtest 
es nicht immer, aber du liebtest mich, und weil du mich so liebtest, 
zog deine Seele mein Wesen an. Ich wurde du und darf nun an dir 
zehren. - Und meine Furcht wurde noch groBer. Da verwandelte sich 
das Gerippe in einen schonen Erzengel ; den schaute ich an. Ja, sprach 
er, du liebtest mich dereinst. - Da sank ich in tiefen Schlaf und mor- 
gens fand ich mich, erwachend, an dem Baum liegend, und irrte wei- 
ter in der Welt herum, und jetzt finde ich dich. Seit diese Erscheinung 
mir ward, ist der Aussatz immer schlimmer geworden. - Als er so 
sprach, stand das Totengerippe wieder da und verdeckte Jesus, der 
verschwand und seines Weges durch den in ihm waltenden Trieb 
weitergehen muBte. Der Mann muBte auch weitergehen. 

Nach diesen drei Begegnungen - der Begegnung mit den beiden 
Essaern, mit dem Verzweifelten und mit dem Aussatzigen - die Jesus 
von Nazareth in der Gestalt, von der ich das vorige Mai erzahlt habe, 
gehabt hatte, setzte er seinen Weg fort und kam an den Jordan zu 
Johannes. Es vollzog sich dasjenige, was aus den anderen Evangelien 
bekannt ist: Die Christus-Wesenheit stieg aus kosmischen Hohen her- 
ab, ergrifFBesitz von den drei Leibern des Jesus, in denen die Christus- 
Wesenheit drei Jahre verbleiben sollte. 

Das nachste, was mir obliegt zu erzahlen, das ist die Versuchungs- 
geschichte. Da stellt die Akasha-Chronik die Sache genauer dar als 
die anderen Evangelien. Ich muB nur im voraus bemerken, daB ich 
sie so, wie sie sich mir ergeben hat, darstellen werde, daB es aber sehr 
leicht sein kann - weil es schwierig ist, solche Dinge zu erforschen 
und man vorsichtig sein muB daB spater einmal die Korrektur 
notig sein konnte, die drei Stufen der Versuchung, die ich erzahlen 
werde, umzuandern. Denn die Aufeinanderfolge kann in der Beob- 
achtung der Akasha-Chronik manchmal leicht durcheinandergewor- 



fen werden, und da bin ich in der Reihenfolge nicht ganz sicher . Ich 
will nur erzahlen in dem AusmaBe, wie ich es genau kenne. 

Nachdem Christus Jesus - jetzt war ja der Christus in Jesus - in die 
Einsamkeit sich zuriickgezogen hatte, trat zuerst an ihn heran jene 
Wesenheit, welche er sogleich empfand als Luzifer, denn in seiner 
Seele spielten sich zunachst zwei wichtige Empfindungen ab. Er er- 
innerte sich, jetzt mit dem Ich des Christus und dem Atherleib und 
Astralleib des Jesus von Nazareth, wie Luzifer und Ahriman von 
dem Essaertor zu den anderen Menschen geflohen waren, als er nach 
einem Gesprach mit den Essaern durch das Essaertor getreten war. 
Daran muBte er denken. Die zweite Empfindung, die durch seine 
Seele zog, erinnerte ihn an den Verzweifelten, der ihm auf dem Gange 
zum Jordan begegnet war, den diese Gestalt verdeckte und ihn, Jesus, 
zum Weitergehen zwang. Er wuBte jetzt, wie man in okkulter Wahr- 
nehmung solche Dinge erkennt: Luzifer war es, den ich damals mit 
Ahriman fliehen sah vor dem Essaertore, Luzifer stand zwischen mir 
und dem Verzweifelten, er ist es, der jetzt wieder vor mir steht. 

Durch diese Erzahlung konnen wir eine Vorstellung bekommen, 
wie okkulte Wahrnehmungen gemacht werden, wenn sie sich auf die 
Vergangenheit beziehen. Sie sind wahrhaftig nicht so, daB man sie 
mit Kalte, Objektivitat empfangen konnte wie anderes, was man etwa 
erzahlt bekommt. Diese Dinge sprechen tiefe Weltengeheimnisse aus, 
treten in alle Krafte unseres Seelenlebens hinein und beriihren nicht 
nur unser Vorstellen und gewohnliches Verstandnis. Daher ist es so 
schwierig, die Worte in solche Entfernung zu bringen von den ent- 
sprechenden okkulten Wahrnehmungen, von diesen Forschungen, 
daB man nicht zu verstummen braucht, sondern das erschutternde 
Forschungsergebnis dennoch in Worte der gewohnlichen Umgangs- 
sprache pressen kann. Nur wenn es notwendig ist, solche Dinge mit- 
zuteilen, werden sie mitgeteilt. 

So stand also Luzifer vor dem Christus Jesus. Es spielte sich ab, 
was ausgedriickt werden kann mit den Worten der anderen Evange- 
lien - sie sind Umschreibungen der geistigen Vorgange: Wenn du 
mich anerkennst, so will ich dir die Reiche dieser Welt geben. 

So etwa sprach Luzifer zu Christus Jesus, in dem zwar jetzt die 



gottliche Wesenheit des Christus war, der den Luzifer verstehen 
konnte, aber zura Verstandnis sich nun eben doch bedienen muBte 
des astralischen Leibes des Jesus von Nazareth, so wie er sich ent- 
wickelt hatte durch das Zarathustra-Ich, das den astralischen Leib des 
Jesus durchdrungen hatte, so daB er sich seiner als Werkzeug be- 
dienen konnte. Deshalb horte er die Worte sozusagen nicht wie ein 
Gott, sondern nur wie ein durchgotteter Mensch : Erkennst du mich 
an, so werden meine Engel alle deine Schritte bewachen. 

Man muB jetzt zu Hilfe nehmen, was ich einmal in einem Vortrags- 
zyklus, der jetzt auch schon gedruckt erschienen ist, sagte : daB noch 
zur alten Sonnenzeit Luzifer eine Wesenheit war, die dazumal der 
Christus- Wesenheit gleichstand, so daB also die Christus- Wesenheit, 
die jetzt untergetaucht war in einen menschlichen Leib, den hohen 
kosmischen Rang fuhlen muBte, den Luzifer hatte und ihn als eben- 
biirtig fuhlen muBte trotz allem, was mit ihm vorgegangen war, bis 
er der Versucher wurde. So daB schon verstanden werden kann, wie 
Luzifer an ihn die Forderung richten konnte: Erkenne mich an. - 
Wenn Luzifer so etwas spricht, wirklich so sagt, daB es auf okkulten 
Wegen sich in die Menschenseele ergieBt, da schwillt alles das gewaltig 
an, was in der Menschenseele an Kraften des Hochmuts, des Stolzes 
lebt. Daher gibt es kein anderes Mittel - wenn die allerstarkste Ver- 
suchung herantritt, den Gefiihlen des Hochmutes und versteckten 
Stolzes zu verfallen -, als mit konzentriertester Seelenkraft dem zu 
widerstehen. 

«Wenn du mich anerkennst, gebe ich dir alle die Reiche, die du 
jetzt in meinem Umkreis siehst.» Das sind weite Reiche von groBer 
Herrlichkeit, das sind ganze Welten, die Luzifer in einem solchen 
Momente ausbreiten kann. Diese Reiche haben nur diese eine Eigen- 
tiimlichkeit, daB man Begierde nach ihnen nur aus dem berechtigten 
oder unberechtigten Hochmut der Seele heraus empflnden kann. Und 
man entkommt sozusagen nur so, wie dazumal der Christus Jesus 
entkommen ist: wenn man das durchschaut. Denn in solchem Moment 
empfmdet man nichts als Hochmut und Stolz, der in der menschlichen 
Seele ist; alle anderen Gefuhle sind gelahmt. Aber dieser Versuchung 
entging Christus Jesus und stieB Luzifer von sich. 



Dann erfolgte die zweite Attacke. Jetzt kamen ihrer zwei. Jetzt 
hatte Christus Jesus wiederum die Empfindungen, die ihn erkennen 
lieBen, wer die zwei waren. Es tauchten auf wiederum die Empfin- 
dungen, wie sie in ihm aufgestiegen waren bei den zwei Fliehenden 
vor den Toren der Essaer, und auf dem Wege zum Jordan bei der 
Erscheinung im Gesprach mit dem Verzweifelten und dem Toten- 
gerippebild, das sich verwandelt hatte in den Erzengel. Er wuBte, da6 
er jetzt die beiden Versucher vor sich hatte. Die Aufforderung, welche 
auch die anderen Evangelien richtig wiedergeben, erging an ihn: 
«Stiirze dich hinunter, dir wird nichts geschehen!» 

Bei solchen Versuchungen spricht sich in grandioser Weise im 
Menschen aus ein alle Furcht iiberwindender Mut, der den Menschen 
auch mutwillig machen kann. Auch diese beiden Versucher konnte 
Christus Jesus zuriickschlagen. 

Da kam eine dritte Attacke. Sie ging von Ahriman allein aus. Er 
stand jetzt allein vor Christus Jesus. Und da kam die Versuchung, 
die wiederum ausgesprochen werden kann mit den Worten der ande- 
ren Evangelien: «Mache mit meiner Kraft, daB diese Steine zu Brot 
werden.» 

Was auf diese ahrimanische Frage zu erwidern war - das unter- 
scheidet im Fiinften Evangelium den weiteren Verlauf der Ereignisse 
von dem, wie ihn die anderen Evangelien berichten -, das konnte 
nicht beantwortet werden von dem Christus Jesus. Diese Frage blieb 
zum Teil unbeantwortet, blieb als letzter ungeldster Rest der Ver- 
suchung zuriick. Daraus ergab sich ein Impuls, der far das weitere 
Erleben des Christus im Leibe des Jesus von Nazareth wirksam blieb. 
Denn daB er die letzte Frage des Ahriman bei der Versuchung in der 
Einsamkeit nicht vollstandig beantworten konnte, das stellte den Zu- 
sammenhang her zwischen dem Christus Jesus und den irdischen Er- 
eignissen, die mit Ahriman zusammenhangen. 

Wenn Sie sich erinnern, wie Ahriman der Herr des Todes ist, wie 
er durch jene Art von Tauschung, die er hervorruft, indem er die 
Materialitat vor der Seele ausbreitet, so daB die Seele das Materielle in 
der Tauschung hinnimmt, wenn Sie sich erinnern, was diesen Som- 
mer gesagt wurde tiber die Taten Ahrimans in der Erdenentwicke- 



lung, werden Sie begreiflich finden, daB die Taten des Ahriman in 
der Erdenentwickelung eingebettet sind. Und so kam es, daB eine 
Verbindung entstand durch den unbeantworteten Rest dieser Frage 
2wischen dem Erdenwandel des Christus Jesus und der ganzen Erden- 
entwickelung. Gleichsam verbunden mit der Erdenentwickelung, in- 
sofern Ahriman hineinverwoben ist, wurde Christus Jesus durch diese 
nicht beantwortete Frage. 

Manchmal muB man Dinge mit trivialen Worten bezeichnen; sie 
sind aber nicht trivial gemeint. Ahriman macht alles so, daB es in der 
Materialitat erscheint und in dieser auch erhalten wird. Damit aber, 
daB dies von ihm so gehandhabt wird, ist ein solches Ereignis nicht 
mdglich gewesen, daB Christus Jesus die Steine in Brot verwandelt 
hatte. Das verhinderte eben das ahrimanische Wirken. Es ist dieselbe 
Erscheinung, die bedingt, daB gewisse Stufen, die mit der Erden- 
entwickelung zusammenhangen, insofern sie mit Ahriman verkmipft 
sind, erst im gesamten Zeitverlauf und der totalen Durchchristung 
der Erdenevolution iiberwunden werden konnen. 

Was im kosmischen Vaterunser gesagt wird: «Von andern erschul- 
dete Selbstheitschuld, Erlebet im taglichen Brote», das driickt sich 
aus in den ahrimanischen Machten, von denen gesagt wird in diesem 
Vaterunser: «In dem nicht waltet der Himmel Wille», sondern Ahri- 
mans Wille, das muB also innerhalb der irdischen GesetzmaBigkeit 
behandelt und kann nicht bloB geistig behandelt werden. Diese Dinge 
hangen zusammen mit diesem taglichen Brot. In der auBeren sozialen 
Welt driickt sich das darin aus, daB man in der Tat das Materielle in 
der Form des Geldes, des Mammons braucht, des grobsten Bildes der 
ahrimanischen Fesselung, was dann verhindert, daB im sozialen Leben 
Steine zu Brot werden konnen, was notwendig macht, daB der Mensch 
auf der Erde verkniipft bleibt mit dem Ahrimanischen, dem Mate- 
riellen. 

Sie miissen diesen Gedanken selbst weiterdenken: wie die Auffor- 
derung «Mache die Steine zu Brot», zusammenhangt mit der Funk- 
tion des Geldes im sozialen Wirken. DaB aber so die ahrimanische 
Macht mit dem irdischen Wandel des Christus Jesus verbunden blieb, 
dadurch war Ahriman imstande, dann spater einzuflieBen in die Seele 



des Judas, und auf dem Umwege iiber den Judas zu den in den ande- 
ren Evangelien gesagten Ereignissen zu fiihren, die auf dem Umwege 
durch Judas dann den Christus Jesus fur seine Verfolger erkenntlich 
machten. Ahriman in Judas fiihrte eigentHch Christi Tod herbei und 
daB er das konnte, riihrt von der nicht vollstandig beantworteten 
Frage bei der Versuchung her. 

Nun muB man aber, um den ganzen irdischen Wandel des Christus 
Jesus zu verstehen, eines beriicksichtigen. Die Christus-Wesenheit war 
in die drei Leiber eingezogen, aber nicht gleich so, daB dieses Christus- 
Ich so verbunden war mit diesen drei Leibern, wie ein menschliches 
Ich mit ihnen verbunden ist. Es war im Beginn des dreijahrigen irdi- 
schen Wandels die Christus-Wesenheit zunachst nur lose verkniipft 
mit den drei Leibern des Jesus und dann wurde sie immer mehr in die 
drei Leiber hineingezogen. Darin bestand die Entwickelung in den 
drei Jahren, daB langsam und allmahlich diese Christus-Wesenheit, 
die zuerst nur wie eine Aura die Jesus-Wesenheit durchsetzte, immer 
mehr in die drei Leiber hineingepreBt wurde. So client hineingepreBt 
wie ein menschliches Ich wurde diese Christus-Wesenheit erst kurz 
vor dem Tode am Kreuz. Dieses Hineinpressen war aber die drei 
Jahre hindurch ein fortwahrendes Schmerzempfinden. Der Vorgang 
dieser volligen Menschwerdung, der drei Jahre dauerte und zum 
Mysterium von Golgatha fiihrte, war dieses HineingepreBtwerden in 
die drei Leiber, es war der Schmerz des Gottes, der auf der Erde 
empfunden werden muBte, damit das geschehen konnte, was notwen- 
dig war, um den Christus-Impuls in die Erdenentwickelung hinein- 
zufuhren. Zu dem, was ich iiber Jesu Schmerz und Leid in der 
Jugend erzahlte, muBte noch dieses hinzukommen. 

Wenn man von Gottesschmerz spricht, konnte es leicht sein, daB 
man heute schlecht verstanden wird. Bei Maeterlinck zum Beispiel, 
der in seinem ganz gewiB beriihmt werdenden Buch «Vom Tode» 
manches so Schone sagt, der immerhin bestrebt war, mit den Mitteln, 
die er hatte, Dinge des geistigen Lebens zu erklaren, konnte es vor- 
kommen, daB er zu sagen vermag, eine entkorperte Seele konne kei- 
nen Schmerz haben, Schmerz empfinden konne nur der sterbliche 
Leib. - Das ist der Gipfelpunkt des Unsinns, denn ein Leib empfindet 



keinen Schmerz, ebensowenig wie ein Stein. Schmerz emphndet der 
Astralleib mit dem Ich im physischen Leibe drinnen; auBerdem gibt 
es ja auch seelische Schmerzen und daher horen die Schmerzen nicht 
auf nach dem Tode. Sie konnen nur nicht mehr verursacht werden 
durch Storungen im physischen Leibe, fur die Seele aber brauchen 
sie dadurch nicht aufzuhoren. 

Was da vorging beim DurchpreBtwerden der drei Leiber des 
Jesus mit der Christus-Wesenheit, das war fur die Christus-Wesenheit 
hochster Schmerz. Es wird nach und nach fur die Menschheit not- 
wendig sein zu begreifen, daB in der Tat, um von Golgatha an die 
Erdenentwickelung fortzufiihren, diese Christus-Wesenheit durch den 
Schmerz einziehen muBte in die Erdenaura, und verbunden mit die- 
sem Christus- Schmerz wird die Menschheit ihr Schicksal fiihlen miis- 
sen. Immer konkreter wird werden mussen die Verbindung der 
Menschheit mit dem Christus-Schmerz. Dann wird man erst verste- 
hen, wie in der Erdenaura dieser Schmerz in verjiingenden Kraften 
weiterwirkte fur die Erdenentwickelung seit dem Mysterium von 
Golgatha. 

Dieses Mysterium von Golgatha immer besser zu verstehen, wird 
die Aufgabe sein der fortschrittlichen geistigen Entwickelung. Man- 
ches was in der gegenwartigen Kultur eine groBe Rolle spielt, wird 
allerdings iiberwunden werden mussen. Wir stehen gerade in der 
Gegenwart dem Verstandnis des Christentums gegeniiber in einer 
Krisis, in einer wirklichen Krisis. Ich spreche naturlich nicht etwa 
von dem, was von dieser oder jener landlauftgen Theologie in bezug 
auf das Christentum vorgebracht werden kann. Ich mochte nur auf- 
merksam machen auf elementare Ereignisse des Unverstandnisses in 
der Gegenwart. Bei einer von jenen Versammlungen im Jahre 1910, 
wo iiber den historischen Christus gesprochen wurde, sprach ein viel- 
genannter Theologe, um zu betonen, daB die Worte der Lehre des 
Christus Jesus nur zusammengefaBte Lehren seien, die auch schon 
friiher dagewesen waren: Ich werde Ihnen dankbar sein, wenn mir 
nur ein einziger Satz unter den Ausspruchen des Jesus Christus nach- 
gewiesen werden kann, der nicht schon friiher in irgendeiner Form 
da war. - Wenn heute ein liberaler theologischer Forscher das belegen 



kann, was jener behauptet hat, ist er fur unsere Zeitgenossen ein 
groBer Mann, denn wie uberzeugend muB das wirken, wenn man 
wirklich nachweisen kann, daB alle Ausspriiche von Christus schon 
friiher von anderen gesagt worden sind, daB sie also nichts Neues 
waren. Dem, der die Dinge durchschaut, erscheint ein solcher Aus- 
spruch in anderem Lichte. Man denke sich, Goethe hatte ein Gedicht 
gemacht, noch nicht aufgeschrieben, nur gesprochen, und ein Kind, 
das zuhorte, hatte gerufen: Das sind ja alles Worte, die ich schon 
gehort habe. - Wie das Kind, so ist der Theologe, der nichts hort, 
als was er schon kennt und nicht merkt, worauf es ankommt, denn 
das steht iiber den Ausspriichen, die friiher schon da waren, so hoch, 
wie ein Goethesches Gedicht iiber den einzelnen Worten, die das 
Kind schon gehort hat. Wenn man gar nicht weiB, was man als die 
Hauptsache ins Auge zu fassen hat, und glauben kann, man treibe 
heute echte Theologie dadurch, daB man sich in dieser Weise an 
Worte halt, sich daran halt, was wahr ist, daB die Ausspriiche schon 
dagewesen sind, so wird damit angedeutet, daB wir in einer tiefen 
Krisis in bezug auf die Erfassung des Christentums stehen, aus der 
man schon wird begreifen konnen, daB wirkliches Christus- Verstand- 
nis erst dadurch in die Welt kommen kann, wenn die heutige Theo- 
logie, die das offentliche Amt hat, iiber das Christus- Verstandnis zu 
wachen, erst abstirbt. Das ist es, worauf es ankommt: daB man er- 
fiihlen lernt die ganze GroBe der Tatsachen, die sich um Golgatha 
abspielten. 

Noch anderes Bedeutsames zeigt uns die Akasha-Chronik: Da die 
Christus- Wesenheit nicht gleich eng verbunden war mit den Leibern 
des Jesus, sondern nur lose und auBerlich, so konnte in der ersten 
Zeit folgendes vorkommen: Zuweilen war die Christus-Wesenheit 
auBerlich verbunden mit den drei Leibern des Jesus von Nazareth, 
war in solcher Verbindung unter den Jiingern und nachsten Anhan- 
gern, sprach mit ihnen. Aber das war nicht immer notwendig. Es 
konnten die auBeren Hiillen an irgendwelchen Orten sein und die 
Christus-Wesenheit konnte sich von ihnen entfernen; sie konnte dann 
als geistige Wesenheit da oder dort weit weg erscheinen. Viele Er- 
scheinungen des Christus sind so, daB nur die Christus-Wesenheit den 



Jungern, den Bekennern und auch anderen erscheint. Spater wandelte 
er mit den Jungern vielfach im Lande umher, lehrend, sprechend, 
heilend. Wahrend er so mit zehn oder funfzehn oder noch mehr An- 
hangern wandelte, und die Christus-Wesenheit sich immer mehr in 
seine Leiber hineinpreBte, kam wieder eine andere Erscheinung zum 
Vorschein. Da zeigte es sich mehrfach, daG der eine oder andere der 
Jiinger sich plotzlich von Inspiration ergriffen fdhlte. Dann verwan- 
delte sich sein Gesicht, so daft man auch von auBen sehen konnte, 
wie er eine ganz andere Physiognomie bekam. Und wenn so etwas 
eintrat und er die herrlichsten Christus-Worte sprach, da verwandelte 
sich die wirkliche auBere Erscheinung des Christus Jesus so, daB er 
wie der Schlichteste im Kreise ausschaute. 

Das wiederholte sich immer wieder. So zeigt es die Akasha-Chronik. 
Das fiihrte dazu, daB die Verfolger nie wuBten, wer aus der herum- 
ziehenden Schar derjenige war, den sie eigentlich suchten, so daB sie 
vor der Gefahr standen, einen zu greifen, der gar nicht der Richtige 
war. Dann ware der Richtige entkommen. Darum wurde der Verrat 
des Judas notwendig. So wie er gewohnlich erzahlt wird, ist er nicht 
sehr geistreich erzahlt. Derm wenn man sich in die Situation hinein- 
denkt, fragt man sich: Warum ist des Judas KuB notwendig ge- 
wesen? Er war eben erst notwendig aus dem Grunde, den ich eben 
angedeutet habe. 

Viel Geheimnisvolles ist mit dem irdisch-menschlichen Wandel 
des Christus verbunden, aber was den erschutterndsten Eindruck 
macht, zeigt sich, wenn man den Blick wendet auf seinen Tod. Da 
muB man das sagen, was ich ungescheut ausspreche, weil es fur das 
okkulte Erkennen Tatsache ist: daB an wichtigsten Punkten des histo- 
risch-geistigen Geschehens das, was sonst getrennt flieBt, moralische 
und physische Weltordnung, sich wiederum beriihren. Als in der 
Erdenentwickelung dieses am starksten der Fall war, trat das Myste- 
rium von Golgatha ein. 

Als Christus ans Kreuz geschlagen worden war, trat eine weit iiber 
die Gegend sich ausbreitende Verfinsterung ein. Aus der Akasha- 
Chronik war bisher noch nicht zu konstatieren, woher sie gekommen 
ist, ob sie irdischen oder kosmischen Ursprungs war. Aber sie war 



da, und was eine solche Verfinsterung bedeutet, kann okkult beob- 
achtet werden bei einer Sonnenfinsternis. Ich will nicht sagen, daB es 
damals eine Sonnenfinsternis war, es konnte sich auch um eine be- 
deutende Wolkenverfinsterung gehandelt haben. Aber es ist etwas 
anderes, wenn die Sonne bei Tag verfinstert am Himmel steht, als 
wenn es einfach Nacht ist. Was eine solche allgemeine Verfinsterung 
aber fur eine Wirkung hat, ist schon bei einer zum Beispiel durch den 
Mond eintretenden Sonnenbedeckung zu erkennen. Dabei gehen 
groBe okkulte Veranderungen bei alien Lebewesen, Menschen, Tie- 
ren und Pflanzen vor sich; das ganze Gefiige zum Beispiel zwischen 
physischem Leib und Atherleib der Pflanzen verandert sich, die ganze 
Welt sieht ganz verandert aus und mit ihr die Erdenaura. Das letzte 
Mai hat es einen ganz besonders erschiitternden Eindruck auf mich 
gemacht, als ich es beobachten konnte bei einer Sonnenfinsternis wah- 
rend eines kurzen Vortragszyklus in Stockholm. Es ist da tatsachlich 
so, daB fur das Stuck Erdenaura, wo die Verfinsterung am groBten 
ist, groBe Veranderungen vor sich gehen. Und durch ein solcherart 
beeinfluBtes Stuck Erdenaura floB der Christus-Impuls damals in die 
Erdenentwickelung ein, als der Christus Jesus am Kreuze starb. Das 
ist das Wunderbare, das heilige Ereignis der Verfinsterung weithin 
um das Kreuz auf Golgatha. 

Das andere ist das, was ich schon einmal in Karlsruhe angedeutet 
habe und was auch in dem gedruckten Zyklus von Karlsruhe steht, 
was auch das Funfte Evangelium zeigt, wie der physische Leib des 
Jesus von Nazareth gleichsam aufgesogen wurde von der physischen 
Erde, denn als der Leichnam ins Grab gelegt war, hat in der Tat eine 
erdbebenartige Durchruttelung der Erde stattgefunden, verbunden 
mit einem Sturm, so daB ein Erdspalt sich offhete und den Leib auf- 
nahm. Der Sturm wirbelte so, dafi sich tatsachlich die eigentiimliche 
Aufwickelung und Lage der Tiicher ergab, die das Johannes-Evan- 
gelium schildert. Es schloB sich dann der Spalt, der sich durch das 
Erdbeben gebildet hatte, und so konnte der Leib naturlich nicht vor- 
gefunden werden. Den Suchenden konnte nur die Antwort aus 
okkulten Regionen gegeben werden: Der, den ihr suchet, ist nicht 
mehr hier. - Ein ahnliches ereignete sich spater, als sich viele in 



Europa als Kreuzfahrer aufmachten, des Christus Gedachtnis in Gol- 
gatha zu suchen. Auch ihnen wurde, wenn auch fur sie nicht ver- 
nehmlich, die Antwort : Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hier. 

Denn der Christus-Impuls geht geistig durch die Seelen der Men- 
schen, er wirkt als Tatsache auch in denen, die ihn nicht verstehen. 
Nicht darf man bloB von dem groBen Lehrer sprechen. Was geschah, 
wirkt als Tatsache und gab die groBen Impulse fiir die fernere Mensch- 
heitsentwickelung. Das wird die Aufgabe der wirklichen okkulten 
Forschung auf diesem Gebiete sein, daB man immer besser wird ver- 
stehen lernen, anders den Christus zu suchen, damit einem nicht die 
Antwort gegeben werden miiBte: Der, den ihr suchet, ist nicht mehr 
hier. - Aber wenn man ihn immer geistiger wird suchen wollen, wird 
man die wahre, der Wirklichkeit entsprechende Antwort finden 
konnen. 

Dieses wollte ich Ihnen heute erzahlen und in diesen Mitteilungen 
liegt, glaube ich, fiir die Schilderung des Mysteriums von Golgatha 
gegeniiber den Abstraktionen der Theologen das groBe Schwer- 
gewicht. So wie diese Tatsachen in der Akasha-Chronik erscheinen, 
lassen sie erkennen, daB in jener Zeit ein Allerwichtigstes vorgegan- 
gen ist. 

Der Okkultist ist von Folgendem iiberzeugt: Wenn einmal die Ge- 
miiter der Menschheit sich etwas in anderer Richtung als bisher wer- 
den erhoben haben iiber all das, was heute mit so viel Wissenshochmut 
und Unlogik die Seelen beherrscht, wie ich es anfangs charakterisieren 
muBte, wenn einmal die Gemiiter von richtigem Denkvermogen sich 
werden durchzogen haben, dann werden - trotzdem manche glauben 
konnten: Was hat Denken zu tun mit dem Entgegennehmen solcher 
Mitteilungen und dem Versuch, sie zu erkennen? - dann werden sich 
die Gemiiter dadurch reif machen, auch solche Dinge, die scheinbar 
mit dem Denken nichts zu tun haben, wirklich zu verstehen, weil 
gerade durch das wahre Denken die Seelen durchzogen werden von 
dem echten Wahrheitssinn, der das in diesen beiden Vortragen Ge- 
gebene nicht als lacherlich empfindet, sondern als sorgfaltig gemachte 
Forschungen aus der Akasha-Chronik hinzunehmen strebt. 



DAS FONFTE EVANGELIUM 



Koln, 17. December 1913 
Erster Vortrag 

Es wird mir obliegen, gelegentlich des heutigen und morgigen Abends 
einiges zu sprechen iiber dasjenige, was wir gewohnt sind, das «My- 
sterium von Golgatha» zu nennen, und zwar wird der Versuch zu ma- 
chen sein, in einer etwas anderen Form, als das bisher geschehen ist, 
davon zu sprechen. Ich mochte sagen, daB die bisherigen Erorterun- 
gen iiber dieses Mysterium von Golgatha einen, wenn auch okkulti- 
stischen, so doch mehr noch okkultistisch-theoretischen Inhalt hatten. 
Es wurde iiber das Wesen und die Bedeutung des Mysteriums von 
Golgatha fur die Entwickelung der Menschheit gesprochen. DaB es 
gewissermaBen das Zentralereignis fur die gesamte Entwickelung der 
Menschheit auf Erden ist, und inwiefern es dieses Zentralereignis ist, 
dariiber wurden Gedanken gegeben. Diese sind ja durchaus aus den 
Quellen okkulter Forschung heraus geholt. Es sind diejenigen Gedan- 
kenquellen dadurch angesprochen worden, welche von dem Mysterium 
von Golgatha gleichsam ausstrahlen, weitergehen und verlebendigt 
sind in unserer irdischen Entwickelung. Aus dem, was in der Mensch- 
heitsentwickelung auf Erden lebt, kann, wenn es mit seherischem 
Blick erfaBt wird, das gefunden werden, was als die Bedeutung des 
Mysteriums von Golgatha angegeben worden ist. 

Jetzt aber wird es mir obliegen, naher zu sprechen von dem, was 
sich ganz im Konkreten sagen laBt iiber die Ereignisse, die sich im 
Beginn unserer Zeitrechnung abgespielt haben. Uber die Ereignisse 
werde ich zu sprechen haben, welche gewissermaBen in ihren Kraften 
das ausgestrahlt haben, was in der lebendigen Erdenaura weiterlebt 
und okkult beobachtet werden kann. Ich werde dann morgen einiges 
iiber die Griinde sprechen, warum diese Dinge gerade jetzt in diesem 
unserem Zeitalter innerhalb anthroposophischer Kreise besprochen 
werden sollen. Heute aber werde ich versuchen, einiges anzudeuten 
von dem, was sich im Beginne unserer Zeitrechnung in Palastina zu- 
getragen hat. Und ich hoffe, daB in Ihren Herzen, in Ihren Seelen, das 



Ereignis von Golgatha, wie es mehr in Ideenform charakterisiert wor- 
den ist, nicht an Bedeutung verliert dadurch, daB wir einmal direkt 
hinschauen auf das, was sich damals abgespielt hat, es gleichsam ganz 
konkret ins Auge fas sen. 

Ich habe ja schon bei Gelegenheit der Besprechung des Lukas- 
Evangeliums und jener Vortragsserie iiber das sogenannte Evange- 
lium des Matthaus einiges Wesentliche iiber das Gebiet angedeutet, 
das hier in Betracht kommt. Es ist die Tatsache, daB zwei Jesusknaben 
ungefahr gleichzeitig geboren worden sind im Beginne unserer Zeit- 
rechnung. Ich habe darauf hingewiesen, daB diese beiden Jesusknaben, 
die damals geboren worden sind, an Charakter und Fahigkeiten sehr 
stark voneinander verschieden waren. Der eine der Jesusknaben, 
dessen Schilderung noch wie durchleuchtet durch das sogenannte 
Evangelium des Matthaus, der stammt ab aus der salomonischen 
Linie des Hauses David. In ihm lebte die Seele oder das Ich desjenigen, 
den wir als Zarathustra kennen, 

Wir miissen uns, wenn wir eine solche Inkarnation ins Auge fassen, 
zunachst insbesondere iiber eines klar sein: Selbst wenn eine so hohe 
Individualist sich wieder inkarniert, wie der Zarathustra es war - 
namentlich in der Zeit, als er in dem Jesus geboren worden ist -, muBte 
diese Individualist keineswegs im Kindes- oder Junglingsalter wissen, 
daB sie diese Individualist ist. Nicht das BewuBtsein braucht vorzu- 
liegen, das sich in den Worten aussprechen wiirde: Ich bin der und 
der. - Das Hegt nicht vor. Wohl aber liegt vor in einem solchen Falle, 
daB jene erhohten Fahigkeiten, die eine Menschenseele gewinnen 
kann dadurch, daB sie eine solche Inkarnation durchgemacht hat, sich 
fruh bedeutsam zeigen und dann die ganze Grundstruktur des Cha- 
rakters des betreffenden Kindes bedingen. So ist denn der salomo- 
nische Jesusknabe - so mochte ich ihn nennen -, in dem das Ich des 
Zarathustra lebt, mit hohen Fahigkeiten ausgestattet, und das ist das 
Charakteristische : er ist ausgestattet mit solchen Fahigkeiten, welche 
es ihm moglich machen, leicht einzudringen in das, was in seiner 
Umgebung lebt als Errungenschaft dessen, was sich die Menschheit 
auf Erden in der fortlaufenden Kultur erobert hat. In der Umgebung 
eines solchen Kindes lebte ja, besonders aber damals, die ganze Kultur 



der Menschheit in den Worten, den Gebarden, den Handlungen, kurz 
in alledem, was man sehen und hot en konnte. Ein gewohnliches Kind 
nimmt wenig auf von dem, was es sieht und hdrt. Dieser Knabe aber 
nahm auf mit einer groBen inneren Genialitat aus den sparlichsten 
Andeutungen, in denen sich das auslebte, was die Menschheit sich 
erobert hatte, kurz, er erwies sich als im hochsten Ma6e begabt fur 
alles, was die Menschheitskultur bis dahin an schulmaBig Erlernbarem 
hervorgebracht hatte. Man wiirde einen solchen Knaben heute einen 
hochbegabten Knaben nennen. So war der salomonische Jesusknabe. 
Bis in sein zwolftes Jahr lernte er schnell, was er aus seiner Umgebung 
lernen konnte. 

Ganz anderer Art war der andere Jesusknabe, der in bezug auf Cha- 
rakter durchschimmert - mehr kann man nicht sagen - durch die Schil- 
derungen des Lukas-Evangeliums. Er stammte ab aus der natha- 
nischen Linie des Hauses David. Er war nun gerade unbegabt fur das, 
was man auBerlich erlernen kann. Bis zu seinem zwolften Jahr zeigte 
er gar keine Interessen fur irgend etwas, was man schulmaBig aus der 
Menschheitskultur bekommen kann. Dagegen zeigte er von friihester 
Kindheit an das im hochsten Grade, was man nennen konnte : Geniali- 
tat des Herzens, Mitgefuhl mit jeglicher Menschenfreude, mit jeg- 
Uchem Menschenleid. Er zeigte sich darin ganz besonders genial, 
daB er weniger in sich lebte, weniger sich erwerben konnte solche 
Tuchtigkeit, die man auf Erden erwerben kann, sondern daB er frem- 
des Leid und fremde Freude von friihester Kindheit an als sein eige- 
nes Leid und seine eigene Freude fuhlte, sich in die Seelen anderer 
Menschen versetzen konnte; dieses zeigte er im hochsten MaBe. 

Es ist die denkbar groBte Verschiedenheit zwischen den beiden 
Jesusknaben, so wie sie sich der Akasha-Chronik-maBigen Beobach- 
tung darstellen. Nun trat ja, nachdem die beiden Knaben das zwolfte 
Lebensjahr erreicht hatten, das Ereignis ein, das ich schon des ofteren 
charakterisiert habe : daB bei der Wanderung nach Jerusalem, welche 
die Eltern mit dem nathanischen Jesusknaben machten, das Ich des 
Zarathustra, das bisher in dem anderen, dem salomonischen Jesus- 
knaben, verblieben war, aus dessen Leib herausging und Besitz nahm 
von den Leibeshiillen des nathanischen Jesusknaben. Daher kam es 



so, daB alles, was dieses konigliche Ich sich hatte aneignen konnen, 
jetzt in der Seele des anderen, des nathanischen Jesusknaben, wirken 
konnte und dieser Knabe jet2t mit all der Kraft des Zarathustra, ohne 
es zu wissen, so wirken konnte, daB er das Erstaunen erregte der 
Schriftgelehrten, unter denen er lehrend auftrat, wie es auch die Bibel 
schildert. Auch das habe ich angedeutet, daB jener andere, der salo- 
monische Jesusknabe, aus dem das Ich gewichen war, sehr schnell 
dahinsiechte und in verhaltnismaBig kurzer Zeit starb. 

Es muB durchaus bemerkt werden, daB keineswegs sofort die Le- 
bensmoglichkeit aufhort fur einen Menschen, der, wie jetzt fiir den 
salomonischen Jesusknaben geschildert worden ist, sein Ich aufgibt. 
Wie eine Kugel eine Zeitlang fortrollt, gleichsam durch ihre innere 
Kraft, so lebt ein solches Wesen eine Zeitlang fort durch die Kraft, 
die in ihm lebt; und fiir denjenigen, der nicht in feiner Weise Men- 
schenseelen beobachten kann, ist der Unterschied kein sehr groBer 
zwischen dem, was sich darbietet als eine solche Seele, die ihr Ich 
noch hat, und einer, die ihr Ich verloren hat. Denn im gewohnlichen 
Leben wirkt nicht so sehr, wenn wir einer Seele gegenubertreten, 
unmittelbar das Ich. Was wir an einem Menschen erfahren, was wir 
von ihm gewahr werden, das ist im allergeringsten MaBe eine un- 
mittelbare Offenbarung des Ichs, das ist eine OfFenbarung des Ichs 
durch den Astralleib. Den Astralleib aber behielt jener andere Jesus- 
knabe; und nur der, welcher sorgfaltig unterscheiden kann - und es 
ist dies nicht leicht -, ob alte Gewohnheiten, alte Gedanken weiter- 
wirken in einer Seele, oder ob fortan noch Neues aufgenommen wird, 
der kann dadurch gewahr werden, ob das Ich noch da ist oder nicht. 
Aber ein Siechtum beginnt, eine Art Absterben, Abdorren, und so 
war es bei diesem Jesusknaben. 

Durch eine gewisse karmische Schickung starb nun auch bald nach 
dem Hiniibergange des Ichs des Zarathustra in den anderen Jesus- 
knaben die leibliche Mutter des nathanischen Jesusknaben und auch 
der Vater des salomonischen Jesusknaben, und aus dem Vater des 
nathanischen und der Mutter des salomonischen Jesusknaben wurde 
ein Ehepaar. Der nathanische Jesusknabe hatte keine leiblichen Ge- 
schwister, und die Stiefgeschwister, die er jetzt bekam, waren eben 



die Geschwister des salomonischen Jesusknaben. Aus den zwei Fami- 
lien wurde eine, die fortan in dem Ortchen wohnte, das dann den 
Namen Nazareth bekommen hat; so daB wir, wenn wir jetzt von dem 
nathanischen Jesusknaben sprechen, in dem nun das Ich des Zarathu- 
stra lebte, den Ausdruck gebrauchen : Jesus von Nazareth. 

Ich mochte nun auch hier heute einiges aus dem Jugendleben dieses 
Jesus von Nazareth, wie es Akasha-Chronik-maBig erforscht werden 
kann, so erzahlen, daB wir dadurch das Verstandnis gewinnen konnen 
fiir einen gewissen bedeutsamen historischen Augenblick der Erden- 
entwickelung, welcher dann das Mysterium von Golgatha, auf wel- 
ches wir morgen noch zu sprechen kommen werden, vorbereitete. 

In drei fiir den Seher deutlich voneinander unterschiedenen Phasen 
spielt sich dieses Leben des Jesus von Nazareth ab. Hat sich doch 
schon in den Gesprachen mit den Schriftgelehrten gezeigt, daB in ihm 
aufgelebt war schon in seinem zwolften Jahr durch den Hiniibergang 
des Zarathustra-Ichs eine innere Kraft, erleuchtet zu werden, Erleuch- 
tung zu empfangen und sie zu verbinden mit dem, was als Fahigkeit 
in der Zarathustra-Seele lebte. Hatte sich schon gezeigt, daB eine 
ungeheure Kraft inneren Erlebens in dieser Seele war, so kann man 
jetzt in dem heranwachsenden Jesus vom zwolften bis zum siebzehn- 
ten und achtzehnten Jahr hin bemerken, wie, aus dem Inneren der 
Seele hervorkommend, die inneren Erleuchtungen immer reicher und 
reicher werden, und insbesondere sind es jetzt Erleuchtungen, die sich 
auf die ganze Entwickelung des althebraischen und iiberhaupt des 
hebraischen Volkes beziehen. 

So wie Jesus von Nazareth hineingestellt war in das hebraische 
Volk, so war ja in diesem hebraischen Volk durchaus nicht mehr wahr- 
zunehmen die GroBe desjenigen, was einmal in den alten Zeiten der 
Propheten diesem Volk als unmittelbare Weltgeheimnisse gegeben 
war. Es hatte sich vieles von den alten OfFenbarungen der Propheten 
fortgeerbt, aber die ursprunglichen Fahigkeiten, die geistigen Geheim- 
nisse unmittelbar aus den geistigen Welten heraus zu bekommen, die 
waren langst verglommen. Aus den bewahrten Schriften nahm man sie 
auf. Einige waren allerdings auch da, wie zum Beispiel der beriihmte 
Hillel, welche durch ihre individuelle Entwickelung fahig waren, noch 



etwas zu vernehmen von dem, was den alten Propheten verkiindigt 
worden war. Aber es war langst nicht mehr in diesen wenigen Men- 
schen jene Kraft, die in der Urzeit des hebraischen Volkes, in der 
Zeit der Offenbarungen, da war. Es war durchaus ein Abstieg in der 
Geistesentwickelung des hebraischen Volkes zu bemerken. Das aber, 
was einmal da war, was geoffenbart worden war in der Zeit der Pro- 
pheten, das tauchte jetzt wie aus den Tiefen der Seele des Jesus von 
Nazareth als innere Erleuchtung auf. 

Aber weniger mochte ich Sie aufmerksam machen auf diese histo- 
rische Tatsache, daB in einem einzelnen Menschen durch innere Er- 
leuchtung wieder auftauchte, was einmal in der Prophetenzeit geoffen- 
bart worden war. Vielmehr mochte ich Ihre Empfindungen hinlenken 
auf das, was es heiBt, daB in unendlicher Einsamkeit eine so verhalt- 
nismaBig junge Seele, die Seele des dreizehn- bis vierzehnjahrigen 
Jesus von Nazareth, in sich heraufkommen fuhlt eine Offenbarung, 
welche alle anderen Menschen in seiner Umgebung nicht mehr herauf- 
kommen fuhlten, welche die Besten hochstens in einem schwachen 
Abglanz hatten. Versetzen Sie Ihre Empfindungen in das Leben einer 
solchen Seele, die mit einem GroBten der Menschheit allein dasteht, 
und legen Sie Wert darauf, daB das Mysterium von Golgatha vor- 
bereitet werden muBte dadurch, daB in der Seele des Jesus von Naza- 
reth jene einsamen Gefiihle und einsamen Empfindungen Platz greifen 
muBten. Wenn man so wie auf einer Seeleninsel dasteht mit etwas, 
was man so wie Er, der ja schon in seiner Kindheitszeit mit alien 
Menschen fiihlen konnte, alien Menschen zuteil werden lassen mochte, 
aber nicht zuteil werden lassen kann, weil man sieht, daB die Seelen 
auf eine Stufe niedergestiegen sind, wo sie es nicht mehr aufnehmen 
konnen, wenn man dies alles empfindet : in Schmerz und Leid etwas 
wissen zu miissen, was die anderen nicht aufnehmen konnen, wovon 
man aber so gern wiinschen mochte, daB es auch in ihren Seelen lebe, 
dann bereitet man sich fur eine Mission vor. Dafur bereitete sich 
Jesus von Nazareth vor. Das gab seiner Seele die Grundnote, die 
Grundnuance, daB er sich immer wieder sagen muBte: Zu mir tont 
eine Stimme aus der geistigen Welt. Wenn die Menschheit sie horen 
konnte, wiirde es ihr zu unendlichem Segen werden. In alten Zeiten 



waren Menschen da, die sie vernehmen konnten, jetzt aber sind keine 
Ohren mehr da, zu horen. - Dieses Leid des Alleinseins, das preBte 
sich immer mehr und mehr ein in seine Seele. 

Das war das Seelenleben des Jesus von Nazareth etwa vom zwolften 
bis zum achtzehnten Jahr. Dadurch war er auch unverstanden von 
seinem leiblichen Vater und seiner Zieh- oder Pflegemutter, und nicht 
nur unverstanden von seinen Stiefgeschwistern, sondern oft verspot- 
tet, ja, als ein halb Wahnsinniger angesehen. Er arbeitete fleiBig im 
Schreinerhandwerk seines Vaters. Aber wahrend er arbeitete, lebten 
die Empfindungen, die ich eben ausgesprochen und angedeutet habe, 
in seiner Seele. Dann, als er so im achtzehnten Lebensjahre stand, 
ging er hinaus auf die Wanderschaft. Er durchzog, arbeitend in ver- 
schiedenen Familien, bei verschiedenen Handwerkern seines Hand- 
werks Palastina und auch umliegende heidnische Ortschaften. Er 
wurde so durch sein Karma gefuhrt. Indem er so herumwanderte 
durch Palastina, zeigte sich die ganze Eigenart seiner Natur bei alien 
denen, in deren Kreis er trat. Bei Tage arbeitete er, abends saB er 
mit den Leuten zusammen. Und die Leute, mit denen er zusammen- 
saB, so von seinem neunzehnten bis zum zweiundzwanzigsten Jahr 
etwa, hatten alle bei diesem Zusammensitzen mit ihm das Gefuhl, was 
sie sich nicht immer klar zum BewuBtsein brachten, aber um so deut- 
licher fuhlten: daB da ein Mensch von einer ganz besonderen Eigen- 
art unter ihnen war, wie sie einen solchen noch nie gesehen hatten, 
ja, noch mehr, wie sie sich nie vorstellen konnten, daB einer leben 
konnte. Sie wuBten ihn nicht zu nehmen. 

Wenn man dies verstehen will, muB man eines berucksichtigen, was 
uberhaupt berucksichtigt werden muB, wenn man so recht eindringen 
will in verschiedene Geheimnisse der Menschheitsevolution: daB so 
etwas zu erleben, wie ich es angedeutet habe bei dem jungen Jesus von 
Nazareth, tiefsten Schmerz in der Seele verursacht. Aber dieser 
Schmerz wandelt sich um in Liebe. Und viele hochste Liebe, die im 
Leben lebt, ist umgewandelter Schmerz dieser Art. Tiefster Schmerz 
hat die Fahigkeit, sich in Liebe umzuwandeln, die nicht bloB wirkt wie 
gewohnliche Liebe durch das bloBe Dasein des liebenden Wesens, 
sondern die gleichsam ausstrahlt wie weithin wirkende aurische Strah- 



len. So daB die Leute, unter denen Jesus in dieser Zeit war, viel mehr 
als bloB einen Menschen unter sich zu haben glaubten. Und wenn er 
wieder von einem Orte weggezogen war, da wirkte das so, daB die 
Leute, wenn sie des Abends wieder zusammensaBen, wirklich das Ge- 
fiihl von seiner Gegenwart hatten. Als wenn er noch da ware, so emp- 
fanden sie. Und das trat stets ein, wieder und wieder, wenn er langst 
fortgezogen war von einem Orte, wo er sich aufgehalten hatte: daB 
die Leute, die abends um den Tisch saBen, gemeinschaftliche Visionen 
hatten. Sie sahen ihn hereintreten als Geistgestalt. Jeder einzelne hatte 
zugleich diese Vision, daB Jesus wieder unter sie gekommen ware, 
daB er mit ihnen sprache, ihnen Dinge mitteilte, wie einst in leiblicher 
Gegenwart. So lebte er sichtbarlich unter den Leuten, wenn er langst 
schon fort war. Das war eben der in Liebe umgewandelte Schmerz, 
der ihn so wirksam machte. Die Leute, bei denen er war, fiihlten sich 
dadurch in einem besonderen MaBe mit ihm verbunden. Sie fiihlten 
sich eigentlich niemals mehr von ihm getrennt, sie fiihlten: er war bei 
ihnen geblieben und er kam immer wieder. 

Aber er zog nicht nur in der Gegend von Palastina umher, sondern 
sein Karma fuhrte ihn - die einzelnen Umstande, warum sein Karma 
ihn so fuhrte, zu besprechen, das wiirde heute zu weit fiihren - auch in 
heidnische Orte. Dorthin also kam er, nachdem er kennengelernt 
hatte die niedergehende Entwickelung im Judentum. Und er lernte 
kennen, wie in den Kulthandlungen der Heiden, wie in den heidni- 
schen Religionsverrichtungen ebenso wie im Judentum erstorben war 
das, was einstmals als Uroffenbarung im alten Heidentum gelebt hatte. 
So muBte er die zweite Phase erleben im Wahrnehmen des Herabstiegs 
der Menschheit aus einer einstmals geistigen Hohe. Aber auf eine an- 
dere Art als bei dem Judentum sollte er wahrnehmen, wie das Heiden- 
tum herabgestiegen war. 

Die Art, wie er den Abstieg des Judentums vernahm, war mehr 
innerlich, durch innere Erleuchtung gewonnen. Da sah er, wie die 
Offenbarungen aus der geistigen Welt, die einst durch die alten Pro- 
pheten verkiindigt worden waren, aufgehort hatten, weil keine Ohren 
mehr da waren, zu horen. Wie es im Heidentum war, das wurde ihm 
klar an einem Ort, wo der alte heidnische Gottesdienst besonders ver- 



fallen war, wo sich auch in auBeren Zeichen der Verfall des Heiden- 
tums zeigte. Die Menschen waren an dem Ort, in den er jetzt kam, von 
Aussatz und sonstigen haBlichen Krankheiten befallen. Bosartig wa- 
ren sie zum Teil geworden, zum Teil bresthaft, lahm. Sie waren gemie- 
den von den Priestern, die geflohen waren von den Orten. Als man 
seiner ansichtig wurde, verbreitete sich wie ein Lauffeuer, daB da je- 
mand ganz Besonderer kame. Denn er hatte jetzt auch in seinem auBe- 
ren Auftreten schon etwas erlangt, was eben wie umgewandelter 
Schmerz, wie Liebe war. Man sah, daB da ein Wesen herankam, wie es 
noch nie iiber die Erde gewandelt war. Das sagte der eine dem ande- 
ren. Rasch hatte es sich verbreitet, so daB viele herzuliefen, denn die 
Leute glaubten, daB ihnen zugefiihrt worden sei ein Priester, der wie- 
der ihre Opfer verrichten wurde. Waren doch ihre Priester geflohen! 
Da liefen sie herbei. So zeigt es die Akasha-Chronik, wie ich es Ihnen 
erzahle. Er hatte nicht vor, das heidnische Opfer zu verrichten. Aber 
jetzt zeigte sich ihm, wie in lebhaften Imaginationen, das ganze Ratsel 
vom Herabstiege auch der heidnischen Geistepoche. Er konnte jetzt 
unmittelbar wahrnehmen, was in die Geheimnisse der heidnischen My- 
sterien eingeflossen war, was in den heidnischen Mysterien gelebt 
hatte : daB die Krafte hoher gottlicher Wesenheiten auf die Opferaltare 
herabgeflossen waren. Jetzt aber stromten statt der Krafte der guten 
Geister allerlei Damonen, Sendboten des Luzifer und Ahriman, auf die 
heiligen Altare herab. Nicht so innerlich durch Erleuchtung wie beim 
Judentum, sondern wie in auBeren Visionen, nahm er den Verfall des 
heidnischen Geisteslebens wahr. 

Es ist noch etwas anderes, etwas ganz anderes, sozusagen die Dinge 
theoretisch kennenzulernen, als zu schauen, wie auf einen Opferaltar, 
auf den einstmals gottlich-geistige Krafte herabgeflossen waren, jetzt 
Damonen herabstiegen, die abnorme Seelenzustande, Krankheiten und 
so weiter bewirkten. Dies anzuschauen in Geistesschau ist etwas ande- 
res, als theoretisch davon zu wissen. Aber Jesus von Nazareth sollte 
das in unmittelbarer Geistesschau erkennen, sollte sehen, wie die Send- 
boten von Luzifer und Ahriman wirkten; er sollte sehen, was sie unter 
dem Volke angerichtet hatten. Er fiel plotzlich wie tot hin. Die Men- 
schen ergriffen erschrocken die Flucht. Er aber hatte, wahrend er so 



wie entgeistert, wie entriickt war in eine geistige Welt, den Eindruck 
von alledem, was einstmals die Uroffenbarungen zu den Heiden ge- 
sprochen hatten. Und so wie er Geheimnisse vernommen hatte, die den 
alten Propheten verkiindet worden waren und die jetzt nicht einmal 
mehr wie ein Schatten in der jiidischen Kultur lebten, so konnte er 
jetzt durch geistige Inspiration horen, in welcher Art diese Geheim- 
nisse den Heiden verkiindet worden waren. 

Den tiefsten Eindruck machte auf ihn etwas, was versucht worden 
ist von mir zu erforschen, und was ich zum erstenmal mitgeteilt habe 
bei Gelegenheit der Grundsteinlegung unseres Dornacher Baues. Man 
konnte es nennen «Das umgekehrte Vaterunser», da es wie das Um- 
gekehrte war von dem, was der substantielle Inhalt des Gebetes ist, das 
dem Christus Jesus von seinen Jiingern zugeschrieben wurde. Der Je- 
sus von Nazareth nahm jetzt etwas wahr wie ein umgekehrtes Vater- 
unser, so daB er fuhlen konnte, in diesen Worten ist wie zusammen- 
gepreBt das Geheimnis des menschlichen Werdens und das Verkor- 
pertwerden in irdische Inkarnationen : 

Amen 

Es waken die Ubel 

Zeugen sich losender Ichheit 

Von andern erschuldete Selbstheitschuld 

Erlebet im taglichen Brote 

In dem nicht waltet der Himmel Wiile 

Indem der Mensch sich schied von Eurem Reich 

Und vergaB Euren Namen 

Ihr Vater in den Himmeln. 

Das ist, mit stammelnden Worten wiedergegeben, dasjenige, was aus- 
driickt etwas wie die Gesetze des sich einkorpernden Menschen, der 
aus dem Makrokosmos in den Mikrokosmos kommt. Seit mir diese 
Worte bekanntgeworden sind, habe ich gefunden, daB sie eine auBer- 
ordentlich bedeutsame Meditationsformel sind. Sie haben eine Kraft 
iiber die Seele, die ganz auBerordentlich ist, und man merkt sozusagen 
um so mehr die starke Kraft, die diese Worte haben, je mehr man sie 
betrachtet. Und dann, wenn man sie auf lost und zu verstehen sucht, 



dann zeigt sich an ihnen, wie in der Tat in ihnen das Geheimnis des 
Menschen und das Schicksal der Menschheit zusammengeprefit ist, 
und wie aus dem Umkehren der Worte das mikrokosmische Vater- 
unser entstehen konnte, das dann der Christus seinen Bekennern ver- 
kiindet hat. 

Aber nicht nur dieses Geheimnis der heidnischen Uroffenbarung 
nahm Jesus wahr. Als er wieder aufwachte aus der Vision, lernte er 
kennen durch die fliehenden Menschen und Damonen das ganze Ge- 
heimnis des Heidentums. Das war der zweite mafilose Schmerz, der 
sich in seine Seele senkte. Er hatte zuerst in so bedeutender Weise 
kennengelernt den Verfall des Judentums dadurch, daB er erkannte, 
was einst dem noch nicht verfallenen Judentum offenbart worden war. 
Jetzt lernte er ein Gleiches bei den Heiden kennen. Auf diese Weise 
brachte er sich zum bewuBten Erleben die Empfindung der Tatsache, 
daB in seiner Umgebung die Menschheit leben muBte im Sinne der 
Worte: Sie haben Ohren und horen nicht das, dasjenige, was die 
Weltgeheimnisse sind. - So muBte er sich das unbegrenzte Mitgefuhl 
erobern, das er mit den Menschen immer gehabt hatte und das in den 
Worten ausgedriickt werden kann: Jetzt konnte er schauen; die 
Menschheit sollte den Inhalt seines Schauens haben, aber wo sind die 
Wesen, es der Menschheit mitzuteilen? 

Solche Erfahrungen muBte er bis zu seinem vierundzwanzigsten 
Lebensjahr etwa machen. Dann fiihrte ihn sein Karma heim in der 
Zeit, als sein Vater starb. Er lebte dann mit seinen Stiefgeschwistern 
und mit seiner Zieh- oder Stiefmutter zusammen. Wahrend die Stief- 
mutter ihn friiher auch wenig verstanden hatte, machte sich jetzt 
immer mehr und mehr ein Verstandnis von ihrer Seite bemerkbar fur 
das, was er als groBen Schmerz in sich trug. Und so folgten weitere 
Erlebnisse vom vierundzwanzigsten bis zum achtundzwanzigsten, 
neunundzwanzigsten, dreiBigsten Lebensjahr, in denen er immer mehr 
und mehr - obwohl es auch hier schwer war - Verstandnis fand bei 
seiner Stief- oder Ziehmutter. Es waren das zugleich die Jahre, in 
denen er mit dem Essaerorden naher bekannt wurde. Ich mochte heute 
nur die Hauptmomente andeuten, wie Jesus .den Essaerorden kennen- 
lernte. Es war dies ein Orden, in welchem Menschen sich vereinigten, 



die sich von der iibrigen Menschheit absonderten und die ein beson- 
deres Leben des Leibes und der Seele entwickelten, um durch dieses 
Leben sich wieder zu jener UrorTenbarung des Geistes, welche die 
Menschheit verloren hatte, hinaufzuranken. In strengen Ubungen und 
in einer strengen Lebensweise sollten die aufsteigenden Seelen eine 
Stufe erreichen, durch die sie wieder zusammengebracht werden konn- 
ten mit den geistigen Regionen, aus denen die UrorTenbarungen ge- 
flossen waren. 

In diesem Kreise lernte Jesus von Nazareth auch Johannes den 
Taufer kennen, aber sie wurden beide nicht im eigentlichen Sinn 
Essaer. Das zeigt gerade die Akasha-Chronik auf diesem Gebiet. Aber 
aus alledem, was ich geschildert habe, geht ja hervor, daB eine Men- 
schenpersonlichkeit ganz besonderer Art da war, die auf jeden ganz 
auBerordentlich wirkte; hatte sie doch so auBerordentlich, wie ich es 
geschildert habe, bei den Heiden gewirkt, so daB auch die Essaer - 
trotzdem sie sonst das, was sie fur ihre Seelen errungen hatten, wie 
das heiligste Geheimnis bewahrten, nichts davon verrieten an AuBen- 
stehende - harmlos sprachen mit Jesus iiber wichtige Ordensgeheim- 
nisse, iiber Wichtigstes, was sie sich im Streben ihrer Seelen errungen 
hatten. So lernte Jesus kennen, wie ein in jener Zeit gegenwartiger 
Weg fur die Menschenseele da war, um hinaufzusteigen zu den Ho- 
hen, in denen die Urseelen der Menschen einmal geweilt hatten und 
von denen sie herabgestiegen waren. Ja, das konnte er an den Essaern 
merken, wie es den Menschen doch noch moglich sei, durch besondere 
Ubungen zu diesen Hohen wieder hinaufzuklimmen. Aber schon 
machte es auf seine Seele einen tief, man mochte sagen, wenn das 
triviale Wort in diesem Zusammenhang erlaubt ist, unbehaglichen 
Eindruck, daB ein solcher Essaer, wenn er zu diesen Hohen aufstei- 
gen wollte, von der iibrigen Menschheit sich absondern, ein Leben 
fiihren muBte auBerhalb des Kreises der iibrigen Menschen. Das war 
ganz und gar nicht nach der Art von allgemeinster Menschenliebe, wie 
Jesus von Nazareth sie fiihlte, der nicht ertragen konnte, daB etwas an 
geistigem Gut bestehen sollte, das nicht die ganze Menschheit sich an- 
eignen konnte, sondern nur einzelne auf Kosten der ganzen Mensch- 
heit. Und oft ging er mit groBtem Schmerz weg von den Statten der 



Essaer. Das, was er empfand, laBt sich mit den Worten ausdriicken : 
Auch da sind einzelne, und es konnen immer nur wenige sein, die den 
Weg 2uriickfinden zur Uroffenbarung, aber gerade wenn diese weni- 
gen sich absondern, miissen die anderen urn so mehr in Verfall leben. 
Sie konnen nicht hinauf kommen, denn sie miissen die grobe materielle 
Arbeit verrichten fur die, die sich absondern. 

Als er wieder einmal aus einem Tore der Ordensniederlassung her- 
ausging, da sah er im Geiste, wie zwei Gestalten von dem Tore weg- 
flohen. Von diesen beiden Gestalten, die wir heute in unserer anthro- 
posophischen Sprache Luzifer und Ahriman nennen, hatte er den Ein- 
druck, da6 die Essaer sich vor ihnen schiitzten, sie durch ihre Obun- 
gen, durch ihr asketisches Leben, durch die strengen Ordensregeln 
vertrieben. Nichts sollte von Luzifer und Ahriman an diese Seelen 
herankommen. Daher sah Jesus von Nazareth Ahriman und Luzifer 
wegfliehen, aber er wuBte jetzt auch : gerade dadurch, daB eine solche 
Statte geschaffen war, wo man Ahriman und Luzifer nicht zulieB, wo 
man nichts wissen wollte von ihnen, gerade dadurch zogen sie um so 
mehr zu den anderen Menschen hin, weil sie niehen muBten von die- 
sen Statten. Das hatte er jetzt vor sich. Wiederum wirkt das ganz 
anders, wenn man es nur durch Theorie kennt, als wenn man sieht, 
was einzelne Seelen fur ihre Forderung tun und wie dadurch Luzifer 
und Ahriman zu anderen Menschen hingeschickt werden, indem ein- 
zelne sie sich vom Leibe schaffen. Jetzt wuBte er, daB das kein Heils- 
weg ist, den die Essaer gingen, sondern daB das ein Weg ist, der durch 
Absonderung auf Kosten der ubrigen Menschheit nur die eigene For- 
derung sucht. 

Ein unsagliches Erbarmen kam iiber ihn. Er empfand keine Freude 
an dem Aufsteigen der Essaer, da er wuBte, andere Menschen muBten 
um so tiefer sinken, wahrend einzelne stiegen. Das alles kam um so 
mehr iiber ihn, als er immer wieder auch an anderen Toren der Essaer 
- es gab mehrere solcher Statten - das Bild sah des fliehenden Luzifer 
und Ahriman, die vor den Toren standen, aber nicht hineinkommen 
konnten in diese Ordensstatten. So wuBte er, wie Ordenssitten und 
Ordensregeln - nach dem Muster der Essaerregeln - Luzifer und Ahri- 
man den anderen Menschen zutreiben. Und dies war der dritte groBe, 



unendliche Schmerz, den er iiber den Herabstieg der Menschheit emp- 
fand und der sich so iiber seine Seele gebreitet hatte. 

Ich sagte schon, daB seine Stief- oder Ziehmutter immer mehr Ver- 
standnis bekam fur das, was in seiner Seele lebte. Jetzt trug sich das zu, 
was bedeutsam wurde als Vorbereitung fur das Mysterium von Gol- 
gatha : Ein Gesprach fand statt - so ergibt es die Forschung in der 
Akasha-Chronik - zwischen Jesus von Nazareth und der Stief- oder 
Ziehmutter. So weit war ihr Verstandnis schon vorgeriickt, daB er zu 
ihr von dem dreifachen Schmerz sprechen konnte, den er iiber den 
Abstieg der Menschheit, den er auf dem Gebiete des Judentums und 
des Heidentums sowie des Essaertums durchgemacht hatte. Und in- 
dem er ihr schilderte seinen ganzen einsamen Schmerz, und was er er- 
fahren hatte, sah er, daB dies auf ihre Seele wirkte. 

Es gehort zu den groBartigsten Eindrucken, die man auf okkultisti- 
schem Felde erhalten kann, gerade den Charakter dieses Gespraches 
kennenzulernen. Denn man kann eigentlich im ganzen Bereich der 
Erdenentwickelung etwas Ahnliches, ich sage nicht, etwas GroBeres, 
denn natiirlich: das Mysterium von Golgatha ist groBer, aber etwas 
Ahnliches kann man sonst nicht sehen. Das, was er zu der Mutter 
sprach, waren nicht etwa bloB im gewohnlichen Sinn Worte, sondern 
sie waren wie lebendige Wesen, die von ihm zu der Stiefmutter hin- 
iibergingen, und seine Seele befliigelte diese Worte mit ihren eigenen 
Kraften. Alles, was er so unendlich stark erlitten hatte, ging in dem 
Gesprach wie auf den Fliigeln der Worte hiniiber in die Seele der Stief- 
mutter. Sein eigenes Ich begleitete jedes Wort, und es war nicht bloB 
ein Worte- oder Gedankenaustausch, es war ein lebendiges Seelen- 
wandern von ihm in die Seele der Stiefmutter, die Worte von seiner 
unendlichen Liebe, aber auch von seinem unendlichen Schmerz. Und 
so konnte er ihr alles wie in einem groBen Tableau entwickeln, was er 
dreimal erlebt hatte. Was sich da abspielte, wurde noch dadurch er- 
hoht, daB Jesus von Nazareth allmahlich das Gesprach iibergehen lieB 
in etwas, was sich ihm ergeben hatte aus dem dreifachen Leid des 
Menschenabstieges heraus. 

Nun ist es wirklich schwierig, in Worte zu kleiden das, was er, 
wie zusammenfassend seine eigenen Erlebnisse, zur Stiefmutter jetzt 



sprach. Aber da wir ja geisteswissenschaftlich vorbereitet sind, so kann 
audi mit Zuhilfenahme geisteswissenschaftlicher Formeln und Aus- 
driicke versucht werden, den SchluB des Gespraches seinem Sinne nach 
zu schildern. Natiirlich ist das, was ich jetzt zu sagen habe, nicht so 
gesprochen worden, aber es wird ungefahr eine Vorstellung hervor- 
rufen von dem, was Jesus jetzt als Vorstellung in der Seele der Stief- 
mutter hervorrufen wollte: Wenn man so in die Entwickelung der 
Menschheit zuriickblickt, dann stellt sich das gesamte Leben der 
Menschheit auf Erden so dar wie das einzelne menschliche Leben, nur 
verandert fur die spateren Generationen, ihnen unbewuBt. Das nach- 
atlantische Leben der Menschheit, konnte man sagen, trat da vor die 
Seele des Jesus von Nazareth : wie zuerst nach dem groBen Naturereig- 
nis eine urindische Kultur sich entwickelte, wo die groBen heiligen 
Rishis ihre gewaltigen Weistiimer an die Menschheit heranbringen 
konnten. Mit anderen Worten : es war eine spirituell-geistige Kultur 
da. Ja, so sagte er, so wie im einzelnen Menschen ein kindliches Alter 
da ist zwischen der Geburt und dem siebenten Jahr, wo ganz andere 
geistige Krafte walten als im spateren Menschenleben, so wirkten gei- 
stige Krafte in dieser urindischen Zeit. Weil diese Krafte nicht nur bis 
zum siebenten Jahr da waren, sondern iiber das ganze Leben sich er- 
gossen, so war die Menschheit in einer anderen Evolution als spater. 
Damais wuBte man das ganze Leben hindurch, was heute das Kind bis 
zum siebenten Jahr weiB und erlebt. Man denkt heute so zwischen 
dem siebenten und vierzehnten und dem vierzehnten und einund- 
zwanzigsten Jahr, so wie man eben denkt, weil man die Kindheits- 
krafte verloren hat, die bei uns heute im siebenten Jahr abgestellt 
werden. Weil diese damais iiber das ganze Menschenleben ausgegossen 
waren, diese Krafte, die heute nur bis zum siebenten Lebensjahr da 
sind, waren die Menschen in der ersten nachatlantischen Epoche hell- 
sichtig. Hoher stiegen sie mit den Kraften, die heute nur bis zum sie- 
benten Jahre im Menschen leben. Ja, da war das Goldene Zeitalter in 
der Menschheitsentwickelung. Dann kam ein anderes Zeitalter, da wa- 
ren die Krafte in der ganzen Menschheit tatig, ausgebreitet iiber das 
ganze Leben, die sonst nur zwischen dem siebenten und vierzehnten 
Lebensjahr tatig sind. Dann kam die dritte Epoche, in der tatig waren 



die Krafte, die heute zwischen dem vierzehnten und einundzwanzig- 
sten Jahr wirken. Und dann lebten wir in einer Epoche, in der die 
Krafte ausgegossen waren uber das ganze Menschheitsleben, die sonst 
zwischen dem einundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Jahre tatig 
sind. Da nahern wir uns aber schon, so sagte Jesus von Nazareth, der 
Mitte des Menschenlebens, die in den DreiBigerjahren Uegt, wo fur den 
einzelnen Menschen die Jugendkrafte aufhoren aufzusteigen, wo er 
beginnt, den Abstieg zu vollziehen. Wir leben jetzt in dem Zeitalter, 
das entspricht dem achtundzwanzigsten bis funfunddreiBigsten Jahr 
des einzelnen Menschen, wo der Mensch den Abstieg des Lebens be- 
ginnt. Wahrend beim einzelnen Menschen andere Krafte noch da sind, 
die ihn weiterleben lassen, so ist in der ganzen Menschheit nichts mehr 
da. Das ist der groBe Schmerz, daB die Menschheit greisenhaft werden 
soli, ihre Jugend hinter sich hat, daB sie steht in dem Alter zwischen 
dem achtundzwanzigsten und funfunddreiBigsten Lebensjahr. Wo 
kommen neue Krafte her? Die Jugendkrafte sind erschopft. 

In einer solchen Weise sprach Jesus zu seiner Stiefmutter uber den 
Abstieg, der fur das ganze Leben der sich fortentwickelnden Mensch- 
heit beginne, daB ein unsaglicher Schmerz in seinen Worten sich aus- 
driickte, so daB man sah, es war jetzt wie hoffhungslos, ganz hoff- 
nungslos fur die Menschheit. Die Jugendkrafte sind erschopft, die 
Menschheit kann jetzt dem Greisenalter entgegengehen. Der einzelne 
Mensch, das wuBte er, der fuhrt gleichsam dadurch, daB ihm ein Rest 
der Krafte verbleibt, zwischen dem funfunddreiBigsten Lebensjahr 
und dem Tode sein Leben weiter. Die Menschheit aber hatte so etwas 
nicht; in die muBte erst etwas hineinkommen: das, was dem Einzel- 
leben eines Menschen notwendig ist zwischen dem achtundzwanzig- 
sten bis funfunddreiBigsten Lebensjahr. Makrokosmisch muBte die 
Erde durchleuchtet werden von der Kraft, von der sonst der Mensch 
durchleuchtet werden muB da, wo er den Aufstieg des Lebens zwi- 
schen dem achtundzwanzigsten und vierunddreiBigsten Jahr durch- 
macht. 

DaB die Menschheit als solche alt wird, das ist der Gedanke, das ist 
die Empfindung, die man jetzt in der Akasha-Chronik sieht und wah- 
rend der Erzahlung des Jesus von Nazareth fiihlt. Wahrend er so zu 



der Mutter sprach, wahrend sozusagen der Sinn der Menschheitsent- 
wickelung aus seinen Worten tonte, da wuBte er in einem Augen- 
blick, in dem gleichsam alles, was in seinem Selbst war, in seine Worte 
iiberfloB, daB mit ihnen aus seinem Eigenwesen etwas fortging, denn 
seine Worte waren dasjenige geworden, was er selbst war. Das war auch 
der Moment, wo jetzt hineinfloB in die Seele der Stief- oder Ziehmut- 
ter jene Seelenwesenheit, die in seiner leiblichen Mutter gelebt hatte, 
die nach dem Herausgehen des Zarathustra-Ichs in den Leib des ande- 
ren Jesusknaben der Erde abgestorben war und seit dem zwolften 
Lebensjahr des Jesus in geistigen Regionen lebte. Sie konnte von jetzt 
ab diese Seele der Stiefmutter durchgeistigen, so daB diese mit der Seele 
der leiblichen Mutter des nathanischen Jesusknaben lebte. 

Der Jesus von Nazareth aber hatte so intensiv sich selbst verbun- 
den mit den Worten, in die er all seinen Schmerz iiber die Menschheit 
gepragt hatte, daB dieses Selbst wie aus seinen Leibeshiillen ver- 
schwunden war, und seine Leibeshiillen jetzt wieder so waren, wie sie 
waren, als er ein kleiner Knabe war, nur durchtrankt von alldem, was 
er durchlitten hatte seit seinem zwolften Jahr. Das Ich des Zarathustra 
war weggegangen, und es lebte in seinen drei Hiillen nur das, was zu- 
riickgeblieben war durch die Macht der Erlebnisse. In diesen drei Hiil- 
len machte sich jetzt ein Impuls geltend; der trieb ihn auf einen Weg, 
welcher ihn dann zu Johannes dem Taufer am Jordan fiihrte. Wie in 
einer Art von Traum, der aber doch wieder kein Traum war, sondern 
ein hoheres BewuBtsein, so ging er den Weg, und nur die drei Hiillen 
waren da, durchgeistigt und durchpulst von den Wirkungen der Er- 
lebnisse seit dem zwolften Jahr. Das Ich des Zarathustra war wegge- 
gangen. Die drei Hiillen fiihrten ihn so, daB er kaum etwas wahrnahm 
von dem, was um ihn war. Er lebte, gerade weil das Ich fort war, ganz 
im Anschauen des Schicksals der Menschen, in dem auch, was den 
Menschen fehlte. 

Als er so dahinging auf dem Wege zu Johannes dem Taufer am 
Jordan, da begegneten ihm zwei Essaer, mit denen er oft Gesprache 
gefiihrt hatte. So wie er jetzt war, erkannte er die beiden Essaer nicht, 
denn wie entriickt war seine Ichheit. Sie aber kannten ihn. Und darum 
sprachen sie ihn an : Wohin geht dein Weg, Jesus von Nazareth ? - Das, 



was er zu ihnen sprach, habe ich versucht in Worte zu kleiden. Er 
sprach die Worte so, daB sie nicht wuBten, woher sie kamen, sie kamen 
aus ihm und doch nicht aus ihm : Dahin, wohin Seelen eurer Art nicht 
blicken wollen, wo der Schmerz der Menschheit die Strahlen des ver- 
gessenen Lichtes finden kann. 

Das waren die Worte, wie sie von ihm kamen. Und sie verstanden 
seine Rede nicht; sie merkten jetzt, daB er sie nicht erkannte. Und sie 
sprachen weiter : Jesus von Nazareth, kennst du uns nicht? - Und jetzt 
kamen noch merkwiirdigere Worte. Es war, wie wenn er zu ihnen ge- 
sprochen hatte : Ihr seid wie verirrte Lammer, ich aber war des Hirten 
Sohn, dem ihr entlaufen seid. Wenn ihr mich recht erkennet, werdet 
ihr bald von neuem entlaufen. Es ist lange her, daB ihr von mir in die 
Welt entflohen seid. 

Die Essaer wuBten nicht, was sie von ihm halten sollten, denn in- 
dem er so zu sprechen schien, nahmen seine Augen ein ganz besonde- 
res Geprage an. Sie waren wie nach auBen und doch wieder nach innen 
blickend. Sie waren wie Augen, die in ihrem Ausdruck etwas hatten 
wie von Vorwurf fur die angesprochenen Seelen. Es waren Augen, 
durch die es strahlte wie von milder Liebe, aber von einer Liebe, die 
fur die Essaer zum Vorwurf wurde, der aus ihrer eigenen Seele kam. 
So etwa kann man charakterisieren, was die Essaer empfanden, als sie 
ihn horten: Was seid ihr fur Seelen? Wo ist eure Welt? Warum hiillt 
ihr euch in tauschende Hiillen? Warum brennt in eurem Inneren ein 
Feuer, das in meines Vaters Hause nicht entfacht ist? 

Und es verstummten gleichsam ihre Seelen bei diesen Worten. Und 
er sprach weiter: Ihr habt des Versuchers Mai an euch, der traf euch 
nach eurer Flucht. Er hat mit seinem Feuer eure Wolle gleifiend ge- 
macht. Die Haare dieser Wolle stechen meinen BHck. Ihr verirrten 
Lammer ! Er hat eure Seelen mit Hochmut durchtrankt. 

Als er die Worte gesprochen hatte : GleiBend ist eure Wolle gewor- 
den, die Haare dieser Wolle stechen meinen Blick -, da nahm einer der 
Essaer das Wort und sagte : Haben wir nicht dem Versucher die Tike 
gewiesen? Er hat kein Teil mehr an uns. - Da dies der Essaer gespro- 
chen hatte, sagte Jesus weiter : Wohl wieset ihr ihm die Ture, doch er 
lief hin und kam zu den anderen Menschen. So greift er sie von alien 



Seiten an. Ihr erhoht euch nicht, wenn ihr die anderen erniedriget. Ihr 
kommt euch doch nur vor, als wenn ihr euch erhohtet, weil ihr die 
anderen laBt verkleinert werden ! Ihr bleibt so hoch, wie ihr seid, und 
nur weil ihr die anderen kleiner macht, so kommt ihr euch groB vor. 

Jesus von Nazareth sprach so, daB es die Essaer merken konnten. 
Und da er dies gesprochen hatte, war es so bedriickend fur die Essaer, 
daB sie nicht mehr schauen konnten. Ihre Augen verdunkelten sich, 
und Jesus von Nazareth war wie vor ihren Augen entschwunden. 
Dann aber, als er wie entschwunden war, da sahen sie wie von feme 
sein Angesicht, aber ins Riesenhafte vergroBert, wie eine Fata Morgana 
vor sich, weit, weit weg, und wie aus dieser Fata Morgana sprechend, 
kamen Worte her, etwas, was sie empfanden wie : Eitel ist euer Stre- 
ben, weil leer ist euer Herz, das ihr nur erfullet habt mit dem Geiste, 
der den Stolz in die Hiillen der Demut tauschend birgt. 

Dann war auch diese Fata Morgana entschwunden, und sie blieben 
bedriickt und bestiirzt stehen. Als sie wieder schauen konnten, sahen 
sie, daB er schon ein Stuck Wegs weitergegangen war, wahrend sie das 
Gesicht gesehen hatten. Und sie konnten nichts tun, als das BewuBt- 
sein haben, daB er schon ein Stuck weitergezogen war. Bedriickt gin- 
gen sie weiter in ihre Essaerherberge, und sie erzahlten niemals etwas 
von dem, was sie erlebt hatten, sondern schwiegen dariiber zeit ihres 
Lebens. Sie waren dadurch allerdings die Tiefsten an Seele unter ihren 
Mitbriidern geworden, aber sie schwiegen und wur den iiberaus stumme 
Briider, die nichts redeten als das, was zur alltaglichsten Verstandi- 
gung notwendig war. Ihre Briider wuBten nicht, warum sich ihr We- 
sen so verandert hatte. Bis zu ihrem Tod verrieten sie nichts von dem, 
was sie vernommen hatten. Sie erlebten daher in ganz besonderer 
Weise das mit, was sich ereignete als das Mysterium von Golgatha. 
Aber fur die anderen war das, was sie erlebt hatten, wie unwahrnehm- 
bar. 

Als Jesus eine Weile des Weges weitergegangen war, da begegnete 
er einem Menschen, der in seiner Seele tief verzweifelt war. Aber, wie 
gesagt, wie entriickt war Jesus den irdischen Verhaltnissen, so daB 
ihm unverstandlich war, daB etwas wie ein Mensch an ihn herankam. 
Um so tieferen Eindruck machte sein Wesen auf diesen Menschen, der 



in seiner Seele so verzweifelt war, daB er den Eindruck allertiefsten 
Leides machte. Den machtigen Eindruck, den diese Seele im Anblick 
des Jesus von Nazareth hatte, als er so daher kam, entlockte dem 
Jesus von Nazareth Worte, die etwa so gesprochen werden konnen: 
Wozu hat deine Seele ihr Weg gefiihrt? Ich habe dich vor viel tausend 
Jahren gesehen; damals warst du anders! 

Alles das horte dieser verzweifelte Mensch wie gesprochen von der 
Erscheinung des Jesus von Nazareth, die eben herankam. Durch diese 
Worte fiihlte sich der Verzweifelte getrieben, das Folgende zu sagen. 
Auf der einen Seite fiihlte er das Bediirfnis seiner Seele, sich auszu- 
sprechen, auf der anderen Seite selbst seines Schicksals Antwort zu 
finden: Ich habe es in meinem Leben zu hohen Wiirden gebracht. Ich 
lernte immer; durch das Gelernte stieg ich unter meinen Mitmenschen 
zu immer hoheren und hoheren Wiirden. Jede Wiirde hat mich stolzer 
gemacht und oft sagte ich mir: Was bist du doch fur ein seltener 
Mensch, so glanzend emporzusteigen liber deine Nebenmenschen! Ich 
fiihlte den Wert meiner Seele, die mehr wert sein muBte als die Seele 
anderer Menschen. Mein Hochmut stieg bei jeder neuen Wiirde. Da 
hatte ich einmal einen Traum. Ach, was war das fur ein furchtbarer 
Traum! Nicht nur, daB ich traumte, sondern indem ich traumte, war 
meine Seele ausgefiillt von Schamgefiihl. Denn ich schamte mich, so 
etwas zu traumen. Ich war in meinem Leben so stolz ! Und jetzt traumte 
ich so etwas, was ich nie hatte traumen mogen, und das kam mir im 
Traum gut vor. Ich traumte, ich stellte mir die Frage: Wer hat mich 
groB gemacht ? Und da stand ein Wesen vor mir, das sagte : Ich habe 
dich groB gemacht, ich habe dich erhoht, doch dafiir bist du mein ! - 
Das war, was ich als tiefste Schande fiihlte, daB ich jetzt die Offenba- 
rung erhielt, ich ware nicht eine Seele, die auserlesen war, die durch 
eigene Kraft gestiegen war; eine andere Wesenheit hatte mich erhoht. 
Im Traume ergriff ich die Flucht. Ich habe, als ich erwachte, wirklich 
die Flucht ergriffen, habe alle meine Wiirden verlassen. Ich wuBte 
nicht, was ich suchte, und so wandele ich, vor mir und vor dem, was 
ich etreicht habe, entniehend, lange schon in der Welt herum, mich 
schamend alles dessen, was ich einst im Hochmut gedacht habe. 

Als der verzweifelnde Mensch diese Worte gesprochen hatte, stand 



das Wesen, das zu ihm im Traum gesprochen hatte, wieder vor ihm, 
zwischen ihm und Jesus von Nazareth. Es deckte dieses Traumwesen 
die Gestalt des Jesus von Nazareth zu. Und als das Traumbild sich 
wieder verwandelt hatte, wie in Nebel zergangen war, da war auch 
Jesus schon weitergegangen. Als der Verzweifelnde sich umsah, sah 
er ihn schon ein ganzes Stuck weiter. Da muBte er denn in seiner Ver- 
zweif lung seines Weges weiterziehen. 

Dann kam Jesus von Nazareth ein Aussatziger entgegen, dessen 
Aussatz und dessen Leiden schon aufs hochste gestiegen waren. Und 
durch das, was diese Seele empfand, fuhlte sich wiederum das Wesen 
des Jesus von Nazareth zu Worten gedrangt, die der Aussatzige horte. 
Es waren wiederum die Worte: Wozu hat deine Seele ihr Weg ge- 
fuhrt? Ich habe dich vor vielen Jahrtausenden gesehen, da warst du 
anders ! 

Durch diese Worte wurde der Aussatzige bestimmt, zu sprechen ; 
wiederum in einer ahnlichen Weise, wie vorher der Verzweifelnde be- 
stimmt worden war, zu sprechen. Der Aussatzige sagte: Ich weiB 
nicht, wie ich zu der Krankheit komme; sie trat allmahlich an mich 
heran. Und die Menschen duldeten mich nicht mehr unter sich. Ich 
muBte in die Einode wandern, konnte kaum vor den Turen das erbet- 
teln, was die Leute mir hinwarfen. Da kam ich eines Nachts in die 
Nahe eines dichten Waldes. Da sah ich wie aus einer Lichtung mir ent- 
gegenkommend einen Baum, der, von selbst leuchtend, zu mir hin- 
blinkte. Ich hatte denDrang, dem Baum, der so leuchtend mir entgegen- 
blinkte, naherzutreten. Der Baum zog mich an. Und als ich in die Nahe 
des Baumes kam, da trat wie aus dem Licht des Baumes auf mich los 
ein Gerippe. Ich wuBte: Der Tod ist es, der in dieser Form vor mir 
steht. Und der Tod sagte zu mir: Ich bin du; ich zehre an dir. Furchte 
dich nicht! - Aber das Gerippe sprach weiter: Warum furchtest du 
dich? Hast du mich nicht einst geliebt durch viele Leben hindurch? 
Nur wuBtest du es nicht, daB du mich liebtest, denn ich war dir er- 
schienen als ein schoner Erzengel; den glaubtest du zu lieben. - Und 
dann stand nicht der Tod vor mir, sondern der Erzengel, den ich oft 
gesehen hatte, und von dem ich wuBte: Das war das Bild, das ich ge- 
liebt hatte. Dann war er verschwunden. Ich aber erwachte erst am 



nachsten Morgen, an dem Baume liegend, und fand mich so, daB ich 
noch elender war als vorher. Und ich wuBte, daB alles das, was ich an 
Lebensgemissen geliebt hatte, was an Eigenliebe in mir lebte, daB alles 
das zusammenhangt mit dem Wesen, das mir als Tod und als Erzengel 
erschienen war, das behauptete, ich liebte es, und ich ware es selbst. 
Jetzt stehe ich vor dir, von dem ich nicht weiB, wer er ist. - Und jetzt 
erschien wiederum der Erzengel und dann auch der Tod und stellte 
sich zwischen den Aussatzigen und Jesus von Nazareth und verdeckte 
dem Blick des Aussatzigen den Jesus von Nazareth. Als der Aussatzige 
nur den Erzengel sah, verschwand Jesus, und dann verschwand auch 
der Tod und der Erzengel. Und der Aussatzige muBte weitergehen 
und sah nur, wie schon weiter fortgeschritten, den Jesus von Nazareth. 

Das waren solche Ereignisse, die sich darboten auf dem Weg, wenn 
man ihn Akasha-Chronik-maBig verfolgt, den Jesus von Nazareth ge- 
gangen war zwischen dem Gesprach mit der Mutter und der Johannes- 
taufe im Jordan. 

Wir werden dann morgen sehen, wie diese Ereignisse, die sich da 
abgespielt haben in der Begegnung mit den zwei Essaern, in der Be- 
gegnung mit dem Verzweifelnden und in der Begegnung mit dem 
Aussatzigen, weiterwirkten in den Hiillen des Jesus von Nazareth, wie 
das, was da an Beriihrungen mit der Welt, die der Jesus, welcher er wie 
entriickt war, kaum verstand, sich verquickte mit dem, was er empfing 
bei der Johannestaufe im Jordan. 

Wem diese Ereignisse, die ich da erzahlt habe, sonderbar oder 
wunderbar erscheinen, diese Ereignisse, die sich gerade zwischen dem 
Gesprach mit der Stief- oder Ziehmutter und der Johannestaufe ab- 
spielten, dem kann ich nur sagen: Sie mogen sonderbar erscheinen; 
sie stellen sich wahrhaftig dar bei dem Erforschen in der Akasha-Chro- 
nik. Sie stellen Ereignisse dar, die allerdings so einzig in ihrer Art sind, 
wie sie einzig sein miissen, da sie die Vorbereitung sind zu einem Er- 
eignis, das auch nur einmal hat stattfinden konnen, zu dem Ereignis, 
das wir das Mysterium von Golgatha nennen. Wer nicht eingehen will 
auf den Gedanken, daB sich dazumal innerhalb der Entwickelung der 
Menschheit etwas ganz Besonderes abgespielt hat, dem wird der ganze 
Hergang der Menschheitsentwickelung schwer verstandlich sein. 



Koln, 18. December 1913 
Zweiter Vortrag 



Bevor ich in der Betrachtung des Christus Jesus-Lebens weitergehe, 
mochte ich einige wenigstens andeutende Bemerkungen machen uber 
die Art, wie solche Dinge gefunden werden. Es kann sich ja natiirlich 
nur darum handeln, mit wenig Worten eine auBerordentlich ausfiihr- 
liche Sache zu charakterisieren. Aber ich mochte doch, daB Sie eine 
Vorstellung haben von dem, was man okkulte Forschung nennen 
kann, die bis zu dem Grade geht, durch den man eindringt zu solchen 
konkreten Tatsachen, wie wir sie gestern zum Beispiel hier betrachten 
konnten. 

Zunachst kann man ja gegemiber diesen Dingen sagen: Es beruhen 
diese Forschungen auf einem Lesen in der Akasha-Chronik. - In allge- 
meinen Zugen habe ich in den Artikeln, die in der Zeitschrift «Luci- 
fer-Gnosis» unter dem Titel «Aus der Akasha-Chronik » erschienen 
sind, hingewiesen, wie ein solches Lesen in der Akasha-Chronik auf- 
zufassen ist. Nun muB man sich klar dariiber sein, daB die verschiede- 
nen Tatsachen des Weltgeschehens und Weltenseins in verschiedener 
Weise gefunden werden miissen, und so mochte ich jetzt gleichsam 
das, was schon gesagt worden ist, noch genauer zum Ausdruck brin- 
gen. Es ist gut, festzuhalten, daB es im Grunde genommen im Welten- 
all doch nichts anderes gibt als BewuBtseine. AuBer dem BewuBtsein 
irgendwelcher Wesenheiten ist letzten Endes alles iibrige dem Gebiete 
der Maja oder der groBen Illusion angehorig. Diese Tatsache konnen 
Sie besonders aus zwei Stellen in meinen Schriften entnehmen, auch 
noch aus anderen, besonders aber aus zwei Stellen: zunachst aus der 
Darstellung der Gesamtevolution der Erde von Saturn bis Vuikan in 
der «Geheimwissenschaft im UmriB», wo geschildert wird das Fort- 
schreiten vom Saturn zur Sonne, von der Sonne zum Mond, vom 
Mond zur Erde und so weiter, zunachst nur in BewuBtseinszustan- 
den. Das heiBt, will man zu diesen groBen Tatsachen aufsteigen, so 
muB man so weit aufsteigen im Weltengeschehen, daB man es zu tun 



hat mit BewuBtseinszustanden. Also man kann eigentlich nur BewuBt- 
seine schildern, wenn man die Realitaten schildert. Aus einer anderen 
Stelle in einem Buche, das in diesem Sommer erschienen ist, «Die 
Schwelle der geistigen Welt», ist das gleiche zu entnehmen. Da ist ge- 
zeigt, wie durch aUmahliches Aufsteigen der SeherbUck sich erhebt 
von dem, was sich um uns herum ausbreitet als Dinge, als Vorgange 
in den Dingen, wie das alles sozusagen als ein Nichtiges entschwindet 
und schmilzt, vernichtet wird und zuletzt die Region erreicht wird, wo 
nur noch Wesen in irgendwelchen BewuBtseinszustanden sind. Also, 
die wirklichen Realitaten der Welt sind Wesen in den verschiedenen 
BewuBtseinszustanden. DaB wir in dem menschlichen BewuBtseinszu- 
stand leben und von diesem BewuBtseinszustand keinen vollen t)ber- 
blick liber die Realitaten haben, das bewirkt, daB uns dasjenige, was 
keine Realitat ist, als eine Realitat erscheint. 

Ich habe das vergleichsweise schon oft hervorgehoben. Sie brauchen 
sich nur die folgende Frage vorzulegen : Ist ein Haar, ein Menschen- 
haar, als solches eine Realitat, auch nur im eingeschranktesten Sinne? 
Hat es einen selbstandigen Be§tand? Unsinn ware es, zu sagen, ein 
Menschenhaar habe einen selbstandigen Bestand. Einen Sinn hat es 
nur, es so anzusehen, daB man es als wachsend am Menschenleibe auf- 
faBt, sonst kann es nicht vorkommen, es kann nicht fur sich bestehen. 
Als Realitat, die man nur im gewohnlichen Leben im Auge hat, als 
selbstandiges Wesen auch nur in diesem irdischen Sinne ein Haar an- 
zusprechen, empfindet deshalb jeder als Unsinn, da nirgends ein Haar 
abgesondert entstehen kann. Die einzelne Pflanze empfindet man oft 
als ein einzelnes Wesen, und doch ist sie ebensowenig ein einzelnes 
Wesen wie ein Haar. Denn was das Haar am Kopfe, das ist die Pflanze 
am Organismus der Erde, und es hat gar keinen Sinn, die einzelne 
Pflanze zu betrachten. Die Erde muB man betrachten analog zum Men- 
schen und alle Pflanzen auf der Erde als zur Erde gehorig, wie das 
Haar auf dem Kopfe des Menschen. So wenig wie auBerhalb des Kop- 
fes ein Haar fur sich bestehen kann, so wenig kann eine Pflanze als 
selbstandiges Wesen auBerhalb des Organismus der Erde bestehen. 
Wichtig ist, zu berucksichtigen, wo man aufzuhoren hat, wenn man 
ein Wesen als ein Wesen fur sich ansieht. Aber im letzten Sinne, den 



der Mensch erreichen kann, ist alles das, was nicht in einem BewuBt- 
sein wurzelt, kein selbstandiges Wesen. Alles wurzelt in einem Be- 
wuBtsein, und zwar in verschiedener Weise. 

Nehmen wir einmal einen Gedanken, also das, was wir als Menschen 
denken. Zunachst sind diese Gedanken in unserem BewuBtsein, aber 
sie sind nicht bloB in unserem BewuBtsein. Sie sind zugleich in dem 
BewuBtsein der Wesen der nachsthoheren Hierarchie, der Angeloi, der 
Engel. Wahrend wir einen Gedanken haben, ist unsere ganze Gedan- 
kenwelt zum Beispiel Gedanke der Engel. Die Engel denken unser 
BewuBtsein. Und darum werden Sie erkennen, wie man, wenn man 
zum Sehertum aufsteigt, eine andere Empfindung gegeniiber dem An- 
schauen der Wesen der hoheren Welten entwickeln muB als in der 
gewohnlichen auBeren Wirklichkeit. Wenn man so wie iiber die phy- 
sisch-sinnliche Welt, iiber das irdische Dasein denkt, kann man nicht 
zu einem hoheren Sehertum hinauf kommen. Man muB da nicht bloB 
denken, sondern man muB gedacht werden und ein Wissen davon 
haben, daB man gedacht wird. Es ist nicht gerade leicht, weil dazu 
Menschenworte heute noch nicht gepragt sind, genau zu charakterisie- 
ren, was man da fur eine Empfindung gegeniiber seinem Anschauen 
hat. Aber man kann etwa - man wahle einen Vergleich - so sagen, daB 
man allerlei Bewegungen ausfuhrt und diese Bewegungen wiirde man 
nicht an sich beobachten, sondern man wiirde in das Auge eines 
Nebenmenschen hlkken und dort das Spiegelbild der eigenen Bewe- 
gungen beobachten und sich sagen : Wenn man da beobachtet, so wisse 
man daraus, daB man dieses oder jenes mit den Handen oder dem 
Mienenspiel vollfuhrt. Dieses Gefuhl hat man schon bei der nachsten 
Stufe des Sehertums. Man weiB nur im allgemeinen, daB man denkt, 
aber man beobachtet sich im BewuBtsein der Wesen der nachsthohe- 
ren Hierarchie. Man laBt seine Gedanken von den Engeln denken. Man 
muB wissen, daB man nicht selbst seine Gedanken in seinem BewuBt- 
sein dirigiert, sondern daB die Wesen der nachsthoheren Hierarchie 
diese Gedanken dirigieren. Man muB das BewuBtsein der Engel, einen 
durchwallend und durchwebend, fiihlen. Dann erlangt man gleichsam 
einen AufschluB iiber die fortlaufenden Impulse der Entwickelung, 
zum Beispiel iiber die Wahrheit des Christus-Impulses, wie er auch 



jetzt noch fortwirkt, nachdem er einmal da ist. Die Engel konnen diese 
Impulse denken; wir Menschen konnen sie denken und charakterisie- 
ren, wenn wir uns gegeniiber unseren Gedanken so verhalten, daB wir 
sie hingeben den Engeln, daB diese in uns denken. Das erlangt man 
eben durch fortgesetztes Uben, wie ich es in meinem Buche «Wie er- 
langt man Erkenntnisse der hoheren Welten?» beschrieben habe. Von 
einem gewissen Moment an verbindet man ein Gefuhl, einen Sinn mit 
den Worten: Deine Seele denkt jetzt nicht mehr; sie ist ein Gedanke, 
den die Engel denken. - Und indem das fur das einzelne menschliche 
Erleben eine Wahrheit wird, erlebt man in sich, sagen wir, die Gedan- 
ken der allgemeinen Christus-Wahrheiten oder auch andere Gedanken 
iiber die weise Fiihrung der Erdenevolution. 

Diejenigen Dinge, welche sich beziehen auf die einzelnen Epochen 
der Erdenentwickelung, auf die urindische Epoche, auf die urpersische 
Epoche und so weiter, die werden gedacht von den Erzengeln. Durch 
weiteres Uben kommt man dazu, nicht bloB von den Engeln gedacht 
zu werden, sondern von den Erzengeln erlebt zu werden. Man muB 
nur im weiteren Verlauf seines Ubens dazu kommen, daB man weiB : 
Du gibst dein Leben dar fur das Leben der Erzengel. - In dem Buche 
«Die Schwelle der geistigen Welt» ist einiges Genauere von diesen 
Dingen geschildert, namlich, wie man das Gefuhl bekommt, wenn 
man seine Ubungen fortsetzt - auch in Miinchen habe ich davon ge- 
sprochen -, mit grotesken Worten, als wenn man den Kopf in einen 
Ameisenhaufen hineinstecken wiirde. Die Ameisen sind die Gedanken, 
die sich bewegen. Wahrend man im gewohnlichen Leben meint, man 
denke seine Gedanken, kommt man durch das Uben dazu, einzusehen, 
daB die Gedanken in einem denken, weil die Angeloi, die Engel, in 
einem denken. Und im weiteren Verlauf des Ubens bekommt man das 
Gefuhl, daB man in verschiedene Gebiete der Welt durch die Erzengel 
getragen wird und dadurch diese Gebiete kennenlernt. Wer in richti- 
ger Weise die agyptische Kultur, die indische Kultur schildert, der 
weiB erst einen Sinn zu verbinden mit dem, was es heiBt: Deine 
Seele wird getragen von einem Erzengel in diese oder jene Zeit. - Es 
ist so, wie wenn die Safte unseres Lebens wiiBten, daB sie den Lebens- 
prozeB unterhalten und im Organismus wie das Blut herumgefiihrt 



werden. So weiB der Seher: er wird von den Er2engeln im Lebens- 
prozeB der Welt herumgefiihrt. 

Aber die Dinge, die sich auf die Durchdringung der Seele eines ein- 
zelnen Erlebnisses beziehen, sie konnen erst erforscht werden, wenn 
die Seele einen Sinn verbindet mit den Worten: Die Seele reicht sich 
als Speise dar den Urbeginnen oder Archai, den Geistern der Persbn- 
lichkeit. - Das soeben Gesagte nimmt sich grotesk aus, aber wahr ist 
es, daB man solche konkrete Tatsachen wie das Leben des Jesus von 
Nazareth nicht erforschen kann, bevor man nicht einen Sinn mit den 
Worten verbindet: man werde als geistige Nahrung gegessen und 
diene so den Geistern der Personlichkeit. Es ist etwas, das selbstver- 
standlich fur den Menschen, der heute in der auBeren Welt steht, sich 
wie Wahnsinn anhort. Selbstverstandlich ! Aber dennoch, so wahr der 
Bissen Brot, der in unseren Magen geht, unsere Nahrung wird - und 
wenn er es sich uberlegen konnte, so wiirde er wissen, daB er einen 
Sinn und Lebenszweck hat, indem er durch uns Nahrung wird -, eben- 
so wahr ist es, daB wir Menschen den Sinn haben, den Archai zur Nah- 
rung zu dienen. Wahrend wir hier auf der Erde herumspazieren, sind 
wir zugleich Wesen, die fortwahrend von den Archai verzehrt, geges- 
sen werden. Nicht leugnen werden Sie, daB die Menschen das im ge- 
wohnlichen Leben nicht wissen, daB sie das Wahnsinn nennen wiir- 
den, wenn ihnen jemand so etwas sagte. Der Mensch ist gegeniiber den 
Archai dasselbe, was das Weizenkorn fur Sie als physische Menschen 
ist. Aber dies nicht nur theoretisch wissen, sondern so leben gegen- 
iiber den Archai, wie das Weizenkorn leben wiirde, wenn es zu Brei 
zermalmt durch unsere Zahne, durch Gaumen und Magen geht mit 
diesem BewuBtsein : Ich bin Speise des Menschen -, so auch wissen : 
Ich bin Speise den Archai, ich werde verdaut von den Archai, das ist 
ihr Leben, was ich lebe in ihnen - dies lebendig wissen, heiBt, sich 
versetzen in das BewuBtsein der Geister der Personlichkeit, der Ar- 
chai, ebenso wie es heiBt, sich versetzen in das BewuBtsein der Erz- 
engel, wenn man weiB : Deine Seele wird getragen von den Erzengeln 
in diese oder jene Zeit -, und wie es heiBt, sich versetzen in das Be- 
wuBtsein der Engel, wenn man weiB : Meine Gedanken werden gedacht 
von den Engeln. 



Die Zustande des Erlebens miissen andere werden, wenn man 
lesend in die hoheren Welten eindringen will. Notwendig ist, mit 
Wissen verzehrt zu werden von den Geistern der Personlichkeit, wenn 
diejenigen Tatsachen erforscht werden sollen, die so konkret wie das 
Leben des Jesus von Nazareth in der Menschheitsentwickelung da- 
stehen. 

Vielleicht dienten die Bemerkungen, die ich gemacht habe, doch 
auch einigermaBen dazu, das ganz Andersartige dieser okkulten For- 
schung darzulegen gegenuber den Forschungen in der auBeren Welt. 
Denn das Bild konnen Sie durchaus durchdenken, und es gibt Ihnen 
richtige Anhaltspunkte: Sie konnen sich in das Weizenkorn versetzen, 
das zu Brei zermalmt wird, zwischen den Zahnen zerkleinert wird, um 
eine Vorstellung davon zu bekommen, was durchaus analogisch rich- 
tig ist, wenn es sich um ein Lesen im BewuBtsein der Archai handelt. 
Man muB auch da seelisch zermalmt werden und muB es fiihlen. Das 
heiBt, hohere Forschung ist nicht moglich ohne innere Tragik, ohne 
inneres Erleiden. So glattweg abstrakt, daB es nicht wehtut, so wie die 
Forschungen in der physischen Welt verlaufen, so ist eine Forschung 
in den hoheren Welten nicht zu erlangen, wenn sie mehr sein soli als 
Phantasterei. Daher die Bemuhungen, die ich gestern versuchte: abzu- 
lenken bei der Schilderung des Jesuslebens von abstrakten Begriffen, 
von abstrakten Schilderungen. Erinnern Sie sich, worauf ich in der 
Hauptsache Ihre Aufmerksamkeit lenkte als auf das, worauf es an- 
kommt. Ich sagte: So war das Leben des Jesus von Nazareth zwischen 
dem zwolften, achtzehnten, zwanzigsten und bis zum dreiBigsten 
Jahr. - Was man da schildert, das ist es weniger, worauf es an- 
kommt. Worauf es ankommt, ist, ein lebendiges Fiihlen zu bekom- 
men von dem, was die Jesusseele durchgemacht hat, indem sie das er- 
lebte, was geschildert worden ist, nachzufiihlen den Schmerz der Ein- 
samkeit, den unendlichen Schmerz, einsam dazustehen mit Urwahrhei- 
ten, fur die keine Ohren da waren, zu horen. Hinweisen wollte ich auf 
das Empfindungsleben des Jesus von Nazareth. Den dreifachen gro- 
Ben Mitschmerz der Menschheit fur die Zeit vom zwolften bis zum 
dreiBigsten Jahr wollte ich darlegen. Nicht so sehr dadurch, daB Sie die 
Ereignisse, die ich versuchte anzudeuten, nun sich selbst oder anderen 



erzahlen, wissen Sie etwas von der Bedeutung des Jesus-Erlebens als 
einer Vorbereitung zum Mysterium von Golgatha, sondern dadurch 
erst, daB Sie sich eine Vorstellung verschaffen, die tief Ihre Seele be- 
wegt und erschiittert, eine Vorstellung von dem, was gelitten werden 
muBte von diesem Menschen Jesus von Nazareth, bis er herantreten 
konnte an das Mysterium von Golgatha, damit der Christus-Impuls 
in die Erdenentwickelung einflieBen konnte. 

Dadurch wird eine lebendige Vorstellung von diesem Christus-Impuls 
hervorgerufen, daB man dieses Leiden sich wieder erweckt, daB man 
die Tatsachen schildern muB, die sich auf solche Dinge beziehen, wie 
die jetzt betrachteten, indem man versucht, Empfindungen zu vergegen- 
wartigen. Das konnen Sie aus der Art der Akasha-Forschung entneh- 
men, die ich in ein paar Worten zu charakterisieren versuchte. Je mehr 
es gelingt, diese wogenden, wellenden und webenden Empfindungen 
einer solchen Wesenheit, wie Jesus von Nazareth es war, wieder in 
sich zu empfinden, desto mehr dringt man in solche Geheimnisse ein. 

Was nunmehr in diesem Jesusleben kommt - ich brauche es nicht zu 
schildern, es ist oft davon gesprochen worden daB durch die Johan- 
nestaufe im Jordan in die drei Hiillen des Jesus von Nazareth, nach- 
dem sie durchgeistigt worden waren durch das Leben des Zarathustra- 
Ichs in ihnen, die Christus- Wesenheit eintrat, also eine Wesenheit aus 
dem Gebiete der geistigen Welt herabstieg und das weitere Schicksal 
hatte, nun durch drei Jahre in einem Menschenleibe zu sein, an einen 
Menschenleib gebunden. Wichtig ist es, daB wir uns klarmachen, was 
das eigentlich fur eine Tatsache ist. Denn im Grunde genommen unter- 
scheidet sich diese Tatsache ganz betrachtlich von alien anderen Tat- 
sachen der Erdenentwickelung. Und in dem Augenblick, wo wir jetzt 
herantreten an das Ereignis, durch das in die Hiillen des Jesus von Na- 
zareth die Christus- Wesenheit einzog, treten wir an etwas heran, was 
eigentlich nicht mehr bloB eine menschliche Angelegenheit der Erden- 
entwickelung ist. Das muB man sich auch einmal klarmachen. 

Man kann diese Angelegenheit vom menschlichen Standpunkt be- 
trachten. Dann sagt man : Es hat einmal einen Menschen gegeben, wie 
wir ihn geschildert haben. Er nahm auf die Christus-Wesenheit, den 
Christus-Impuls. - Aber man kann die Sache auch ganz anders betrach- 



ten, obwohl die Betrachtungen, die man dabei anzustellen hat, recht 
diinn an Vorstellungen verlaufen miissen; das macht aber nichts. Wir 
werden uns nach unserer geisteswissenschaftlichen Vorbereitung et- 
was dabei denken konnen. 

Nehmen wir einmal an, wir saBen im Rate der Menschen nicht als 
Menschen und betrachteten das Mysterium von Golgatha, sondern wir 
saBen im Rate der hoheren Hierarchien als ein Wesen der hoheren 
Hierarchien und betrachteten das Mysterium von Golgatha. In geisti- 
ger Beziehung ist diese Anderung des Gesichtspunktes durchaus mog- 
lich. Es laBt sich dies vergleichen etwa damit: Wenn wir einen Berg 
vor uns haben, auf dessen mittlerer Hohe ein Dorf liegt, kann man das 
Dorf von unten sehen, man kann es aber auch vom Gipfel des Berges 
anschauen. Es ist ganz naturlich, daB man meistens das Mysterium von 
Golgatha vom menschlichen Standpunkte aus ansieht. Man kann aber 
auch einmal hinaufsteigen in die Sphare der hoheren Hierarchien. Wie 
wiirde man dann sprechen von dem Mysterium von Golgatha? Dann 
miiBte man sagen: Als die Erde mit ihrer Entwickelung begonnen 
hat, da hatten die Wesenheiten der hoheren Hierarchien mit den Men- 
schen gewisse Absichten. Sie wollten die irdische Entwickelung in 
einer bestimmten Weise lenken. Aber in diese vorgesehene Lenkung 
der irdischen Angelegenheiten der Menschheit hat sich zunachst Luzi- 
fer hineingemischt. Da also schaut man als eine Wesenheit der hohe- 
ren Hierarchien auf die Erdenentwickelung herab, wie man die Men- 
schengeschicke leiten will - da verandert Luzifer die Richtung dieser 
Entwickelung, die man in anderer Form leiten wollte. 

Jetzt sieht man weiter herunter auf die Menschheitsevolution und 
sagt sich: Nicht alles, was da unten geschieht, geschieht durch uns. Da 
mischt sich fortwahrend Luzifer hinein. Dadurch, daB Luzifer sich hin- 
einmischte und spater auch noch Ahriman dazu kam, ist gegeniiber 
den Taten der hoheren Hierarchien ein fremdes Element in der 
Menschheitsentwickelung darin. Man kann in einer gewissen Weise es 
so ausdriicken, daB diese Wesenheiten der hoheren Hierarchien sich 
sagten : Bis zu einem gewissen Grade ist das irdische Feld fur uns ver- 
loren. Da sind Krafte darinnen, die dieses irdische Feld mit den Men- 
schenseelen uns entfernen. 



Nun geschieht die Lenkung durch die hoheren Hierarchien so, 
daB diese stufenweise, je nach ihren Kraften, an dieser Fiihrung 
beteiligt sind, zunachst die niedrigsten. Die Angelegenheiten der 
Erdenentwickelung werden so gefiihrt, daB zwar die hohen Wesen- 
heiten bis hinauf zu den hochsten tatig sind, daB sie aber gewisse 
Angelegenheiten durch ihre Diener besorgen lassen, durch die 
Engel, Erzengel und Archai, so daB zunachst diese eingreifen in die 
Evolution. 

Wir versetzen uns, so sagte ich - selbstverstandlich in aller Demut — , 
in den Rat der hoheren Hierarchien, nicht in den Rat der Menschen. 
Wir konnen dann sagen: Da sind unsere Boten, die Engel, Erzengel 
und Archai; sie konnten unsere Befehle so gut ausfuhren, wenn nicht 
in dem irdischen Felde fremde Krafte darinnen waren. - Und da 
kommt dann der groBe RatschluB der Gotter heraus, der etwa zu fol- 
gendem Resultat fiihrt: Weil wir nicht in der Lage waren, Luzifer und 
Ahriman von der irdischen Entwickelung abzuhalten, dadurch haben 
unsere Diener, die Engel, Erzengel und Archai, die Moglichkeit 
verloren, von einem bestimmten Zeitpunkte an fur die Menschen das zu 
tun, was in unserem Sinne getan werden miiBte. - Und dieser Zeitpunkt 
war eben der, in den das Mysterium von Golgatha fiel. 

Als dieser Zeitpunkt heranruckte, muBten sich die Gotter der hohe- 
ren Hierarchien sagen: Wir verlieren die Moglichkeit, daB unsere Die- 
ner in die Menschenseelen eingreifen. Dadurch, daB wir Luzifer und 
Ahriman nicht abhalten konnten, sind wir nur imstande, bis zu diesem 
Zeitpunkt zu wirken durch unsere Diener. Dann entstehen in den 
Menschenseelen Krafte, die nicht mehr von den Engeln, Erzengeln 
und Archai dirigiert werden konnen. Die Menschen entfallen uns 
durch die Krafte von Luzifer und Ahriman. 

Das war tatsachlich - wenn wir so sagen diirfen - die « Stimmung 
im Himmel», als der Zeitpunkt herannahte, mit dem die neue Zeit als 
ihrem Beginne rechnet. DaB durch ihre Diener nicht mehr genugend 
gesorgt werden konnte fur die Menschen von einem bestimmten Zeit- 
punkte an, das war die groBe «Angst» der Gotter. Sie werden den 
Ausdruck nicht miBverstehen, denn Sie sind vorbereitet durch die 
Geisteswissenschaft, daB Ausdriicke einen anderen Sinn und Ernpnn- 



dungswert bekommen, wenn man sich ihrer bedient zur Charakteri- 
sierung der hoheren Welten. 

Diese Gotterangst riickte heran; immer qualender und qualender 
und qualender wurde sie - wenn wir so sagen diirfen - in den Him- 
meln. Da entstand der EntschluB, den Sonnengeist herabzusenden, ihn 
hinzuopfern, indem man sich sagte: Er soil fortan ein anderes Los 
wahlen, als im Rate der Gotter zu sitzen; er soli einziehen auf den 
Schauplatz, wo menschliche Seelen leben. Wir opfern diesen Sonnen- 
geist hin. Bis jetzt lebte er unter uns, in den Spharen der hoheren 
Hierarchien; jetzt zieht er durch das Tor des Jesus in die Erdenaura 
ein. 

So war es im Rate der Gotter, als das Mysterium von Golgatha ein- 
trat; so sieht die Sache von oben aus. Wir haben es also miteiner An- 
gelegenheit der die Erde fuhrenden Gotter, nicht bloB mit einer 
menschlichen Angelegenheit zu tun. Die Sache kann so angesehen 
werden, daB man nicht bloB fragt: Was muB fur die Menschheit ge- 
schehen, damit sie nicht auf der abschussigen Bahn sich verliert? - 
sondern von der anderen Seite konnte so gefragt werden : Was haben 
wir Gotter zu tun, um einen Ausgleich zu schaffen fur das, was ge- 
schehen ist, indem wir Luzifer und Ahriman zulassen muBten bei der 
Erdene volution ? 

Und nun kann man sich eine Empfindung davon verschaffen, daB 
das Mysterium von Golgatha noch etwas anderes ist als eine bloB 
irdische Angelegenheit, daB es eine Angelegenheit der Gotter ist, ein 
Ereignis der Gotterwelt. Wahrhaftig, bedeutender noch als es fur die 
Menschen war, daB sie den Christus aufnehmen konnten, war es fur 
die Gotter, daB sie abgeben muBten den Christus an die Erde. 

Und was ist eigentlich im Grunde genommen das Erkennen des 
Mysteriums von Golgatha noch auBer dem, daB man darin das Mittel- 
punktsereignis der Erde erkennen kann? - DaB man, indem man hin- 
schaut auf das Mysterium von Golgatha, es als eine Gotterangelegen- 
heit ansieht ; daB die Gotter da ein Himmelsfenster offnen, daB sie ihre 
Angelegenheiten eine Weile vor den Augen der Menschen abmachen, 
und daB der Mensch zuschauen kann bei dieser Gotterangelegenheit! 
Das muB man fuhlen lernen, indem man hinblickt auf das Mysterium 



von Golgatha, daB es so ist, wie wenn man vor dem immer verschlos- 
senen Himmelshause hinginge, und wie wenn man in diesem Punkte 
an einem Fenster vorbeiginge und durch dieses Fenster hineinsehen 
diirfte in das, was sonst immer hinter den Mauem des Gotterwohn- 
sitzes unsichtbar war. 

So fiihlt sich auch in Ehrfurcht der wirklich okkultistisch empfin- 
dende Mensch gegeniiber dem Mysterium von Golgatha wie jemand, 
der um ein Haias herumschleicht, das uberall verschlossen ist, nur 
ahnend, was darinnen vorgeht. An einer Stelle aber ist ein Fenster, 
durch das er Zeuge werden kann von einem kleinen Ausschnitt des- 
sen, was darinnen vorgeht. Solch ein Fenster gegeniiber der geistigen 
Welt ist fur den Menschen das Mysterium von Golgatha. So muB man 
das empfinden, was da geschah, als die Christus-Wesenheit herabstieg 
in den Leib oder eigentlich in die drei Hullen des Jesus von Nazareth. 
Immer tiefer und tiefer sollen wir uns mit dieser Idee durchdringen, 
daB wir Zuschauer sind durch das Mysterium von Golgatha bei einer 
Gotterangelegenheit. 

Wenn von solchen Dingen gesprochen wird, mussen die Worte in 
einer anderen Weise gebraucht werden als im gewohnlichen Leben. 
Man muB von etwas sprechen, wie von der «Angst», der «Furcht» 
der Gotter vor dem Zeitpunkt, der dann erfullt werden muBte in der 
Erdenevolution mit dem Mysterium von Golgatha. Man muB die 
Worte fur die heilig-geistigste Angelegenheit der Menschheit in um- 
gepragter Weise gebrauchen. Es ist unendlich leicht fur alle diejenigen 
in der Welt, die nur allzusehr bereit sind, aus Torheit, aus Frivolitat, 
aus Eitelkeit oder aus anderen Griinden, herabzuwiirdigen, was im 
heiligsten Sinne gemeint ist. Man braucht ja nichts anderes zu tun, als 
irgend etwas, was als Wort gepragt ist, so umzudrehen, wie man das 
Wort im exoterischen Leben haben will. Und man hat die Moglich- 
keit, in ihr Gegenteil zu verkehren eine solche Sache, die der Men- 
schenseele abgerungen ist, wenn sie ausgesprochen ist bloB aus der 
inneren Notigung heraus, die Wahrheiten der geistigen Welt zu ver- 
kiindigen, die so schwer sich der Seele entreiBen. Man verkehrt sie, 
indem man sie lacherlich, teuf lisch, satanisch findet, wenn die notige 
Frivolitat, die notige Leichtfertigkeit in den Seelen vorhanden ist. 



Diese ist in unserer Zeit nur allzusehr verbreitet in den Seelen. Und 
nur allzu gering ist die Wachsamkeit derer, welche da hiiten sollten 
den Schatz der heilig-geistigen Wahrheiten, die gerade in unserer 
Gegenwart in die Herzen der Menschen einziehen sollen. 

Wie groB ist die Bequemlichkeit, mit der man seinen Geist nahren 
mochte! Wie oft muB man Bejammernswertes sehen! Wenn nur ein 
wenig iiber den Materialismus hinaus vom Geiste gesprochen wird, so 
erklaren sich die Leute dadurch leicht befriedigt, weil sie sich dabei 
nicht anzustrengen, besonders ihr Gemiit nicht anzustrengen brau- 
chen. Man sollte fuhlen, wie man dadurch, daB man an der heilig- 
geistigen Betrachtung der heiligsten Angelegenheiten der Erdenent- 
wickelung teilnimmt, eine Verantwortlichkeit hat gegeniiber dem Gut 
der Schatze des Wissens, die sich auf die geistige Welt beziehen. Die 
Frivolitat unserer Zeit auf diesem Gebiete ist so groB und nimmt es 
so leicht. Sie werden sie da und dort immer wieder auftauchen sehen, 
vielleicht aber in ihrer ganzen Abscheulichkeit nur bemerken, wenn 
Sie wachsam genug sind und Ihre Herzen genug fur das Heiligste der 
geistigen Wahrheiten entzundet sind. Vielleicht konnen Sie sie dann 
taxieren und dadurch gute Huter der Geistesschatze sein, die wir alle 
zusammen zu hiiten berufen sind. 

Man kann ein so ernstes Wort vielleicht am leichtesten da sprechen, 
wo man auf so etwas Wichtiges hinzudeuten hat, wie das ist: daB das 
Mysterium von Golgatha nicht bloB eine menschliche Angelegenheit, 
sondern eine Gotterangelegenheit ist, und daB wir wie durch ein Fen- 
ster hineinschauen in diese Angelegenheit der Gotter. Aber gerade das, 
was zu solcher Charakteristik geschieht, es wird in einer solchen Weise 
entstellt werden, daB ich hier davon gar nicht sprechen mag. Dann 
wird vielleicht der Zeitpunkt fur Sie alle kommen, wo Sie sich auf 
die Wahrheit besinnen miissen, daB wir Worte fur die sinnliche Welt 
umpragen miissen, wenn wir sie fur die iibersinnliche Welt an- 
wenden wollen, und daB es leicht ist, sie dann in anderem Sinne zu 
deuten. 

Das populare Christentum gab das, was ich jetzt angedeutet habe, 
mit den Worten: Der Vater opferte der Menschheit seinen Sohn! - In 
diese Worte gepragt liegt auch fur Menschenherzen, die fuhlen wollen, 



in popularer Art das angedeutet, wovon im wahren Sinne gesagt war- 
den kann: Das Mysterium von Golgatha ist eine Gotter angelegenheit ! 

Und wenn wir das zusammennehmen, was ich ausgesprochen habe, 
so werden wif eine Vorstellung von dem bekommen konnen, was sich 
vollzog in der Tatsache, die wir als die Johannestaufe im Jordan be- 
zeichnen. Auf sie folgte dann das, was ja auch in den Evangelien ange- 
deutet wird: Die Versuchung. Vom Gesichtspunkte der Akasha-Chro- 
nik werden wir etwa sagen: Nachdem der Jesus von Nazareth die 
Christus-Wesenheit in sich aufgenommen hatte, muBte er in die Ein- 
samkeit gehen. Und in der Einsamkeit hatte er jetzt visionares Er- 
leben, das annahernd richtig in den Worten der hellseherischen Evange- 
lienschreiber geschildert wird. Man kann es in ahnlicher Weise aus- 
sprechen; es muB nur eben angedeutet werden, daB jetzt die Christus- 
Wesenheit mit den drei Leibern des Jesus von Nazareth wirklich in 
Verbindung war. Das heiBt, sie war herabgestiegen aus den geistigen 
Hohen und nun an die Fahigkeiten der drei Leiber gebunden. Es ware 
also falsch, wenn sich jemand vorstellen wollte, daB der Christus jetzt, 
weil er doch einer hoheren Welt angehorte, aus der er herabgestiegen 
war, die hohere Welt gleich hatte anschauen konnen, Einblick in sie 
gehabt hatte. Das ist nicht der Fall. Wer das unverstandlich findet, 
der soli doch einmal bedenken, was es heiBt, daB einer ein Hellseher ist. 
Wer ist ein Hellseher? Sie alle sind Hellseher! Alle! Keiner ist da, der 
nicht ein Hellseher ist. Warum sieht er nicht hell? Weil er die Organe 
nicht ausgebildet hat, um sich der Krafte, die in alien Menschen sind, 
zu bedienen. Es handelt sich nicht darum, daB wir Fahigkeiten haben, 
sondern darum, daB wir sie beniitzen konnen. 

Die Christus-Wesenheit hatte alle moglichen Fahigkeiten, aber in 
den drei Hiillen des Jesus von Nazareth hatte sie nur die Fahigkeiten, 
die den drei Hiillen, den drei Leibern des Jesus von Nazareth ent- 
sprachen. Daher muBten sie auch so kompliziert vorbereitet werden, 
da die Fahigkeiten dieser drei Hiillen allerdings hohe Fahigkeiten wa- 
ren, die mehr bedeuteten als die entsprechenden Fahigkeiten aller an- 
deren Menschen auf der Erde. Aber der Christus war an sie gebunden, 
so wahr, als Ihre hellseherischen Fahigkeiten aq, die Organe gebunden 
sind, die Sie haben und nur noch nicht beniitzen konnen. Das war 



moglich durch die Fahigkeiten, welche die Zarathustra-Seele in den 
drei Leibern des Jesus von Nazareth zuriickgelassen hatte, daB jetzt 
der Christus sich dieser Zarathustra-Fahigkeiten in ihrem Uberreste in 
den drei Leibern bediente, um zunachst einer Wesenheit gegeniiber- 
zutreten, die alien Stolz, alien Hochmut, deren eine Menschenseele 
fahig ist, aufriitteln sollte. Dieser Wesenheit trat der Christus Jesus 
entgegen. 

In diesem Augenblick verspiirte er, was diese Wesenheit in ihm 
durch jene innere Sprache der Visionen auswirkte: Das, was in der 
Bibel geschildert ist mit den Worten: «AUe Reiche, die du um dich 
siehst», es waren die Reiche der geistigen Welt, «die konnen dein sein, 
wenn du mich als den Herrn dieser Welt anerkennst!» Wenn man es 
im Stolz, im Hochmut am hochsten bringt und mit diesem Stolze in 
die geistige Welt hineingeht, so kann man innerhalb dieser geistigen 
Welt, dadurch, daft der Hochmut alles ubernutet, in den Besitz des 
Weltreiches des Luzifer kommen, wenn man alles andere zurucklaBt, 
aufier dem Hochmut. Man ist nur als Mensch nicht dazu organisiert ; 
man wiirde einem furchtbaren Schicksal entgegengehen. 

Vor diese Moglichkeit wurde der Christus Jesus gestellt. Und jetzt 
tauchten in seiner Seele zwei Bilder auf: ein Bild, das dem Erlebnis 
entsprach, das er auf dem Wege zum Jordan gehabt hatte mit dem 
Menschen, den ich Ihnen gestern als den Verzweifelten schilderte. Und 
vor dem Jesus von Nazareth stand wieder die Gestalt, die an den Ver- 
zweifelten herangetreten war im Traume. Diese Gestalt sah er wieder 
als den, der da sagte : Erkenne mich an als den Herrn der Welt. - Dann 
erkannte er auch wieder in der Gestalt denjenigen, den er vor den To- 
ren der Essaer als Luzifer gesehen hatte. Dadurch wuBte er jetzt, dafi 
Luzifer zu ihm sprach, und - er wies seinen AngrifF zuriick. Er besiegte 
Luzifer. 

Da traten zwei Wesen in einem zweiten AngrifF an ihn heran, und 
das, was er als Eindruck bekam, entsprach wiederum ungefahr dem, 
was in der Bibel geschildert wird. Gesagt wurde ihm: Zeige deine 
ganze Furchtlosigkeit, deine Starke, was du als Mensch vermagst, in- 
dem du dich hinunterstiirzest von den Hohen und dich nicht vor 
Schaden fiirchtest. - In einem solchen Falle soil in der Menschen- 



seele alles erwachen an KraftbewuBtsein, an Mut, der den Menschen 
aber auch mutwillig machen kann. Zwei Gestalten standen vor ihm. 
Dadurch, daB Jesus den Eindruck vor den Essaertoren gehabt hatte, 
es seien Luzifer und Ahriman, die da fortflohen, und dadurch, daB er 
den Eindruck hatte, in der einen Gestalt verhulle sich das Wesen, das 
dem Aussatzigen, dem er auf dem Wege zum Jordan begegnet war, sich 
als der Tod gezeigt hatte, dadurch erkannte er jetzt Luzifer und Ahri- 
man. So wurde das, was er auf jenem Wege erlebt hatte, wiedererlebt. 
Auch diese Attacke wies er ab. Er besiegte Luzifer und Ahriman! 

Da kam Ahriman noch einmal heran. Und jetzt war auch das, was 
Ahriman als eine Art Versuchung vor dem Christus Jesus sagte, etwas, 
was sich wiedergeben laBt mit den Worten der Bibel: «Mache, daB 
diese Steine zu Brot werden, um Deine Macht zu zeigen.» Aber jetzt 
war es, daB der Christus Jesus nicht vollstandig Antwort geben konnte 
auf das, was Ahriman forderte. Den ersten und den zweiten AngrifF 
konnte er abschlagen: den AngrifF des Luzifer allein und des Luzifer 
und Ahriman zusammen, die sich gegenseitig paralysierten. Aber jetzt 
konnte er den AngrifF des Ahriman nicht abschlagen. DaB so der An- 
grifF des Ahriman nicht ganz abgeschlagen werden konnte, das behielt 
eine Bedeutung far die Wirksamkeit des ganzen Christus-Impulses auf 
der Erde. 

Ich muB schon in einer etwas popularen, ja fast trivialen Form cha- 
rakterisieren, was das heiBt: Mache diese Steine zu Brot, daB sie Nah- 
rung werden fur die Menschen. - Ahriman ist zunachst durch die 
Wirksamkeit der hoheren Hierarchien fur den Rest der Erdenentwik- 
kelung bis zum Vulkan hin nicht vollstandig aus dem Feld zu schla- 
gen. Es wird niemals unmoglich sein, durch rein geistige Anstrengung 
die innere Versuchung des Luzifer zu besiegen: die von innen aufstei- 
genden Wiinsche, Begierden, Leidenschaften, was aufsteigt an Stolz, 
an Hochmut, an Ubermut. Luzifer laBt sich, wenn er allein den Men- 
schen angreift, durch Geistiges besiegen. Auch wenn Luzifer und 
Ahriman, beide zusammen, von innen heraus den Menschen angreifen, 
so laBt sich durch geistige Mittel der Sieg erringen. Wenn aber Ahri- 
man allein ist, versenkt er seine Wirksamkeit in das materielle Gesche- 
hen der Erdenevolution. Da ist er nicht ganz aus dem Felde zu schla- 



gen. Ahriman, Mephisto, Mammon - es decken sich ja diese Begriffe — , 
sie stecken im Gelde, in alledem, was mit dem auBeren naturlichen 
Egoismus zusammenhangt. Indem immer notwendig ist, daB sich dem 
Menschenleben etwas von dem beimischt, was auBerlich materiali- 
stisch ist, muB der Mensch mit Ahriman rechnen. Sollte der Christus 
den Menschen auf Erden so recht helfen, so muBte er Ahriman wirk- 
sam sein lassen. Ahriman, das Materielle, muB mitwirken bis zum 
SchluB der Erdenevolution. Durch den Christus muBte die Wirksam- 
keit des Ahriman unbesiegt bleiben. Ahriman wurde nicht vollstandig 
besiegt. Der Christus muB sich herbeilassen, bis zum Ende der Erden- 
entwickelung mit Ahriman zu kampfen. Ahriman muBte dableiben. 

Dasjenige, was wir im Inneren an Angriflfen des Luzifer, an Angrif- 
fen von Luzifer und Ahriman zugleich haben, konnen wir als Men- 
schen besiegen. Die Kampfe in der materiellen AuBenwelt miissen aus- 
gekampft werden bis zum Schlusse der Erdenentwickelung. Daher 
muBte der Christus den Ahriman zwar in Schach halten, aber ihn neben 
sich bestehen lassen. Daher konnte es geschehen, daB Ahriman auch 
neben dem Christus auf Erden wirksam blieb wahrend der drei Jahre, 
die Christus im Leibe des Jesus von Nazareth wirkte, und daB er dann 
in die Seele des Judas hineinfuhr und tatig war in dieser Seele zum 
Verrat des Christus, Was durch Judas geschah, hangt zusammen mit 
dem, was die nicht ganz geloste Frage der Versuchung ist nach dem 
Ereignis am Jordan. 

Nach und nach erst, langsam und allmahlich, verband sich die Chri- 
stus-Wesenheit mit den drei Leibern. Das dauerte drei Jahre. Anfangs 
war sie nur lose verbunden, und erst allmahlich preBte sie sich in die 
drei Leiber hinein. Erst als es zum Tode ging, war eine wirkliche 
Durchdringung der drei Leiber mit der Christus-Wesenheit da. Und 
all dem Leide und dem Schmerz gegeniiber, die Jesus von Nazareth, 
wie ich Ihnen geschildert habe, in den drei Stadien seiner Entwicke- 
lung erlebt hat, ist unendlich viel groBer das, was jetzt der Christus 
erlitt, indem er sich wahrend drei Jahren nach und nach die Moglich- 
keit errang, ganz unterzutauchen in die drei menschlichen Hiillen. Das 
war ein fortgehender Schmerz, aber ein Schmerz, der wiederum sich 
verwandelte in Liebe und Liebe und Liebe. Und da kam das Folgende : 



Wenn wir so im ersten, im zweiten und im dritten Jahr die Art betrach- 
ten, wie der Christus Jesus im Kreise seiner nachsten Schiiler lebte, so 
ist das verschieden in den verschiedenen Jahren. Im ersten Jahr war 
der Christus, wie gesagt, nur lose verbunden mit dem Leibe des Jesus 
von Nazareth. Da kommt es alle Augenblicke vor, daB der physische 
Leib da oder dort ist, und die Christus- Wesenheit wandelt mittlerweile 
umher. Wo in den anderen Evangelien erzahlt wird, daB da oder dort 
der Herr seinen Jungern erschien, da war der physische Leib an einem 
anderen Aufenthaltsort, wahrend der Christus im Geistigen herum- 
wanderte im Lande. 

Das war im Anfang. Dann verband sich immer mehr und mehr die 
Christus- Wesenheit mit dem Leibe des Jesus von Nazareth. Und dann 
geschah es spater, wenn der Christus im Kreise seiner nachsten Schiiler 
ging, daB diese mit ihm in innerer Weise verbunden waren so, daB er 
sozusagen nicht abgesondert von ihnen lebte. Je mehr er sich in sei- 
nen Leib einlebte, desto mehr lebte er sich in das innerste Wesen seiner 
Schiiler ein. Jetzt ging er in der Schar seiner Schiiler durch die Lande. 
Bald sprach er durch diesen, bald durch jenen Schiiler durch die innige 
Gemeinschaft, wie er in die anderen sich einlebte, so daB, wenn sie 
iiber Land gingen, nicht mehr der Christus Jesus nur sprach, sondern 
einer der Jiinger; aber der Christus sprach durch ihn. Und mit einer 
solchen Gewalt lebte er sich in die Jiinger ein, daB sich der Gesichts- 
ausdruck des Jiingers, durch den der Christus sprach, so veranderte, 
daB, wer auBen zuhorte aus dem Volke, dem gegeniiber, der da sprach, 
das Gefiihl hatte, dieses sei der Meister. Der andere aber, welcher der 
Christus war, fiel so in sich zusammen, daB er gleichsam wie gewohn- 
lich aussah. So sprach er bald durch diesen, bald durch jenen im Lande 
umher. Das war das Geheimnis seiner Wirksamkeit in der letzten Zeit 
der drei Jahre. 

Und wenn er so dahinzog mit seinen Jungern und den Feinden 
immer gefahrlicher erschien, dann sagten diese : Wie konnen wir ihm 
nachstellen? Wir konnen doch nicht die ganze Schar verhaften? Denn 
man weiB ja nie, wenn man den herausgreift, der da spricht, ob man 
den Richtigen hat oder den Falschen. Greift man den Falschen, dann 
ist der Richtige entkommen. Nie wuBte man, ob man in dem, den man 



vor sich sah, nun auch den Richtigen hatte. Das war die groBe Angst! 
Man wuBte, daB einmal der, einmal ein anderer sprach, und der Rich- 
tige war nicht zu erkennen, weil er die gewohnliche Form von einem 
anderen annahm. 

Es war etwas Wunderbares mit dieser Schar. Daher war es notwen- 
dig, daB ein Verrat geschah. Denn so, wie die Sache gewohnlich dar- 
gestellt wird, so war sie nicht. Was sollte es denn heiBen, daB der Ju- 
das dem einen KuB geben muBte, welcher der Richtige war? Das ware 
doch nach der gewohnlichen Schilderung nicht schwer gewesen, den 
Jesus von Nazareth zu fassen. Der KuB hatte keinen Sinn, wenn nicht 
einer, der da genau wis sen konnte, welcher der Richtige war, ihn de- 
nen anzeigen muBte, die es nicht wuBten. Aber aus dem angedeuteten 
Grunde wuBten ja die Feinde nicht, wer der Richtige war. 

Erst als die groBen Leiden ihm unmittelbar bevorstanden, als das 
Mysterium von Golgatha eintrat, da war eine vollstandige Verbindung 
der Christus-Wesenheit mit den Leibern des Jesus von Nazareth her- 
gestellt. Da geschah dann dasjenige, was ja in schoner Weise in den 
anderen Evangelien geschildert ist. Vor alien Dingen ist fur den Seher- 
blick, der sich Akasha-Chronik-maBig hinrichtet auf das, was damals 
geschehen ist, durchaus eine der wirklichen Tatsachen, daB, wahrend 
der Christus am Kreuze hing, in der Gegend von Golgatha weitum die 
Erde so wie bei einer Sonnenfinsternis verfinstert war. Ich kann nicht 
sagen, ob es sich um eine Sonnenfinsternis oder um eine machtige 
Wolkenverfinsterung handelte, aber eine solche Finsternis, wie sie 
sonst bei einer Sonnenfinsternis beobachtet werden kann, war um das 
Ereignis des Mysteriums von Golgatha herum. 

Wenn der okkulte Blick das Leben auf der Erde bei einer solchen 
Verfinsterung ansieht, dann zeigt sich ihm alles Lebende ganz anders, 
als wenn eine solche Verfinsterung nicht da ist. Der Zusammenhang 
des Atherleibes und des physischen Leibes ist bei den Pflanzen ein ganz 
anderer; und auch bei den Tieren stellen sich Astralleib und Atherleib 
wahrend einer solchen Verfinsterung ganz anders dar. Bei einer sol- 
chen Sonnenfinsternis ist es ganz anders auf der Erde, als wenn die 
Sonne einfach fehlt in der Nacht. Natiirlich ist es nicht so, wenn im 
gewohnlichen Sinne der Himmel mit Wolken bedeckt ist, sondern nur, 



wenn eine besonders dichte Verfinsterung eintritt, und eine solche war 
damals eingetreten. Wie gesagt, ich weiB noch nicht, ob es eine Son- 
nenfinsternis war, aber was zu sehen ist, das ist so wie eine Sonnen- 
finsternis. Wahrend dieser Veranderung auf der Erde, auch im phy- 
sischen Sinne, ging das, was wir die Christus-Wesenheit nennen, iiber 
in die lebendige Erdenaura. Die Erde hatte durch den Tod des Chri- 
stus Jesus den Impuls des Christus empfangen. 

Das GroBte, was sich auf Erden zugetragen hat, muB man mit solch 
einfachen Worten stammeln, weil es eigentlich menschlichen Worten 
nicht moglich ist, dieses Grofite irgendwie auch nur annahernd sinn- 
gemaB zu schildern. 

Dann, als der Leib des Jesus herabgenommen wurde und in ein Grab 
gelegt war, ist das wiederum eine wirkliche Beobachtung, da6 ein 
Naturereignis eintrat, wie etwas, was in das moralische Menschenleben 
hereintritt. Ein Wirbelwind entstand, ein Erdspalt bildete sich, der 
den Leib des Jesus aufnahm, wahrend weggewirbelt wurden die Tu- 
cher von dem Leichnam. Erschutternd ist diese Beobachtung, daB die 
Anordnung der Tiicher, wie sie im Johannes-Evangelium geschildert 
wird, sich wirklich dem anschauenden Blick ergibt. 

Diese beiden Ereignisse : Erdenverfinsterung, Erdbeben und mach- 
tiger Wirbelwind, sie zeigen uns so an einem Punkte der Erdenent- 
wickelung, wie die Naturereignisse zugleich mit geistigen Ereignissen 
eintraten. Sonst findet etwas Derartiges nur bei lebenden Wesen statt, 
wie zum Beispiel einer Handbewegung der WillensentschluB und das 
Denken vorhergeht. Die Entwickelung der Erde ging so vor sich, daB 
wir es im gewohnlichen Leben nur mit mechanischen Tatsachen zu 
tun haben. Nur in einem besonderen Augenblick haben wir es - auch 
bei anderen Tatsachen der Erde, aber bei dieser Tatsache im hochsten 
MaBe - mit dem Zusammenfallen einer geistigen mit zwei physischen 
Tatsachen zu tun. 

Ich glaube nicht, daB durch die Betrachtung dieser konkreten Tat- 
sachen, die jetzt moglich ist, einer kleinen Anzahl von Seelen als eine 
Art Fiinftes Evangelium zu erzahlen, die groBe Idee beeintrachtigt 
werden kann, die wir uns mehr theoretisch von der Bedeutung des 
Mysteriums von Golgatha geschaffen haben. Im Gegenteil, ich glaube, 



wer versucht, immer tiefer und tiefer diese konkreten Tatsachen auf 
sich wirken zu lassen, fiihlt das bekraftigt, was friiher mehr theore- 
tisch, mehr abstrakt, mehr gedankenmaBig iiber das Mysterium von 
Golgatha vorgetragen worden ist. Man wird aus der Art dieser Tat- 
sachen erkennen, daB in diesem Zeitpunkt unserer Erdenentwicke- 
lung wichtige Ereignisse dieser Erdenentwickelung sich vollziehen 
werden. 

Man wird vielleicht erst die richtige Empfindung und Seelennuance 
gegeniiber dem Mysterium von Golgatha durch die Erkenntnis dieser 
konkreten Tatsachen erlangen, und diese Empfindungsnuance wollte 
ich durch das, was ich aus dem Funften Evangelium mitgeteilt habe, 
in Ihre Seelen legen. Vielleicht werden die einen oder die anderen, die 
an anderen Zyklen teilnehmen konnen, oder auch wiederum einmal 
die Freunde hier in Koln, noch etwas anderes aus diesem Funften 
Evangelium mitbetrachten konnen. Denn das miissen wir sagen : Ganz 
abgesehen davon, daB die Menschheit heute so wenig Neigung zeigt, 
solche Tatsachen entgegenzunehmen, wie die sind, von denen jetzt ge- 
sprochen worden ist, abgesehen davon war die groBte Notwendigkeit 
vorhanden, daB solche Tatsachen gerade jetzt in die Erdenentwicke- 
lung einflieBen. Daher werden sie mitgeteilt, trotzdem es wahrhaftig 
schwierig ist, iiber diese Dinge zu sprechen. Und trotzdem man, wenn 
man seiner Neigung folgen wiirde, nicht daruber sprechen mochte, 
werden sie mitgeteilt, aus einer inneren Verpflichtung heraus, so- 
lange sie Menschenseelen gesagt werden konnen. Man wird sie in der 
Menschheitsentwickelung brauchen. Die Seelen, welche sie jetzt auf- 
nehmen, werden sie fur die Arbeit, die sie in seelisch-geistiger Bezie- 
hung in der weiteren Menschheitsentwickelung zu leisten haben, ganz 
gewiB brauchen. 

Sie sehen, nach und nach lernen wir durch unsere Betrachtungen 
dasjenige kennen, was in unseren Seelen auf leben soil, damit wir rechte 
Glieder in der fortschreitenden Menschheitsevolution werden. Das ist 
ja der Sinn der Menschheitsentwickelung auf der Erde, daB die Men- 
schenseelen immer bewuBter ihre Aufgaben erkennen. 

Der Christus ist erschienen. Sein Impuls hat als Tatsache gewirkt. 
Lange Zeit konnte er als Tatsache mehr im UnbewuBten wirken; dann 



muBte er wirken konnen durch das bisher Verstandene. Er wirkte 
durch das, was er war, nicht durch das Verstandene. Aber immer not- 
wendiger wird es, daB die Menschen ihn auch verstehen lernen, den 
Christus, der durch die Leiber des Jesus von Nazareth in die Erden- 
aura und damit in das lebendige Menschengeschehen eingezogen ist. 



VeAi^uW iuA&* V\(AYV\t*i 



NOTIZBUCHEINTRAGUNG 



Als er das Gesprach mit der Mutter gefuhrt 
hatte, da fiihlte er sich vom Geiste getrieben 
nach dern Jordan 2u J oh. Auf dem Wege traf er 
zwei Essaer, mit denen er oft Gesprache 
gefuhrt hatte. Und er kannte sie nicht. Sie aber 
erkannten ihn sehr gut. 
«Wohin geht dein Weg» 
«Dahin, wohin noch Seelen eurer Art 

nicht blicken wollen- Wo der Schmerz der Menschheit die Strahlen des 
verges senen Lichtes finden kann.» 

Seine Augen - sie waren liebevoll, doch seine Liebe 

wirkte wie wenn sie durch sie auf einem Unrecht 

ertappt waren - 

«Was seid ihr fur Seelen? 

Wo ist eure Welt? - Warum umhullt 

ihr euch mit tauschenden Hiillen? Warum 

brennt in eurem Innern ein Feuer, das 

in meines Vaters Hause nicht entfacht ist.» - 

Und sie verstanden seine Rede nicht. 
Und sie merkten, dafi er sie nicht erkannte. 

Jesus v.N. sprachen sie, kennst du uns nicht? 
«Ihr seid wie verirrte Lammer; ich aber war 
des Hirten Sohn, dem ihr entlaufen seid. Wenn 
ihr mich recht erkennet, werdet ihr alsbald von 
Neuem entlaufen. Es ist so lange her, dafi ihr 
von mir in die Welt entflohen seid» 

Und sie wuBten nicht, was sie von ihm halten sollten. 



Und er sprach weiter: «Ihr habt des Versuchers 
Mai an Euch. Er hat mit seinem Feuer euere Wolle 
glanzend und gleiBend gemacht - die Haare dieser Wolle 
stechen meinen BHck. - Der traf euch nach Euerer Flucht. 
Er hat eure Seelen mit Hochmut durchtrankt». 

Da nahm einer der Essaer das Wort und sagte: 
«Haben wir nicht dem Versucher die Tiire 
gewiesen. Er hat kein Teil mehr an uns». 

Und Jesus sprach : 

«Wohl wieset ihr ihm die Tiire; doch er lief 
hin und kam zu den andern Menschen. 
So grinst er euch an von alien Seiten. Ihr 
erhoht euch nicht, wenn ihr die andern 
erniedrigt. Ihr kommt euch hoch nur 
vor, weil ihr die andern verkleinert.» 

Da erschraken sie, in dem Augenblicke 
aber war es ihnen, als ob er vor ihren 
Augen verschwand: in der Feme 
aber erblickten sie sein riesenmafiig 
vergroBertes Antlitz - und horten 
die Worte : 

«Eitel ist euer Streben; weil leer ist euer 
Herz, die ihr euch erfullet habt mit 
dem Geiste, der den Stolz in die Hiille der Demut 
tauschend birgt.» 

Und sie sahen dann langere Zeit nichts ; als 

sie wieder zu sich gekommen waren, da war 

er des Weges weiter gegangen - von ihnen. 

Sie iiberbrachten, was sie vernommen hatten, den 

andern Essaern nicht, sondern schwiegen darviber zeit 

ihres Lebens. - 



Dann begegnete Er einem, der verzweifelt war; 
nachdem J. gefragt: wozu hat deine Seele ihr Weg 
gefiihrt: ich habe dich vor Aonen 
gesehen, da warest du anders - 
sprach dieser: Ich war in hohen Wiirden; stets wenn 
ich eine Wiirde erhielt, da sagte ich: was fur ein 
seltner Mensch bist du doch; deine hohen Tugenden 
erheben dich iiber alle andern Menschen; ich war 
im Gliicke; da kam mir schlafend einmal wie 
im Traume eine Frage, die ich im Wachen nie 
gestellt hatte : denn ich fuhlte, wie ich mich im 
Traume vor mir selbst schamte, daB ich die Frage 
gestellt hatte: «Wer hat mich groB gemacht?». Da 
stand vor mir ein Wesen, das sagte: «Ich habe dich 
erhoht, doch bist du dafiir mein» - da muBte ich 
die Flucht ergreifen: ich irre umher, suchend und 
nicht wissend, was ich suche. 

Als er so sprach, stand das Wesen wieder da: 

es deckte mit seiner Gestalt J. zu - der entschwand 

dem Leidtragenden - 

Dann kam des Weges ein Aussatziger - 

Der sagte, nachdem J. gefragt; mich haben die 

Menschen verstoBen - 

da irrte ich einmal des Nachts durch einen Wald; 
ein leuchtender Baum zog mich an - ich trat auf 
ihn zu; da stand in Gerippeform der Tod vor 
mir - der sagte: ich bin du; ich zehre an dir - 

da furchtete ich mich; er aber sprach: warum furchtest 
du dich; hast du mich nicht einst geliebt; und ich 
wuBte, daB ich ihn nie geliebt hatte, da verwan- 
delte er sich in den schonsten Erzengel - und 



verschwand - ich verfiel in Schlaf und fand mich 
des Morgens an dem Baum erwachend - da 
wurde mein Aussatz stets schlimmer - 

Als er so gesprochen hatte : erschien der EE 
deckte J. zu - der entschwand. 



Hinweise der Herausgeber 



Namenregister 

* 

Rudolf Steiner iiber die 
Vortragsnachschriften 

* 

Ubersicht iiber die 
Rudolf Steiner Gesamtausgabe 



HINWEISE 



Z» dieser Ausgabe 

Der vorliegende Band der Rudolf Steiner Gesamtausgabe umfafit alle Vortrage, 
die Rudolf Steiner unter der Bezeichnung «Das Fiinfte Evangelium» gehalten 
hat, ausgenommen die Vortrage in Niirnberg, 9. und 11. November 1913, und 
Bremen, 11. Januar 1914, von denen keine Nachschriften existieren; ferner den 
Vortrag in Hannover, 7. Februar 1914, von dem lediglich unzureichende Noti- 
zen vorliegen. 

In verschiedenen Vortragen dieses Bandes weist Rudolf Steiner darauf bin, dafi 
zu diesem Fiinften Evangelium noch weitere Forschungsergebnisse dazugeho- 
ren, die von ihm an andern Orten dargestellt worden sind. Eine Art Zusam- 
menschau der verschiedenen hier in Betracht kommenden Teile der Akasha- 
Forschung bildet der Vortrag Paris, 27. Mai 1914, enthalten in «Vorsrufen zum 
Mysterium von Golgatha», GA 152. 

Zu dem Wortlaut des makrokosmischen Vaterunser 

In den vor 1975 erschienenen Ausgaben der Kristiania- Vortrage wurde das 
Gebet beginnend mit «AUM, Amen. . .» wiedergegeben. Dieses «AUM» findet 
sich deshalb nicht mehr, weil sich aus der Priifung samtlicher zur Verfugung 
stehender Unterlagen ergeben hat, dafi es weder in einer der zahlreichen Vor- 
tragsnachschriften noch in den verschiedenen handschriftlichen Niederschriften 
(vgl. die Faksimile-Wiedergabe Seite 326) und auch nicht in den Notizbuchein- 
tragungen Rudolf Steiners auftritt. 

Jedoch bei der Ansprache Rudolf Steiners zur Grundsteinlegung des Dorn- 
acher Baues am 20. September 1913 begann, laut der vorliegenden Nachschrift, 
das Gebet mit «AUM», und findet sich auch so gedruckt in den «Anweisungen 
fur eine esoterische Schulung», GA 245. Das «AUM» steht somit in Verbindung 
mit dem makrokosmischen Vaterunser und wurde auch so vom Sprechchor des 
Goetheanum unter Marie Steiner gesprochen und von ihr in dem Erstdruck der 
Kristiania- Vortrage 1948 hinzugefiigt. In die vorliegende Ausgabe wurde es aus 
den oben angefuhrten Griinden nicht mehr aufgenommen. 

Es sei noch erwahnt, dafi sich in unveroffentlichten Notizen vom Vortrag 
Berlin, 28. Januar 1907, uber das Vaterunser die Bemerkung findet: «Das Wort 
Amen ist entstellt aus einem alten Mysterienwort.» Dasselbe ist jedoch entweder 
nicht gesagt oder vom Nachschreibenden nicht festgehalten worden. Es kann 
sich aber wohl nur um das «AUM» handeln, denn: «Aum ist das Original von 
Amen . . . Amen bedeutete in grauer Vorzeit nahezu dasselbe wie Aum», heifit es 
in H. P. Blavatskys «Geheimlehre», 3. Band, S. 450 der deutschen Ausgabe. - 
Auf einem Notizzettel (Nr. 3147) erlautert Rudolf Steiner das «AUM»: 

Ich bekenne mich zu mir: a 

Ich bekenne mich zur Menschheit: u 

Ich bekenne mich zum Leben: m 



Zu den Textanderungen bei der 2. Auflage (1975) in einzelnen Vortragsreihen 
gegenuber friiheren Ausgaben: 

Kristiania: Dieser Vortragsreihe liegt die stenographische Nachschrift von 
Fritz Mitscher zugrunde. Die Textverbesserungen konnten vorgenommen wer- 
den durch einen Vergleich mit verschiedenen anderen Nachschriften und Noti- 
zen, die dem Archiv der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung seither zugekom- 
men sind. - Der vierte und funfte Vortrag waren in der Ausgabe von 1963 
irrtiimlich mit 4. und 5. anstatt mit 5. und 6. Oktober 1913 datiert. 

Berlin: Diese Vortragsreihe ist gedruckt nach der stenographischen Nach- 
schrift von Walter Vegelahn, Berlin. Textveranderungen ergaben sich beim 
ersten Vortrag, fur den bei der Ausgabe von 1963 nur eine andere, weniger 
ausfuhrliche Nachschrift vorlag. Nunmehr konnte auch fur den ersten Vortrag 
die Nachschrift von Walter Vegelahn zugrunde gelegt werden. 

Hamburg: Keine Textanderungen. 

Stuttgart: Hier konnten nun auch Notizen vom zweiten Stuttgarter Vortrag 
aufgenommen werden, die erst mehrere Jahre nach Erscheinen der Ausgabe \ on 
1963 dem Archiv der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung zugekommen sind. 

Munchen: Fur diese beiden Vortrage standen ebenfalls bessere Nachschriften 
zur Verfugung. 

Koln: Keine Textanderungen. Nachschrift von Rudolf Hahn, Reinach. 
Hamburg, Stuttgart, Miinchen: Die Nachschreiber bei den Vortragen sind 
nicht bekannt. 

Einzelausgaben 

Kristiania (Oslo), 1.-6. Oktober 1913, «Aus der Akasha-Forschung. Das Funfte 
Evangelium», Dornach 1948 und 1955 

Berlin, 21. Oktober 1913, in «Die Tatsache und die Bedeutung des Christus- 
Ereignisses», Freiburg i. Br. 1954 

Koln, 17., 18. Dezember 1913, «Das Mysterium von Golgatha», Berlin l l )23, 
Dornach 1954 

Hinweise zum Text 

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit 
der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Ubersicht am Schlufi des Bandes. 

Zu Seite 

12 Homer, 9. vorchristliches Jahrhundert. Seine Dichtungen «Ilias» und «Odyssee» 
sind die beiden altesten griechischen Epen, die den Sagenkreis des grofien trojani- 
schen Krieges behandeln. 

Sokrates, 469-399 v. Chr. 

Plato, 427-347 v. Chr. 

Aristoteles, 384-322 v. Chr. 

Vgl. Rudolf Steiner «Die Ratsel der Philosophic in ihrer Geschichte als Umrifi 
dargestellt» (1914), GA 18. 



13 Celsus, 2. Jahrhundert n. Chr., Pktoniker. «Das wahre Wort» war das erste gegen 
die Christen gerichtete philosophische Buch. Von Origenes widerlegt. 

14 Mark Aurel, 121-180 n. Chr. Romischer Kaiser von 161-180. Schrieb in griechi- 
scher Sprache seine oft iibersetzten «Selbstbetrachtungen». 

15 Tertullian, um 160 bis nach 220 n. Chr. in Karthago; um 190 Christ, ab 205 Fuhrer 
der Montanisten in Afrika. Schuf in polemischen, apologetischen und disziplinari- 
schen Schriften das Kirchenlatein. 

Origenes, um 185 bis um 252 n. Chr. Griechischer Kirchenschriftsteller aus Alex- 
andrien. Begriinder der christlichen Gnostik, bahnbrechend in Exegese, Apologetik 
(gegen Celsus) und Dogmatik. Auf dem 5. allgemeinen Konzil zu Konstantinopel 
wurde seine Lehre als ketzerisch verurteilt. 

17 Kopernikus . . . auf dem Index: Nikolaus Kopernikus, 1473-1543. Seine schon 1507 
konzipierte Lehre «De revolutionibus orbium coelestium libri VI. », gewidmet 
Papst Paul III., 1543 gedruckt, kam 1615 auf den Index, auf dem sie auch noch bei 
den Einschrankungen von 1757 verblieb. Erst 1822 wurde das Werk vom Index 
gestrichen, als das Hi. Offizium erklarte, dafi die Herausgabe von Werken, welche 
von der Bewegung der Erde und dem Stillstand der Sonne handeln, nicht verboten 
sei. 

17 Giordano Bruno, 1548-1600, italienischer Dominikaner. Wurde als Ketzer nach 
siebenjahriger Kerkerhaft zum Tode verurteilt und verbrannt. 

Ernst Haeckel, 1834-1919, deutscher Naturforscher. Schlofi sich als einer der ersten 
der Darwinschen Lehre an und baute sie zu einem wissenschaftlichen System aus. 

18 dafi es einen ganz konsequenten Weg gibt von Haeckel in die Geisteswissenschaft 
hinein: Vgl. Rudolf Steiners Vortrag «Haeckel, die Wekratsel und die Theosophie» 
in «Die Weltratsel und die Anthroposophie», GA 54. 

in dem kleinen Scbriftchen von mir uber «Reinkarnation und Karma»: «Reinkarna- 
tion und Karma, vom Standpunkte der modernen Naturwissenschaft notwendige 
Vorstellungen.» Enthalten in «Luzifer- Gnosis. Grundlegende Aufsatze zur 
Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften <Luzifer> und <Lucifer-Gnosis> 
1903-1908», GA 34. 

Charles Darwin, 1809-1882, englischer Naturforscher. Begriinder des Darwinis- 
mus, d. h. der Deszendenz- und Selektionstheorie durch den Kampf urns Dasein. 

19 1st man aber von seinem guten Geiste verlassen, dann kann man glauben, wenn man 
zuriickgeht und ein Anhanger der Reinkarnationsidee ist, man habe selber einmal 
als Affe gelebt: Bezieht sich auf die Publikation Besant/Leadbeater, «Man: Whence, 
How and Whither», London 1913. 

30 Sonnenverfinsterung (Textkorrektur ab 4. Auflage 1985): Das fruhere Wort «Son- 
nenfinsternis» wurde geandert, weil Rudolf Steiner in den folgenden Vortragen stets 
von einer Verfinsterung der Sonne spricht und dazu bemerkt, er wisse noch nicht, 
ob es sich um eine Sonnenfinsternis oder um eine machtige Wolkenverfinsterung 
handelte (vgl. Seite 322 f.). 

31 dafi etwa ein Ernest Renan, der ja das eigenartige «Leben Jesu» geschrieben hat: 
Vgl. Ernest Renan «Vie de Jesus», 2 Bde., Paris 1863, deutsche Ausgabe Berlin 
1863. 



38 albemes Mdrchen iiber meine Zusammenhange mit gewissen katboliscben Strbmun- 
gen: Annie Besant hatte bei der Generalversammlung der TheosophicaJ Society in 
Adyar (Indien) im Dezember 1912 die Behauptung aufgestellt, Rudolf Steiner, der 
«Generalsekretar der deutschen Sektion, der von den Jesuiten erzogen wurde, war 
nicht fahig, sich von diesem verhangnisvollen Einflufi geniigend freizumachen, um 
Meinungsfreiheit innerhalb seiner Sektion walten zu lassen.» Vgl. «The Theoso- 
phist», London, Februar 1913, Rudolf Steiner fuhlte sich daraufhin veranlafit, eine 
Darstellung seines Lebenslaufes zu geben. Vgl. Vortrag Berlin, 4. Februar 1913, in 
«Beitrage zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Nr. 83/84, Ostern 1984. 

44 Wir wissen gerade aus einem Vortragszyklus, den ich bier gebalten babe: Rudolf 
Steiner «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germa- 
nisch-nordischen Mythologies (Kristiania [Oslo] 1910), GA 121. 

45 Paulinische Wort: 1. Kor. 3. 

47 Ich meine das Buch Maurice Maeterlincks «Vom Tode»: Maurice Maeterlinck, 1862 
bis 1949, belg.-franz. Dichter, Dramatiker und Essayist, Nobelpreis 1911. «La 
mort», 1913, deutsch: «Vom Tode», Jena 1913. 

51 «Dies ist mein vielgeliebter Sohn, beute babe icb ibn gezeuget»: Lukas 3,22. Die 
entsprechenden Stellen bei Matthaus (3,17) und Markus (1,11) lauten beide in 
Anlehnung an Jesaja 42,1: «Dies ist mein vielgeliebter Sohn, an dem ich Wohlgefal- 
len gefunden habe.» In Luthers Bibeliibersetzung lautet auch die Lukas-Stelle so. 
Die von Rudolf Steiner angefuhrte Lesart bezieht sich auf Psalm 2, Vers 7 und wird 
fur das Lukas-Evangelium von verschiedenen fruhen und zuverlassigen Textzeugen 
uberliefert. Verschiedene Bibelausgaben, wie die von Steiner vielbeniitzte Uberset- 
zung von Carl Weizsacker (1875 ff.) und der Text der Jerusalemer Bibel (1956 ff.), 
geben «heute habe ich dich gezeuget» als ursprunglichen Wortlaut wieder, weil die 
Lesart «an dem ich Wohlgefallen habe» der Harmonisierung mit Matthaus und 
Markus verdachtig sei. 

54 Evangelien-Zitat: Matthaus 25,57-61; 27,11-14; 27,39-45. 

56 Anlasse, wo kleine Teile aus dem Fiinften Evangelium scbon mitgeteilt worden sind: 
Vgl. Hinweis zu S. 98. 

58 die Bath-Kol: Bath = Tochter, Kol = Stimme, vgl. z. B.: Strack-Billerbeck, «Kom- 
mentar zum Neuen Testament*, 1922, I, S. 125 f; ferner Peter Kuhn, «Die Offen- 
barungsstimme im antiken Judentum», 1989. 

59 Rabbi Elieser ben Hirkano, lebte um 90 n. Chr. 

einen Karobbaum: Carob = Ceratonia Siliqua, Johannisbrotbaum. 

64 die ich zum ersten Male mitteilen durfte, als wir vor kurzer Zeit den Grundstein 
legten fiir unseren Dornacher Bau: Am 20. September 1913 erfolgte in Dornach/ 
Schweiz die Grundsteinlegung zum Ersten Goetheanum. Vgl. «Anweisungen fiir 
eine esoterische Schulung», GA245. 

77 HUM, 75 vor bis 4 nach Chr. Siehe «Der babylonische Talmud», Schabbat 30b/31a. 
Ausgewahlt, ubersetzt und erklart von Reinhold Meyer, Wilhelm Goldmann Ver- 
lag, Miinchen o. J. («Hillels Sanftmut», S. 872-874). 



82 Hillel: Sinngemafi stellt sich hier die Frage, ob es nicht statt Hillel eher Buddha 
heifien sollte, da ja Buddha in seinem Geistgesprach mit Jesus die erwahnte Auffas- 
sung vertritt. Mdglicherweise handelt es sich hier um einen Hor- oder Mitschreib- 
fehler. 

94 Gesprach mit dem Sadduzaer: Mark. 12,18-27 (Die Frage nach der Auferstehung 
der Toten). 

97 «Mitteilungen»: Bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit Annie Besant und 
ihren Anhangern, die damals in den internen «Mitteiiungen fur die Mitglieder der 
Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft» behandelt wurden. 

Sie kennen ja auch die merkwtirdige Tatsache: Vgl. Hinweis zu S. 98. 

unsere Lehre bodenlos gefdlscht worden ist: Rudolf Steiner bezieht sich hier auf Max 
Heindel (1865-1919), der in den Jahren 1907/08 unter dem Namen Grashof zahlrei- 
che Vortrage Rudolf Steiners in Berlin anhorte und abgeschrieben hat, die er dann in 
seiner Schrift «Rosicrucian Cosmo-Conception or Christian Occult Science* verar- 
beitet hat. 

98 diese sonderbare Literatur: Gegnerische Literatur von Hans Freimark, Kuno 
v. d. Schalk, Ferdinand Maack. 

als etwas von dem Geheimnis der beiden Jesusknaben in die Offentlichkeit gedrun- 
gen ist: Erstmals sprach Rudolf Steiner von den beiden Jesusknaben in den Vortra- 
gen in Basel vom 15. bis 26. September 1909 iiber «Das Lukas-Evangelium», 
GA114. Dann in drei offentlichen Vortragen im Juni 1911 in Kopenhagen, die in 
Buchform in erster Auflage in Berlin erschienen unter dem Titel «Die geistige 
Fiihrung des Menschen und der Menschheit» (1911), GA15. 

99 Rudolf Eucken, 1846-1926, erhielt 1908 den Nobelpreis fur Literatur, «K6nnen wir 
noch Christen sein?», Leipzig 1911. S.216 wortlich: «Welche unuberwindliche 
Kluft der Welten empfinden wir Neueren, wenn noch in der Gegenwart bischofliche 
Erlasse von <Damonen> sprechen und die Leugnung solcher als einen Ausflufi 
unglaubiger Gesinnung behandeln.» 

100 Da erkldren denn die gescheiten Theologen: Zum Beispiel der Assyrologe Peter 
Jensen in «Hat der Jesus der Evangelien wirklich gelebt?», Vortrag, Marburg 1910. 

103 den iiblichen Vorstellungen und den Vortragszyklus in Munchen: Bezieht sich auf die 
damals alljahrlich in Munchen stattfindenden Mysterienspiele, an die sich jeweils ein 
Vortragszyklus anschlofi. Im August 1913 war dies der Zyklus «Die Geheimnisse 
der Schwelle», GA 147. 

Grundsteinlegung unseres Baues: Vgl. Hinweis zu S. 64. 

zum erstenmal seit langerer Zeit: Seit dem 10. April 1913. 

110 die zweite meines Buches: «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahr- 
hundert», Band I 1900, Band II 1901. Eine neue und erweiterte Ausgabe erschien 
1914 unter dem Titel «Die Ratsel der Philosophic in ihrer Geschichte als Umrifi 
dargestellt», vgl. Hinweis zu S. 12. 

113 Aselmus, Erzbischof von Canterbury, 1033-1109. Uber den Gottesbeweis siehe sein 
«Monologium» und sein «Proslogion». 



113 wo von theologischer Seite: Zum Beispiel von dem evangelischen Theologen Albert 
Kalthoff (1850-1906), in «Das Christus-Problem», Grundlinien zu einer Sozialtheo- 
logie, Leipzig 1902. 

114 In einer sehr bekannten Wocbenschrift: «Die Zukunft» XXI. Jg., Nr. 50 vom 
13. September 1913 in dem Artikel von Jakob Fromer «Die Erneuerung der Philoso- 
phies 

Baruch Spinoza, 1632-1677. 

115 Rudolf Eucken: Vgl. Hinweis zu S. 99. 

1 16 Rudolf Eucken: Vgl. a. a. O. S. 238. 

in dem Buche von Adolf von Harnack, 1851-1930, «Das Wesen des Christentums». 
Sechzehn Vorlesungen ... an der Universitat Berlin, Leipzig 1901. Darin S. 102: 
«Was sich auch immer am Grabe und in den Erscheinungen zugetragen haben mag - 
eines stent fest: von diesem Grabe her hat der unzerstbrbare Glaube an die Uber- 
windung des Todes und an ein ewiges Leben seinen Ursprung genommen.» 

117 Ernest Renan: Vgl. «Leben Jesu», Leipzig o. J. Reclam (4. Kap. S. 77; 22. Kap. 
S. 260-263; 28. Kap. S.310, 319 f.). 

120 f. Scbluft des Johannes-Evangeliums: Joh. 21,25. 

140 HUM: Vgl. Hinweis zu S. 77. 

148 Wenn die Munchner Vertrdge aus diesem Jahr einmal gedruckt sein werden: Siehe 1, 
Hinweis zu S. 103. 

161 die jetzt in dem Leipziger Vortragszyklus besprochen sind: Rudolf Steiner «Christus 
und die geistige Welt - Von der Suche nach dem Heiligen Gral». Sechs Vortrage in 
Leipzig vom 28.Dezember 1913 bis 2.Januar 1914, GA149. 

162 Chrestien de Troyes, um 1143 bis um 1190; lebte an den Hofen der Champagne und 
Flanderns. Begriinder und bedeutendster Vertreter der hofischen Epik des Mittel- 
alters. «Perceval» u. a. Dichtungen. 

Wolfram von Eschenbach, um 1170 bis um 1220. Grofiter Epiker der deutschen 
hofischen Dichtung. Hauptwerk «Parzival». 

171 Richard Wagner, 1813-1883 . . . «Parsifal»: Vgl. Rudolf Steiners Vortrag, Kassel, 
16.Januar 1907 «Die Musik des <Parsifal> als Ausdruck des Ubersinnlichen» in «Das 
christliche Mysterium», GA97. 

173 «Die Geheimnisse der biblischen Schbpfungsgeschichte», GA122. 

175 folgten einer Feuersdule: 2. Mose, 13,21,22. 

177 f. ich babe ja auch schon von anderem Gesichtspunkte aus von diesen Worten gespro- 
chen: R. Steiner, «Das Lukas-Evangelium», Sechster Vortrag, Basel, 20. September 
1909, GA114, S. 126. 



178 Otterngezucht: Matth. 3,7; Lukas 3,7. 



179 Gott kann dem Abraham: Matth. 3,8; Lukas 3,8. 

Ich babe schon bfters uber die Mission des Paulus gesprocben: Vgl. z. B. «Von Jesus 
zu Christus», GA 131, und «Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe», GA 142. 

180 Zyklus, den ich neulich in Leipzig gehalten babe: Vgl. Hinweis zu S. 161. 

183 «Torheit vor den Menschen . . .»: Paulus l.Kor. 3,19. 

184 «Einer der grofiten von denjenigen . . .»: Lukas 7,28. 

185-1 88 Kepler- Zitate: Nach Ludwig Giinther «Kepler und die Theologie», Giefien 1905, 
S. 109-112, 116/117. 

188 «Wenn jetzt der Dinge Bilder . . .»: Stammbuchblatt von Kepler, einem Tubinger 
Studienfreunde, Jacob Roller, gewidmet, als er im Begriffe war, nach Steiermark 
abzureisen, um die Professur in Graz anzutreten. Das Blatt stammt aus dem Friih- 
jahr 1594 und befand sich im Original im Besitze des verstorbenen Professors Moriz 
Carriere in Munchen. Von Rudolf Steiner zitiert nach Ludwig Giinther, «Kepler 
und die Theologie», Giefien 1905. 

189 Indem wir dem alten Worte «Aus dem Gotte sind wir geboren» hinzufugen das 
Wort . . . «In dem Christus sterben wir»: Seit dem Jahre 1907 (vgl. GA284 «Bilder 
okkulter Siegel und Saulen - Der Miinchner Kongrefi Pfingsten 1907 und seine 
Auswirkungen», S. 41) fiihrte Rudolf Steiner immer wieder den Spruch an: «Ex deo 
nascimur, in Christo morimur, per spiritum sanctum reviviscimus», den er als 
«Zielsatz» des wahren Rosenkreuzertums bezeichnete und in die deutsche Sprache 
mit verschiedenen leichten Abwandlungen iibertragen hat. Z. B. «Aus Gott bin ich 
geboren, in Christo sterbe ich, durch den heiligen Geist auferstehe ich» (1909, 
GA284); «Aus dem Gottlichen weset die Menschheit, in dem Christus wird Leben 
der Tod, in des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele» (1923, GA260). 

191 Das Mysterium von Golgatha schliejlt sich an drei andere an: Vgl. hierzu die 
Vortrage Rudolf Steiners «Vorstufen zum Mysterium von Golgatha*, GA 152. 

192 Die meisten von Ihnen werden sich noch jener Vortrage erinnern: Vgl. «Anthropo- 
sophie - Psychosophie - Pneumatosophie», GA 115. 

205 Jahannes-Evangelium . . . Erdbeben: Joh. 20,1-10. 

208 «Ich bin bei Euch . , .»: Matth. 28,20. 

209 wie zum Beispiel Petrus: Matth. 20,69-75. 

210 «Wacbet und betet . . .»: Matth. 26,41. 
Sonnenfinsternis: Lukas 23,44,45. 

211 ich babe das schon im Karlsruher Zyklus erwdhnt: Siehe Rudolf Steiner «Von Jesus 
zu Christus», GAOl. 



217 Es gibt ein Buch, das wegen seiner Paradoxic gelesen werden mtifite: Vgl. Hinweis 
zu S. 47. 



218 Es wiirde die Welt die Biicher nicht fassen . . .: Joh. 21,24,25. 



222 das istja von mir dargestellt worden bei friiheren Anlassen: Im 5. Vortrag des Zyklus 
«Das Lukas-Evangelium», (15.-26. September 1909), GA 114. 

231 als wir den Grundstein fur unseren Dornacher Bau legten: Vgl. Hinweis zu S. 64. 

242 «Wenn du mich anerkennst . . . Stiirze dich hinab . . . Sprich, dafi diese Steine . . .»: 
Matth. 4,1-11. 

243 Fraulein Stinde: Sophie Stinde, 1853-1915. Von 1902/03 an Leiterin des Miinchner 
Hauptzweiges. 1907-1913 Hauptorganisatorin der Miinchner Festspielveranstaltun- 
gen und Mitbegrunderin und erste Vorsitzende (1911-1915) des Bauvereins. «Ihr 
danken wir, neben dem Aufbau der Arbeit in Munchen, die Biihnenverwirklichung 
der Mysteriendramen Dr. Steiners. Und im Anschlufi daran die Verwirklichung des 
Baugedankens» (Marie Steiner). Vgl. auch Rudolf Steiner iiber Sophie Stinde in 
«Unsere Toten», GA261. 

264 mit denjenigen Kulturelementen: Fruher «mit den niedergehenden Kulturelemen- 
ten»; sinngemafie Korrektur (1992) eines fruher iibersehenen Hor- oder Ubertra- 
gungsfehlers. 

was durch den Druck der Offentlichkeit Ubergeben werden mufite: Vgl. Hinweis zu 
S.98. 

265 Giordano Bruno: Vgl. Hinweis zu S. 17. 

Harnacks «Wesen des Christentums»: Vgl. Hinweis zu S. 116. 

266 Der Name Eucken: Vgl. Hinweis zu S. 99. 

267 das Buck «Kritik der Sprache»: Fritz Mauthner, 1849-1923, osterreichischer 
Schriftsteller und Kulturphilosoph. «Beitrage zu einer Kritik der Sprache», 1. Auf- 
lage 1901/02, 2. Auflage 1909-1913. 

eines grofien philosophischen Worterbuches: Mauthner, «Worterbuch der Philoso- 
phic - Neue Beitrage zu einer Kritik der Sprache», 2 Bande 1910/11. 

Mautbner-Zitat: Wortlich: «Tragikomisch ware der Clown, der im Zirkus bis zur 
Spitze einer freistehenden Leiter emporkletterte und dann versuchen wollte, seine 
Leiter zu sich emporzuziehen. Er wiirde das Schicksal des Philosophen teilen und 
herunterf alien. » In «Beitrage zu einer Kritik der Sprache». 3. Band, S. 632 der 
3. Auflage Leipzig 1923. 

274 Was ich einmal in einem Vortragszyklus sagte: Siehe «Der Mensch im Lichte von 
Okkultismus, Theosophie und Philosophies, GA 137. 

277 Maurice Maeterlinck: Vgl. Hinweis zu S. 47. 

278 Bei einer von jenen Versammlungen im Jahre 1910: Vgl. Hinweis zu S. 100. 
281 wdhrend eines kurzen Vortragszyklus in Stockholm: Es war im Juni 1913. 

was ich schon einmal in Karlsruhe angedeutet habe: Vgl. Hinweis zu S. 211. 



284 Besprechtmg des Lnkas-Evangeliums und . . . Evangelium des Matthdus: Vgl. Rudolf 
Sterner, «Das Lukas-Evangelium», GA 114; «Das Matthaus-Evangelium>>, GA123. 

aus der salomonischen Linie des Hauses David: Hier folgen in der Nachschrift noch 
die Worte «wenn man die Worte des Paulus gebrauchen will». Offensichtlich wurde 
nur korrumpiert festgehalten, was Rudolf Steiner eigentlich gesagt hat. 

287 Hillel: Siehe Hinweis zu S. 77. 

305 in den Artikeln, die in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» unter dem Titel «Am der 
Akasha-Chronik» erschienen sind: Erstmals erschienen 1904-1908. In Buchform in 
der Gesamtausgabe, GA11. 

306 in einem Buche, das in diesem Sommer erschienen ist: Rudolf Steiner, «Die Schwelle 
der geistigen Welt». Aphoristische Ausfuhrungen, GA17. 

313 Und da kommt dann der grofie Ratschlufi der Gotter heraus: Fruher «der grofie 
Rat». Sinngemafie Erganzung durch den Herausgeber (1992). 



NAMENREGISTER 

(* = ohne Nennung im Text / Nicht aufgenommen: 
Christus, Christus Jesus, Jesus von Nazareth, Luzifer, Ahriman) 



Abraham 77, 177, 179, 184, 189 
Anselm von Canterbury 113 
Apollon 196-199 
Aristoteles 12 f., 28, 111 
AureJ,Mark 14 

Bath-Kol 58-62, 64 f ., 68, 72, 75, 
80-82, 92, 94, 143 f., 156 f., 225, 238, 
245 f., 250, 252 f. 
Bruno, Giordano 17,265 
Buddha, Gautama 69, 82, 131, 198, 
216,236 

Celsus 13 f. 

Chrestien de Troy es 1 62 

Darwin, Charles 18 

David 79, 121, 190, 221 f., 244, 284 f. 

Eckhart, Meister 110 
Elias 58, 70, 77 

Essaer 66-71, 75, 82 f., 127-131, 138, 
145 f., 156 ff., 216, 232-236, 238, 
253-256, 261 ff., 269 f., 272 ff., 
293-295, 299, 300 f., 304, 318, 327 f. 

Eucken, Rudolf 99, 1 00* 1 15 f., 266 

Freimark, Hans 98 
Fromer, Jakob 114 

Goethe, Johann Wolfgang von 101, 279 

Haeckel, Ernst 17 f. 

Harnack, Adolf von 1 16 f., 265 f . 

Heindel, Max 97* 

Herodes 54, 77 

Herzeleide 162 

Hillel 77-79, 82, 89, 97, 140-143, 247, 

287 
Homer 12 
Horus 165 

Isaak 177,179,184,189 
Isis 165 



Jahve/Jehova 173-179, 182 

Jakobus (Apostel) 33, 210 

Jakob 177,179,184,189 

Jensen, Peter 100*, 278* 

Jesusknabe, nathanischer 190, 192, 195, 

197, 222, 244 f ., 260, 285 f., 299 
Jesusknabe, salomonischer 190 f., 

221 f., 244 f., 260, 284-287 
Jesu Mutter 73 f., 76, 79 f ., 82-85, 

139 f., 143, 145 f., 155, 213, 215, 222, 

232, 245, 255 f., 259 f., 263, 286, 289, 

296 ff. 

Jesu Vater 65, 127, 222, 232, 286, 289 
Johannes der Taufer 69 f., 84, 134, 146, 

156, 172, 177-179, 182, 216 f, 240, 

253, 260 f ., 263, 272, 299, 327 
Johannes, Evangelist 33, 56, 120, 172, 

205,211,281,323 
Joseph s. Jesu Vater 
Judas aus Karioth (Ischariot) 96, 150, 

152, 242, 277,280, 322 
Jiingling zu Sais 165 f., 169 

Kaiphas 54 
Kalthoff, Albert 113* 
Kepler, Johannes 1 85*, 1 86-1 88 
Klingsor 171 

Kopernikus, Nikolaus 16 f. 
Lazarus 50, 118 

Lukas, Evangelist 51, 56, 85, 121, 221, 
244, 284 f. 

Maack, Ferdinand 98 
Maeterlinck, Maurice 47, 1 33, 2 1 7, 

241,277 
Maria s. Jesu Mutter 
Markus-Evangelium 94 
Matthaus-Evangelium 56, 87, 284 
Mauthner, Fritz 267 
Meister, Eckhart 110 
Moses 77, 122, 132 



Origines 15 
Osiris 165 

Parzival 161-166, 168, 170 f. 
Paulus 45, 179, 180f. 
Petrus 25, 31-33, 209 f. 
Pherekydes aus Syros 110 
Pilatus, Pontius 54 
Plato 12 f., 28, 111 
Pythia 196, 198 

Rabbi Elieser ben Hirkano 59 
Rabbi Josua 59 
Renan, Ernest 3 1 , 49 f . , 1 1 7 f . 
Rishis 256 f. 

Sadduzaer 94 

Schalk, Kuno von der 98 

Schiller, Friedrich 101 

Shakespeare, William 218 

Sokrates 12 

Spinoza, Baruch 114 

Stinde, Sophie 243 

Tauler, Johannes 110 
Tertullian 15 
Thales 110 

Wagner, Richard 171 
Wolfram von Eschenbach 162 

Zarathustra 56 f., 60 f ., 74 f 80-85, 
121 f., 134, 153, 156, 161, 190 f., 217, 
221 f., 239 f ., 244 f., 257, 259 f., 263, 
270, 274, 284, 286 {., 219, 311, 318 



Steiner, Rudolf 
Werke und Vortrage: 

«Aus der Akasha-Chronik» 

(GA11) 305 
«Die geistige Fuhrung des Menschen und 

der Menschheit» (GA 15) 56, 98 
«Die Schwelle der geistigen Welt» 

(GA17) 306 
«Welt- und Lebensanschauungen im 

neunzehnten Jahrhundert» in «Die 

Ratsel der Philosophie» (GA 1 8) 110 
«Reinkarnation und Karma» in «Lucifer- 

Gnosis»(GA34) 18 
«Das Lukas-Evangelium» (GA 114) 56, 

98, 222, 284 
« Anthroposophie - Psychosophie - 

Pneumatosophie» (GA 115) 1 92 
«Die Mission einzelner Volksseelen» 

(GA 121) 44 
«Die Geheimnisse der biblischen 

Sch6pfungsgeschichte» (GA 122) 173 
«Das Matthaus-Evangelium» 

(GA 123) 284 
« Von Jesus zu Christus» (GA 131) 211, 

281 

«Der Mensch im Lichte von 
Okkultismus, Theosophie und 
Philosophie» (G A 137) 274 

«Die Geheimnisse der Schwelle» 
(GA 147) 103, 148 

«Christus und die geistige Welt. Von der 
Suche nach dem Heiligen Gral» 
(GA149) 161,180 



UBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN 



Aus Rudolf Steiners Autobiographie 
«Mein Lebensgang» (35. Kap., 1925) 

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergeb- 
nisse vor; erstens meine vor aller Welt veroffentlichten Biicher, zwei- 
tens eine grofie Reihe von Kursen, die zunachst als Privatdruck 
gedacht und verkauflich nur an Mitglieder der Theosophischen (spa- 
ter Anthroposophischen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies 
Nachschriften, die bei den Vortragen mehr oder weniger gut gemacht 
worden sind und die - wegen mangelnder Zeit - nicht von mir 
korrigiert werden konnten. Mir ware es am liebsten gewesen, wenn 
mundlich gesprochenes Wort miindlich gesprochenes Wort geblieben 
ware. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so 
kam er zustande. Hatte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so 
hatte vom Anfange an die Einschrankung «Nur fur Mitglieder» nicht 
zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr als einem Jahre ja fallen 
gelassen. 

Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, 
wie sich die beiden: meine veroffentlichten Biicher und diese Privat- 
drucke in das einfiigen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete. 

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten fur das Hinstellen 
der Anthroposophie vor das Bewufitsein der gegenwartigen Zeit 
verfolgen will, der mufi das an Hand der allgemein veroffentlichten 
Schriften tun. In ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, 
was an Erkenntnisstreben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, 
was sich mir in «geistigem Schauen» immer mehr gestaltete, was zum 
Gebaude der Anthroposophie - allerdings in vieler Hinsicht in un- 
vollkommener Art - wurde. 

Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und 
dabei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus 
der Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu iibergeben 
hat, trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was 
aus der Mitgliedschaft heraus als Seelenbedurfnis, als Geistessehn- 
sucht sich offenbarte. 

Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien 
und den Schrift-Inhalt der Bibel iiberhaupt in dem Lichte dargestellt 
zu horen, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man 
wollte in Kursen liber diese der Menschheit gegebenen Offenbarun- 
gen horen. 



Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten 
wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vortragen waren nur 
Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposo- 
phie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorge- 
schrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser 
internen Vortrage war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein 
konnte, die ganz fur die Offentlichkeit bestimmt waren. 

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art iiber Dinge sprechen, 
die ich fiir die offentliche Darstellung, wenn sie fur sie von Anfang an 
bestimmt gewesen waren, hatte anders gestalten miissen. 

So liegt in der Zweiheit, den offentlichen und den privaten Schrif- 
ten, in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergrunden 
stammt. Die ganz offentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was 
in mir rang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die 
Gesellschaft mit. Ich hore auf die Schwingungen im Seelenleben der 
Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was 
ich da hore, entsteht die Haltung der Vortrage. 

Es ist nirgends auch nur in geringstem Ma£e etwas gesagt, was 
nicht reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie ware. 
Von irgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen 
der Mitgliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke 
liest, kann sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthropo- 
sophie zu sagen hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die 
Anklagen nach dieser Richtung zu drangend wurden, von der Ein- 
richtung abgegangen werden, diese Drucke nur im Kreise der Mit- 
gliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hingenommen werden 
miissen, dafi in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich 
Fehlerhaftes findet. 

Ein Urteil uber den Inhalt eines solcben Privatdrucke s wird ja 
allerdings nur demjenigen zugestanden werden konnen, der kennt, 
was als Urteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das ist fiir die 
allermeisten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Er- 
kenntnis des Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der 
Anthroposophie dargestellt wird, und dessen, was als «anthroposo- 
phische Geschichte» in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich 
findet.